Utopische Einsamkeit
Armin ist ein TV-Kameramann in der Krise. Seine Kollegen vom Sender sind unzufrieden mit ihm, er selbst würde am liebsten alles hinschmeißen und ein neues Leben anfangen. Als sein Vater anruft, weil Armins Großmutter im Sterben liegt, fährt dieser im Auto nach Ostwestfalen, wo er aufgewachsen ist. Als er dort eines Morgens erwacht, herrscht Totenstille, sein Vater, die Nachbarn, überhaupt alle Menschen sind verschwunden.
Einige Zeit später hat sich Armin auf ein Leben ohne Mitmenschen eingestellt – Robinson-like wohnt er in einer selbstgebauten Hütte, pflanzt Kartoffeln, hält Ziegen und Hühner. Dann tritt die Finnin Kirsi in sein Leben, sie verbringen die Zeit miteinander, ohne zu wissen, ob Angst, Einsamkeit oder Liebe sie verbindet. Aber Kirsi will nicht ewig bleiben… Regisseur Ulrich Köhler erzählt anhand einer unwahrscheinlichen Prämisse (das Verschwinden der Anderen) vom Widerspruch zwischen Freiheitsdrang und Wunsch nach Geborgenheit. Nicht als Endzeitthriller, sondern realistisch und humorvoll schildert er einen Mann zwischen Melancholie und Aufbruch, Selbstentwurf und Scheitern.
"In my Room", Arte-Mediathek, bis 7. Februar
Der Weg zum Ich
Mit seinem Film "Girl" feierte der junge flämische Regisseur Lukas Dhont 2018 sein Filmdebüt. In kürzester Zeit erhielt das Werk renommierte Auszeichnungen, unter anderem die Caméra d’Or für das beste Debüt bei den Filmfestspielen von Cannes.
Der Coming-of-Age-Film ist ein einfühlsames und mitreißendes Porträt des Trans*-Mädchens Lara, die sich in hormoneller Therapie in Vorbereitung auf ihre anstehende Geschlechtsumwandlung befindet. Als Laras großer Traum Wirklichkeit wird und sie an der angesehensten Ballettschule Belgiens angenommen wird, zieht sie mit ihrem Vater Mathias und ihrem kleinen Bruder Milo nach Brüssel. Beim Unterricht in der Ballettschule merkt Lara, was sie alles aufzuholen hat, und was es heißen kann, ein "Mädchen" zu sein.
Eindringlich visualisiert der Film den physischen und psychischen Schmerz, dem die junge Frau ausgesetzt ist - wobei es in der Trans*-Szene Kritik daran gab, dass die Rolle der Lara von einem Cis-Mann (Victor Polster) gespielt wird und dadurch Trans*-Schauspielerinnen eine Bühne verweht blieb. In einer Achtbahnfahrt der Gefühle riskiert die Tänzerin ihr eigenes Leben. Sie kämpft darum, zu sein, wer sie ist.
"Girl, Arte-Mediatek, bis 9. Februar
James Baldwins Werk lebt weiter
"Ich bin weniger Schriftsteller als ein Bürger. Ich muss Zeugnis über das ablegen, was ich weiß", sagt die US-Literaturlegende James Baldwin in den ersten Minuten des Porträts "Meeting the Man: James Baldwin in Paris". Doch so hatten sich das die Filmemacher nicht vorgestellt: Als Terence Dixon und der Kameramann Jack Hazan Baldwin vor 50 Jahren in seinem Exil in Frankreich besuchten, wollten sie einen Film über Baldwins literarisches Werk drehen. Das Porträt wird jedoch persönlicher als angenommen.
Baldwin berichtet von seiner Flucht aus Amerika, wie es ist, ganz allein zu sein und nicht mehr zu besitzen als 40 Dollar. In seinen Erzählungen wird der Autor von den Filmemachern immer wieder unterbrochen und auf unangenehme Weise in eine andere Gesprächsrichtung gelenkt. Auf intelligente Art verdreht der Schriftsteller im Laufe des Gesprächs die Blickwinkel der beiden Männer und macht ihnen so ihre eigenen Rassismen deutlich.
"Meeting the Man: James Baldwin in Paris", auf Mubi
Die lebensrettende Kraft des Voguing
New York ist eine Stadt, die zum größten Teil den Reichen und Mächtigen gehört. Doch der Film "Kiki" zeigt, wie sich eine Gemeinschaft aus queeren schwarzen Tänzer:innen öffentliche Plätze erobert und dort ihre Voguing-Performances aufführt.
