Am Motiv des Wassers lassen sich ziemlich viele Widersprüche dieser Welt erzählen. Die Oberfläche des Planeten Erde ist zu zwei Dritteln mit Wasser bedeckt, trotzdem wird genau diese Ressource immer knapper und könnte nach Prognosen der UN in Zukunft ein Kriegsgrund sein (nur circa drei Prozent der weltweiten Wasservorkommen sind Süßwasser). Das Meer ist ein Sehnsuchtsort der Kulturgeschichte, ein visuelles azurblaues Zeichen für Kontemplation und touristische Entspannung, aber eben zunehmend auch eine Festung, eine tödliche Grenze, wenn ungezählte Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrinken. "Selten zuvor war die Schönheit des Schwimmens so eng verbunden mit dem Gedanken an den Tod im Wasser und der Frage des Überlebens", schreibt der Autor und Langstreckenschwimmer John von Düffel. Der menschliche Aufenthalt am und im Wasser lässt sich schwer von existenziellen Fragen lösen. Beim Schwimmen nimmt uns das Wasser neun Zehntel unseres Körpergewichts. Gleichzeitig lauert dort unten etwas Unbekanntes und Bedrohliches, das den Einzelnen ziemlich klein und ausgeliefert erscheinen lässt. "Wasser ist immer anders", schreibt John von Düffel. Die Freiheit ist nur um den Preis von Unsicherheit zu haben.
Im Sommer 2020 - Corona, Hitze, Dürre, Reisewarnungen - sind die Widersprüche allgegenwärtig, und das Wasser hat sich trotz aller düsteren Konnotationen zum absoluten Sehnsuchtselement entwickelt. Auf den Flüssen und Seen ballen sich die Schlauchboote zu einer Naherholungs-Utopie aus buntem Plastik zusammen. Wo überall sonst Abstand das Gebot der Stunde ist, drängen sich die Erfrischungsdürstenden so dicht an den heimischen Badeseen und -stränden wie sonst gegen drei Uhr nachts auf der Tanzfläche der geschlossenen Clubs (Gartenpools sind übrigens vielerorts ausverkauft). Der Zugang zu Schwimmbädern ist in den meisten Städten wegen der Corona-Maßnahmen streng reglementiert, in den größeren Städten wird mit den begehrten "Timeslots" gedealt wie zu anderer Zeit mit den beliebtesten Gästelisten-Plätzen.
Wer zu den Privilegierten gehört, die Einlass bekommen, erlebt dagegen auch an heißen Tagen die Euphorie halbleerer Bahnen, weitgehend ohne Verteilungskämpfe. Im Kinderbecken tummeln sich derweil Mädchen in glänzenden Meerjungfrau-Kostümen inklusive Schwanzflosse und träumen sich in Unterwasser-Parallelwelten. Die Corona-Bade-Regeln für alle ermöglichen ein Gefühl der Entgrenzung für wenige. Das Gefühl der Knappheit macht den Zugang zu Wasser in diesem Sommer noch begehrter als sonst.
Die bodenlose Tiefe des Unbewussten
Auch in der Kunst hat der Aufenthalt in den Wellen schon immer eine zentrale Rolle gespielt. Wenn es nicht gerade um Häfen und Handel auf See geht, ist das Meer in der Malerei oft der erotisch konnotierte Raum der mythischen Wesen, der Nymphen und Tritone - wobei sich letztere wie auf Arnold Böcklins Gemälde "Im Spiel der Wellen" (1883) auch als übergriffige Raubtiermänner aufführen können. Zum Ende des 19. Jahrunderts wurden Badende an Stränden und Seen in der Malerei zu einem eigenen Genre, mit dem neue Vorstellungen von Erholung und Freizeit sowie die Darstellung von Nacktheit verhandelt wurden, die nicht mehr durch mythische Figuren auf der Leinwand verklärt wurde.
Doch das erfrischende Nass kann einem auch buchstäblich den Boden unter den Füßen wegziehen. In der Psychoanalyse des Carl Gustav Jung steht eine Wasserfläche archetypisch für das Unbewusste und eine innere bodenlose Tiefe - das Eintauchen wird zur Metapher der Seeleninspektion. Im Wasser ist jeder und jede auf sich allein gestellt. Das kann in entrückter, fast transzendenter Schönheit münden, wie beim Berliner Künstler Julian Charrière, der in seiner Serie "Where Waters Meet" von 2019 Free Diver im Wasser inszeniert. Wie schwerelos schweben die winzigen, bis in die letzte Faser gespannten Körper in nachtblauer Weite. Bei der Malerin Sigrid von Lintig, deren Bilder gerade in der Galerie Frey in Wien ausgestellt sind, scheinen die Schwimmerinnen einen aquamarinblau schillernden Prozess der Wiedergeburt zu durchleben. Eintauchen und Auftauchen als Bild der Erneuerung. 2017 stellte die Künstlerin Raphaela Vogel ihre eigene Geburt in der Wasserrutsche eines Nürnberger Spaßbades nach.
