Offener Brief zum Nahostkonflikt

Warum "Artforum" seinen Chefredakteur entlässt

In einem offenen Brief hatten Künstlerinnen und Künstler im "Artforum" ein Ende der Gewalt gegen palästinensische Zivilisten gefordert. Nun wurde der Chefredakteur des renommierten US-Kunstmagazins entlassen

"Wir unterstützen die Befreiung Palästinas!", hieß es in einem am 19. Oktober in "Artforum" und auf der Plattform "E-Flux" veröffentlichten Aufruf, mit dem mehr als 150 prominente Künstlerinnen und Künstler ihre Solidarität mit dem palästinensischen Volk erklärten. Nach Meinung der Unterzeichner, zu denen Künstler wie Peter Doig, Nicole Eisenman, Nan Goldin, Katharina Grosse, Joan Jonas, Barbara Kruger, Tomás Saraceno und Kara Walker zählten, "gibt es zahlreiche Beweise dafür, dass wir Zeugen eines Völkermords sind, bei dem das ohnehin schon prekäre Leben der Palästinenser als unwürdig für Hilfe, geschweige denn für Menschenrechte und Gerechtigkeit angesehen wird."

Die Veröffentlichung des Briefes "stand nicht im Einklang mit dem redaktionellen Verfahren von Artforum", heißt es nun in einem Statement der Herausgeber der US-amerikanischer Kunstzeitschrift. "Wären die zuständigen Mitglieder des Redaktionsteams konsultiert worden, wäre der Brief als Nachricht mit dem entsprechenden Kontext präsentiert worden."

Das Problem sei gewesen, dass der offene Brief, der auch vom "Artforum"-Chefredakteur David Velasco unterzeichnet wurde, "weithin als eine Stellungnahme der Zeitschrift zu hochsensiblen und komplexen geopolitischen Umständen missverstanden" wurde. David Velasco wurde nun gekündigt.

"Bestürzt über die Einseitigkeit dieses Briefes" 

Der Brief hatte heftige Kritik ausgelöst, unter anderem weil der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober im Süden Israels darin nicht erwähnt wurde. In einem weiteren Appell, der beim israelischen Kunst- und Kulturmagazin "Erev Rav" erschienen ist, forderten Künstlerinnen und Künstler auch Anteilnahme für die israelischen Opfer. 

Gleichzeitig erschien auf der Seite von "Artforum" eine Aktualisierung des kritisierten "Open letter from the art community to cultural organisations". Darin hieß es wiederum, dass sich die Initiatoren und einige Unterzeichnerinnen und Unterzeichner von den Reaktionen missverstanden fühlen. Und weiter: "Wir beklagen alle zivilen Opfer. Wir hoffen auf die baldige Freilassung aller Geiseln und fordern weiterhin einen sofortigen Waffenstillstand." Einige Künstler wie etwa Peter Doig, Tomás Saraceno und Joan Jonas zogen ihre Unterschrift unter dem offenen Brief vom 19. Oktober zurück. 

"So ist durch diese Aktion immerhin sehr klar geworden, dass viele Künstler und Künstlerinnen nicht genau nachdenken, bevor sie solche Briefe unterschreiben", sagte die Künstlerin Hito Steyerl am Freitag dem "Spiegel". "Sie erliegen schlicht der Dynamik der sozialen Medien, da wird eine Art Herdentrieb erzeugt." Sie sei sehr "bestürzt über die Einseitigkeit dieses Briefes" gewesen. 

"Ich bedauere nichts"

"Ich bedauere nichts", teilte hingegen David Velasco der "New York Times" mit. "Ich bin enttäuscht, dass eine Zeitschrift, die immer für Meinungsfreiheit und die Stimmen von Künstlern stand, sich dem Druck von außen gebeugt hat." Am Freitag kritisierten die Künstlerinnen Nicole Eisenman und Nan Goldin die Entlassung von Velasco, und erklärten, sie würden nicht mehr mit Artforum zusammenarbeiten. "Ich habe noch nie eine beängstigendere Zeit erlebt", sagte Goldin der "New York Times". "Menschen werden auf die schwarze Liste gesetzt. Menschen verlieren ihre Arbeit." 

Fast 50 Mitarbeiter und Autoren des "Artforums" haben einen weiteren Brief unterzeichnet, in dem sie die Wiedereinstellung von Velasco fordern. Darin heißt es, dass seine Kündigung "nicht nur die redaktionelle Unabhängigkeit des Artforums gefährdet, sondern auch die eigentliche Mission des Magazins in Frage stellt: ein Forum für vielfältige Perspektiven und kulturelle Debatten zu bieten".

Velasco arbeitete seit 2005 für "Artforum", seit sechs Jahren war er Chefredakteur in der Nachfolge von Michelle Kuo, die aus Protest über den Umgang der Publikation mit dem Mit-Herausgeber Knight Landesman, der sich vor Gericht wegen sexueller Belästigung in mehreren Fällen verantworten musste, zurückgetreten war.