Schlingensief-Film

"Ach, Christoph!"

Die biografische Dokumentation als Materialschlacht: Der Film "Schlingensief", der heute in der ARD läuft, ist ein fiebriger Strom aus Bildern. Das ist ein Glücksfall, denn man kommt dem kompromisslosen Künstler so nah wie nie

Selten bekommt man eine biografische Dokumentations-Annäherung als Materialschlacht geboten. Im Fall von "Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien" ist das ein Glücksfall. Ein gut zwei Stunden langer Fluss aus Super-8-Familienfilmen, Talkshow-Auftritten, Theateraufführungen und Interviews sorgt dafür, dass der Meister der "Überlebenskunst" einem so nahe kommt wie noch nie.

Auf den ersten Blick passen die temperierten Filme der Berliner Schule nicht gerade mit dem fiebrigen Multimedia-Universum des 2010 verstorbenen Christoph Schlingensief zusammen. Film-Editorin Bettina Böhler fühlt sich trotzdem auf beiden Terrains zu Hause. Sie hat reihenweise Filme für Christian Petzold und Co. geschnitten, aber auch bereits in den 1990ern zwei Filme von Schlingensief montiert. Gleich mehrere rote Fäden halten das überbordende Archivmaterial ihres Regie-Debüts zusammen: Schlingensiefs Auseinandersetzung mit Deutschland, das prekäre Verhältnis zu seinen Eltern und die wiederkehrenden Beteuerungen, er wolle gar nicht provozieren.

Angesichts der von der Polizei vereitelten Aufrufen zum Mord an Helmut Kohl auf der Documenta, albernsten Hitler-Parodien und Quiz-Moderationen, die um die korrekte Reihenfolge der Konzentrationslager von Nord nach Süd kreisen, möchte man diese kokettierende Abwehr zwar bezweifeln. Aber als Schlingensief kurz vor seinem Krebstod über sein melancholisches Wesen, Depressionen und die lähmende Atmosphäre seines Elternhauses spricht, kommt man nicht umhin, seinen alles zerschlagenden Aktionismus tatsächlich für ein überlebenswichtiges Ventil zu halten.

Foltern mit Avantgardefilmen

Wenn er seine Mutter mit der Kamera verfolgt, um eine Reaktion zu erzwingen, und diese irgendwann mit dem sehr kurz geratenen Seufzer "Ach, Christoph" kapituliert, dann möchte man ihr beistimmen, denn je länger man seinem Treiben zuschaut, desto mehr staunt man über den unbedingten Willen des Apothekersohns zur Überforderung. Mit Kunst heilen ist seine Sache nicht. "Foltern mit Avantgardefilmen" möchte schließlich schon das pubertierende Einzelkind. Es bedarf keiner Bestätigung durch Zeitzeugen und Weggefährten, auf die Böhler klugerweise gänzlich verzichtet, um dieses ästhetische Credo sofort zu glauben

Wer tut sich schließlich Theaterregie an, wenn er eigentlich die Bühnenwelt hasst? Engagiert auffällig häufig Fassbinder-Schauspieler, obwohl der in ähnlichen Gewässern agierende Vorgänger doch gar nicht das Vorbild sei? Wer umstellt sich mit Pointen und antibürgerlicher Polemik, wenn er Teil einer Weihestätte wie Bayreuth werden möchte? Einer, der "über Ecken mit Goebbels verwandt" ist, Mitleid mit Egon Krenz zeigt und seine Filme "Menu total" nennt, schafft das mühelos.

Eine Preziose auch das kindlich verwunderte Gesicht, als Schlingensief das Nörgeln der Kritiker anspricht und sie trotzig auffordert, mit ihm gemeinsam doch einfach Spaß zu haben. Ganz nebenbei gelingt ihm in der Summe seiner Späße noch so etwas wie eine aufreibende Chronik der bundesrepublikanischen Mentalitätsgeschichte. Und: Dank Böhlers erhellend sortiertem Best-Of jetzt schon auch ein Klassiker des Porträtfilms. Denn: "Die Energie bleibt, auch wenn sie nicht mehr Christoph Schlingensief heißt".