Die Dokumentation, die eine junge Generation von Ballroom-Communities begleitet, feiert die Ausdruckskraft nonkonformer Körper und verortet den weißgewaschenen und popkulturell verwässerten Vogue-Stil (siehe Madonna) wieder an seinem Ursprung in der Schwarzen Subkultur. Außerdem werden berührende Geschichten von Selbstfindung, Diskriminierung und alternativen Familienstrukturen in der Szene erzählt. Beim Tanzen und den gezeigten Voguing-Wettbewerben geht es für die Mitglieder der Kiki-Community buchstäblich ums Überleben.
"Kiki", Amazon Prime, zum Ausleihen oder Kaufen
Wie Berlin schlaflos wurde
Im Moment dreht sich die öffentliche Debatte in der Corona-Pandemie eher um Ausgangsbeschränkungen als um Ausgehreize. Als Bars und Restaurants vor dem zweiten Lockdown noch öffnen durften, hatten sie eine Sperrstunde, in manchen Regionen durfte die Bevölkerung Anfang des Winters ihre Wohnungen nachts nur noch mit triftigem Grund verlassen. Der Film "Stadt ohne Morgen" von Charlot von Heeswijk erzählt die umgekehrte Geschichte: Wie in Westberlin 1949 die Sperrstunde abgeschafft und damit der Grundstein für die legendäre Feierwut der Stadt gelegt wurde.
Die Revolution des Nachtlebens nach dem Zweiten Weltkrieg wird dem Gastwirt Heinz Zellmayr zugeschrieben, der mit einer Flasche Whiskey den damaligen US-Stadtkommandanten Frank L. Howley becirct haben soll. Die Möglichkeit, die Nacht endlos auszudehnen, prägt Berlin bis heute (wenn nicht gerade Pandemie ist) und machte die Stadt zum fruchtbaren Boden für Clubkultur. Die Sehnsucht, tanzen zu gehen, wird beim Anschauen des Films mit seinem energetischen Elektro-Soundtrack noch größer.
"Stadt ohne Morgen", auf Vimeo
Der Vater der guten Form
Dass Menschen in Mitteleuropa ihren nördlichen Nachbarn in Skandinavien gern pauschal guten Design-Geschmack zuschreiben (und sich dabei von Ländergrenzen nicht irritieren lassen), dürfte auch an Alvar Aalto liegen. Der finnische Architekt und Designer (1898 - 1976) gilt als Vater der Moderne in seinem Heimatland und wird noch heute weltweit bewundert. Er verband klare, funktionale Formen mit traditionellen Elementen und behielt immer die finnische Landschaft und den menschlichen Körper als Maß im Kopf. Seine Gebäude sind zeitlos und lichtdurchflutet, es gibt kaum einen designaffinen Haushalt, in dem nicht irgendwo seine wellenförmige Glasvase für Iittala steht.
Die Dokumentation "Finnlands großer Architekt" zeichnet Aaltos Karriere nach und lässt Weggefährten wie László Moholy-Nagy zu Wort kommen. Außerdem werden auch die beiden Frauen gewürdigt, die für sein Schaffen zentral waren, aber viel weniger bekannt sind: Aaltos erste Frau Aino und seine zweite Gattin Elissa.
"Alvar Aalto - Finnlands großer Architekt", Arte-Mediathek, bis 11. März
Befreit die Liebe!
Die französische Regisseurin und Autorin Ovidie ist ehemalige Pornodarstellerin und setzt sich für sexuelle Selbstbestimmung ein. Zusammen mit Sophie-Marie Larrouy hat sie die bezaubernde Comic-Serie "Freie Liebe" geschaffen, in der Mythen und Normen rund um Partnerschaft und Sexualität auf amüsante Art auseinander genommen werden. Warum wollen Männer in Pornos immer einer Frau ihr Sperma ins Gesicht spritzen, während sehr wenige auf die Idee kommen, Menstruationsblut zu schlucken? Warum können alle Menschen spätestens seit der Pubertät einen Penis zeichnen, aber kaum jemand eine Vulva? Warum sind so viele Leserinnen süchtig nach "50 Shades of Grey", obwohl darin ausschließlich Frauen bestraft werden?
Der Sexualtrieb, das wird in den zehn Folgen á vier Minuten deutlich, ist alles andere als archaisch, sondern in höchstem Maße kulturell geformt. Ovidie vermischt Anekdoten aus ihrer eigenen Biografie mit Daten und Fakten rund um das Thema Körper und Begehren. Das ist oft ziemlich lustig, aber auch sehr relatable und anrührend. Warum genau finden wir es nochmal normal, mit 12 auf Diät zu sein, um "den Jungs" zu gefallen?
