Filmfestspiele in Venedig

Schwul in Caracas, panisch in Istanbul

Nach einer Mischung aus Mainstream – der immerhin Stars auf den roten Teppich schwemmte – und ambitionierten, aber zu ästhetischer Glätte neigenden Filmen legte die 72. Mostra in der zweiten Wettbewerbshälfte qualitativ zu. Die Jury sah das ebenso. Glamour und Kalkül hatten keine Chance

Der Goldene Löwe geht an ein Drama, das präzise Bildsprache mit inhaltlicher Vieldeutigkeit verbindet. „Desde allá“ („Aus der Ferne“) ist das imponierende Spielfilmdebüt des venezolanischen Regisseurs Lorenzo Vigas. Sein in Caracas siedelndes Drehbuch besticht durch die Charakterzeichnung der beiden Protagonisten, wobei vieles im Halbschatten bleibt. Kameramann Sergio Armstrong arbeitete dazu passend mit flacher Schärfe, Dämmerbeleuchtung oder Gegenlichtwirkungen. Das erzeugt Intimität und Distanz zugleich.
 
Endfünfziger Armando (Alfredo Castro) holt sich junge Männer in seine Wohnung, wo sie sich gegen Cash ausziehen. Armando fasst sie nicht einmal an. Genießt er die Erotik oder die Lust an der Macht? Dann gerät er an Elder (Luis Silva), der den Älteren zunächst brutal zusammenschlägt, sich später jedoch in den verschlossenen Mann verliebt. Armando könnte am Ziel seiner Träume sein. Erwidert er Elders überraschende Zuneigung oder umsorgt er den jugendlichen Brutalo aus ganz anderen Gründen? Seinem Vater, der kürzlich nach Caracas zurückgekehrt ist, wünscht Armando jedenfalls den Tod.
 
„Desde allá“ ist eine Fiktion, die durch Inszenierungskunst glaubhaft wird. Harte Themen wie Missbrauch und Homophobie in Venezuela sind im Hintergrund virulent. Für Dokudramen und Essayfilme hatte die Jury indes wenig übrig – obwohl doch die Sparte der dokumentarisch oder biographisch grundierten Filme diesmal stark vertreten war. Schade besonders für „Beixi moshuo“, Liang Zhaos intensive Klage über Bergbau und Arbeitssklaven in der chinesischen Provinz Sichuan: Bittere Poesie mit der Kamera, das formal ungewöhnlichste Werk.
 
Festivalchef Alberto Barbera, dessen Vertrag nun ausläuft, hatte im Vorfeld bereits authentische Storys angekündigt. Die Preise vermitteln ein ganz anderes – im Beharren auf die Kraft der Fiktion aber durchaus konsequentes – Bild. Einzig für Pablo Traperos Regieleistung „El Clan“ ließ die Jury einen Silbernen Löwen springen: Der packende Mafiafilm, in dem Guillermo Francella einen wachsgesichtigen Paten spielt, beruht auf der wahren Geschichte einer mordenden Sippe. Der Puccio-Clan profitierte vom Filz der argentinischen Militärdiktatur.
 
Offensichtlich hat sich Jury-Präsident Alfonso Cuarón – ein mexikanischer Regisseur in Hollywood – für amerikanisches Independentkino stark gemacht, denn der Große Preis der Jury für die US-Produktion „Anomalisa“ rundet das Trio aus süd- und nordamerikanischen Hauptgewinnern ab. Allerdings kam die Jury an Charlie Kaufmans und Duke Johnsons schauerlich-witzigem Puppentrickfilm um einen frustrierten Bestsellerautor auf Lesereise auch kaum vorbei – die raffiniert animierte Tragikomödie galt auch unter Journalisten als Spitzenwerk. Animations-Profi Johnson arbeitete erstmals mit abgescannten Darstellerköpfen und 3D-Druckern. Das verleiht dem Film, der hauptsächlich in einem Hotel spielt, etwas Gespenstisches. Ebenso seltsam: zwei täuschend echten Puppen beim Sex im Hotelbett zuzusehen.
 
Zu den allgemeinen Favoriten zählte ebenso Emin Alpers Film noir „Abluka“ („Wahnsinn“). Alper, der sich über einen Spezialpreis der Jury freuen kann, erzählt eine zunehmend ins Surreale driftende Geschichte um zwei ungleiche Brüder in Istanbul: Kadir kommt aus dem Knast, sucht Nähe, steckt seine Nase überall hinein; Ahmet, der im städtischen Auftrag Hunde killt, rettet ein angeschossenes Tier und beginnt, sich mit dem Schützling in seinem Haus einzumauern. Bomben detonieren, die Stadt brennt. Die Paranoia der Hauptfiguren verwirrt sich mit der an Terrorismus-Angst irre gewordenen Gesellschaft.
 
Was bei „Abluka“ ein wenig stört, ist eine kühle Abstraktion, die das Publikum auf Abstand zu den Protagonisten hält. Dabei sind die Charaktere vom Script her ziemlich grell ausgeleuchtet. Der Istanbul-Film ist das Gegenstück zu Vigas’ Liebesgeschichte aus Caracas. Noch etwas fällt auf: Cuarón und Co. haben nur Männerfilme ausgezeichnet. Dabei haben Sue Brooks („Looking for Grace“) und Laurie Anderson („Heart of a Dog“) gute Arbeiten vorgelegt.
 
Christian Vincents sympathisches Gerichtsdrama „L’Hermine“ („Der Hermelinpelz“) heimste einen Preis für das beste Drehbuch ein und verhalf dem 63-jährigen, herrlich kauzigen Richter-Darsteller Fabrice Luchini noch zum Coppa Volpi als bester Darsteller. Als weibliches Pendant wurde Valeria Golino ausgezeichnet. Bis in die 90er wirkte die Italienerin in Hollywood-Hits wie „Rain Man“ und „Leaving Las Vegas“ mit, am Lido beeindruckte sie als berufstätige Mutter in „Per amor vostro” („Um eure Liebe“), die verdrängt, dass ihr Mann ein Krimineller ist. Der Marcello-Mastroianni-Preis für den herausragenden Nachwuchsdarsteller der Saison geht an Abraham Attah, den Kindersoldaten aus „Beasts of No Nation“.
 
Und neben dem Wettbewerb? Ein anderer „monströser“ Junge ist die Hauptfigur in „The Childhood of a Leader“, für sein Spielfilmdebüt wurde Brady Corbet – der sich schon als Schauspieler einen Namen gemacht hat – mit dem „Löwen der Zukunft“ ausgezeichnet, und dazu mit dem Orrizonti Award als bester Regisseur. Die schillernde, überaus geschichtsbewusste Kindheitsstudie eines fiktiven Diktators vor dem historischen Hintergrund des Versailler Vertrags war nur ein Beispiel dafür, dass in der Nebensektion Orrizonti Filme laufen, die es mit vielen im Wettbewerb locker aufnehmen können.