Dass die sommerlich satte Farbigkeit eines Swimming Pools pure visuelle Verführung darstellt, hat spätestens David Hockney mit seinen kalifornischen Pool-Bildern bewiesen. Das Schwimmbecken ist bei dem Maler immer auch ein Rahmen für Darstellungen von Körpern. Durch das Spiel mit Nacktheit und Bekleidung entsteht ein komplexes System aus Blicken - eine Bühne des Anschauens, des Sich-Zeigens und des Ausgeliefertseins. Andreas Gursky fotografiert das Freibad in Ratingen dagegen eher als nüchternes Panorama, indem die Geometrie des Beckens dominiert und die Schwimmerinnen und Sonnenbader zum abstrakten Raster werden.
Wie John Düffel schreibt, ist das Freibad immer auch ein Freiraum - besonders in diesem Corona-Sommer - und gleichzeitig ein Soziotop, in dem sich eine Miniaturversion von Gesellschaft beobachten lässt. Auch wer allein schwimmt, koexistiert und interagiert mit anderen - jetzt eben mit ein wenig mehr Abstand. Im Berliner Sommerbad Humboldthain wird das Freibad sogar explizit zum Kunstort. Mit dem Projektraum Tropez kommen Ausstellungen (in diesem Jahr hauptsächlich online), Workshops und Performances in einen Mikrokosmos, in dem es implizit sowieso immer um Inszenierungen geht.
Aber schon die Bewegung im Wasser an sich kann neben sportlichen auch künstlerische Ambitionen enthalten. Die Künstlerin Klara Hobza nahm sich 2012 während der Euro Krise einen Tauchgang entlang der Flüsse und Kanäle durch ganz Europa vor. Auch Mischa Leinkauf überwindet unter Wasser Staatsgrenzen, die zunehmend willkürlich wirken, wenn man von nichts als Wellen umgeben ist, die über Territorialität keinerlei Auskunft geben. Wasser ist ein universelles Element, auf das trotzdem Anspruch erhoben wird.
Auch die Autorin und Künstlerin Agnieszka Gratza hat sich mit dem Schwimmen als künstlerischem Ausdruck beschäftigt. "Schwimmen hat eine meditative und eine skulpturale Dimension", sagt sie im Skype-Gespräch mit Monopol aus Krakau. "Man kann das Wasser als negativen Raum um den Körper herum verstehen. Schwimmen hat auch einen Rhythmus, es geht darum, den Atem und die Abfolge der verschiedenen Schwimmzüge zu kontrollieren."
Agnieszka Gratza, die Nichte einer Wettkampfschwimmerin und nach eigenen Angaben auf einem Kreuzfahrtschiff auf der Ostsee gezeugt, schwimmt, wann immer sie kann: Im eisigen Meer der nordnorwegischen Inselgruppe Lofoten oder im Kratersee einer Schwefelmine auf der indonesischen Insel Java (inklusive leichtem Hautausschlag hinterher). Inzwischen hat sie mehrere Förderer davon überzeugt, ihr "Swimming Residencies" an spektakulären Orten zu ermöglichen, zum Beispiel mit dem Fiorucci Art Trust an der Amalfiküste. "Wenn es Kunst- und Schreibresidencies gibt", sagt Agnieszka Gratza, "warum dann nicht auch welche fürs Schwimmen?" Aus ihren "Volcanic Swims" in vulkanischen Gewässern ist ein Buch entstanden, in dem sie körperliche Erfahrung mit poetischen Erzählungen verbindet. "Schwimmen ist wie eine Verhandlung mit mir selbst", sagt sie. "Wie weit kann ich kommen, bis ich umkehren muss? Instinktiv würde ich immer bis zum Horizont weiterwollen." Bei ihren Performances lädt sie oft auch ihr Publikum ein, mit ihr zusammen zu schwimmen, oder beispielsweise ein Bild eines Vulkans bei sich zu tragen und die Verbindung zwischen Feuer und Wasser sichtbar zu machen.
"Wir wissen um unsere aquatische Vergangenheit"
Selbst wenn Schwimmen bedeutet, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein (genau wie Gehen ist Schwimmen in seiner Grundform eine Art der Fortbewegung ohne jegliche Hilfsmittel), interessiert sich Agnieszka Gratza besonders für die Gemeinschaft mit anderen Kreaturen, die man in wilden Gewässern eingeht. Wie auch die US-Künstlerin Joan Jonas sieht Gratza in der Beschäftigung mit dem Wasser eine Möglichkeit, Zugang zur Evolution zu finden. "Ich finde es interessant, dass wir aus dem Wasser geboren werden, aber das Schwimmen erst wieder erlernen müssen", sagt sie. "In unserem Unbewussten wissen wir, dass wir eine aquatische Vergangenheit haben - und vielleicht eine aquatische Zukunft."
Weite Reisen zu spektakulären Gewässern sind in Corona-Zeiten schwierig geworden. Aber viele Menschen entdecken auch gerade die Gewässer vor ihrer Haustür neu und die kleinen Fluchten, die sie bieten. Von Schwimmbädern, die in diesem Sommer ein Stück streng reglementierte Freiheit ermöglicht, hält Agnieszka Gratza dagegen nicht besonders viel: "Die Erfahrungen an wilden oder vulkanischen Orten haben Swimming Pools für mich ruiniert", sagt sie. "Zum einen kann ich den Geruch von Chlor nicht ertragen. Und außerdem bin ich anspruchsvoller geworden, wenn es ums Setting meines Schwimmens geht. Ich sehe es als ästhetische Erfahrung."