"Freie Liebe", Arte-Mediathek, bis auf weiteres
Der unwiderstehliche Tanz der Frances Ha
Noah Baumbach ist spätestens seit seinem Oscar-prämierten Drama "Marriage Story" mit Adam Driver und Scarlett Johansson einer der Regisseure der Stunde. Nun soll er Don De Lillos Roman "White Noise" mit Driver und Greta Gerwig als Serie für Netflix verfilmen. Obwohl er in seinen Filmen bisher immer ein ähnliches Milieu aus der kreativen weißen US-Mittelklasse begleitet hat, gelingt es ihm, seine oft planlosen Figuren als charmante Schussel voller Lebenslust zu inszenieren.
Unwiderstehlich ist Schauspielerin und Regisseurin Greta Gerwig auch in "Frances Ha" von 2012, Baumbachs erstem großen Erfolg, in dem sie als mittelerfolgreiche Tänzerin durch ein chaotisches, aber auch schrecklich attraktives New Yorker Künstlerinnenleben stolpert. Frances ist eine Königin der Katastrophen, aber auch eine der Lebenslust und hat immer einen verlässlichen Freundeskreis um sich herum, für den man töten könnte. Ihr selbstvergessener Tanz durch die Straßen Manhattans ist außerdem eine Klassiker-Szene der jüngeren Filmgeschichte.
"Frances Ha", auf Mubi
Einmal um die Welt, bitte!
Nachhaltig reisen - geht das? Auch wenn der Tourismus nach dem Abflauen der Pandemie wieder hochgefahren werden dürfte und viele Menschen etwas nachzuholen haben, wird sich diese Frage weiter stellen. Schon vor der Corona-Krise wurde der gigantische CO2-Fußabdruck der Reisebranche diskutiert. Der Begriff "Flugscham" hat sich auch in die deutsche Sprache geschlichen.
Patrick Allgaier und Gwendolin Weisser aus Freiburg wollten ausprobieren, ob es anders geht. Im Film "Weit", der komplett aus Handy-Aufnahmen und Illustrationen besteht, begleitet das Publikum das Paar bei seiner Weltumrundung. Ihr Ziel ist es, so lange nach Osten zu reisen, bis sie von Westen her wieder nach Deutschland kommen - und das, ohne zu fliegen. Wie lange es dauert, ist egal.
Die Dokumentation ist eine bildgewaltige Reportage mit beachtlichem Fernwehfaktor. Ohne Weltentdeckungs- und Erweckungskitsch kommt der Film dann doch nicht aus, und das Privileg, mit einem deutschen Pass einfach losfahren zu können, wird nur ganz am Rande hinterfragt. Aber "Weit" ist eine warmherzige Hommage an das Ungewisse. Und eine Absage an den Pauschaltourismus
"Weit. Die Geschichte von einem Weg um die Welt", 3-Sat-Mediathek, bis 28. Februar
Die Stimmen der britischen "Working Class"
Ein "Working Class Hero" wollte schon John Lennon sein, der Beatle kleidete seine Würdigung der Arbeiterklasse jedoch in sanft klimpernde Klänge. Die Rock'n'Roll-Band Sleaford Mods schreit ihren Frust über soziale Ungerechtigkeit, die britischen Tories oder den Brexit dagegen eher geradlinig und zu schrummelnden Gitarrenklängen heraus.
Die Dokumentation "Bunch of Kunst" der Regisseurin Christine Franz zeit die meinungsstarken Musiker aus UK zwischen Bühnen-Ekstase und Backstage-Grübelei. Die Sleaford Mods haben sich das Musikbusiness nach ihren Regeln zurechtgebogen und kümmern sich herzlich wenig um Hypes und Imagepflege. Das ist sehr rau und unterhaltsam anzusehen. Ein energetischer Roadmovie durch die englische Provinz ist "Bunch of Kunst" außerdem.
"Bunch of Kunst - A Film About Sleaford Mods", BR-Mediathek, bis 9. Februar
Wie geht es den Künstlerinnen und Künstlern der "Arabellion"?
Seit zehn Jahren gehen in Nordafrika und im Nahen Osten vor allem junge Menschen für ihre Rechte und mehr Demokratie auf die Straße. Dabei spielen auch Künstlerinnen und Künstler eine zentrale Rolle. Graffiti, Poesie und Musik wurden zu Werkzeugen des Widerstands.
Die Dokumentation "Früchte des Zorns" besucht einige der Protagonistinnen und Protagonistinnen der "Arabellion" und fragt, wie es den Kreativen seit Beginn der Proteste ergangen ist. Zu Wort kommen unter anderem die tunesische Bloggerin Lina Ben Mhenni (sie starb im Januar 2020), die libanesische Band Band Mashrou’ Leila und die Karikaturistin Doaa El-Adl aus Kairo.
"Früchte des Zorns - Das kulturelle Erbe der Arabellion", 3-Sat-Mediathek, bis 14. November