Wolfgang Tillmans im MoMA

Wie es sich anfühlt, heute zu leben

Das New Yorker Museum of Modern Art hat Wolfgang Tillmans zwei Etagen freigeräumt. Die größte Ausstellung seiner Karriere nutzt der deutsche Künstler jedoch nicht für eine klassische Retrospektive 

Wolfgang Tillmans bewegt sich unbeschwert durch die Galerien im fünften Stock des New Yorker Museum of Modern Art (MoMA), Jeans, Sneakers, ein offenes Hemd, plaudert locker mit den Besuchern der Vorschau seiner monumentalen Werkschau "To look without fear". Man hat eher das Gefühl, er empfange Gäste in seinem Berliner Studio, als eröffne er eine Ausstellung in einer der bedeutendsten Kunstinstitutionen der Welt.

Die Lässigkeit hat sicher auch damit zu tun, dass Tillmans seit vielen Jahren in den großen Häusern der Welt ein- und ausgeht. Schon 2003 stellte ihn das Tate Modern aus, später saß er gar im Aufsichtsrat des Londoner Museums. Er ist Mitglied der Akademie der Künste in Berlin und Vorsitzender des Londoner Institute of Contemporary Art. Er hat in der Pinakothek der Moderne ausgestellt und im Amsterdamer Stedelijk. Tillmans hat keine Berührungsängste mit großen Institutionen.

Insofern ist die Soloausstellung im MoMA für Tillmans kein riesiger Schritt mehr, auch wenn es eine Ehre ist, die nicht vielen lebenden Künstlern zuteil wird. Cindy Sherman und Richard Serra gehören zu den jüngeren Beispielen, kurz vor Beginn der Pandemie war es die feministische Aktionskünstlerin Adrian Piper.

Größte Solo-Schau in Tillmans Karriere

Dass Tillmans sich so selbstverständlich durch die erst jüngst erweiterten und luftiger gestalteten Galerien des MoMA bewegt, liegt aber sicher auch daran, dass der Gedanke einer Werkschau oder der Kanonisierung seiner Person und seiner Arbeit eher widerstrebt. Tillmans hat die Show am MoMA, die größte Solo-Ausstellung in seiner mittlerweile schon mehr als 30 Jahre währenden Karriere, von Anfang an nicht als Adelung begriffen, als Aufstieg in ein Pantheon der zeitgenössischen Kunst. Es war vielmehr für ihn eine Gelegenheit.

Das Werk als Original und Artefakt hat Wolfgang Tillmans noch nie viel bedeutet. Die Tatsache, dass seine künstlerische Arbeit mit Fotokopien begonnen hat, spricht in dieser Hinsicht Bände, die scheinbare Beiläufigkeit seiner Bilder ebenso. Und auch die Tatsache, dass er seine Arbeiten stets ungerahmt mit Büroklammern oder mit Tesaband hängt, unterstreicht diese bewusste Unterwanderung der Ideologie des Unikats.

Deutlich wichtiger war für Tillmans schon immer die Installation, die Art und Weise, wie seine Arbeiten Raum verändern und schaffen. Und so war das Angebot von MoMA-Kuratorin Roxana Marcoci, alle elf Räume des fünften Stockwerks des MoMA zu gestalten, für Tillmans sicher unwiderstehlich. Zumal das MoMA dem deutschen Künstler dabei weitestgehend freie Hand ließ.

Keine didaktischen "Master"-Narrative

So ist die Tillmans Ausstellung in New York alles andere als eine traditionelle Retrospektive. Gewiss, Tillmans präsentiert verschiedene Facetten seines Wirkens seit Beginn der 1990er-Jahre – Themen wie "Porträt und Subkultur", "Fotokopien", "Licht" oder "Astronomie". Vor allem aber will er Erlebnisräume schaffen, den Besucher dazu in die Lage versetzen, in den unmittelbaren Dialog mit den Arbeiten zu treten.

Dazu passt die völlige Abwesenheit von Beschreibungen zu den mehr als 400 gezeigten Arbeiten. Das MoMA enthält sich, ganz nach den Vorgaben von Tillmans, der Etikettierung und Kategorisierung eines Werks, das sich dagegen ohnehin sperrt. Damit folgt das Museum seinem eingeschlagenen Weg der Selbst-Dekonstruktion. Seit der Neueröffnung des MoMA im Jahr 2019 wird an der 53rd Street peinlich vermieden, hierarchisierende, didaktische "Master"-Narrative anzubieten. Einem Künstler wie Tillmans ein ganzes Stockwerk zur Verfügung zu stellen, passt da bestens ins Konzept.

So ist die Ausstellung alles andere, als ein intellektueller Versuch, ein Lebenswerk zu ordnen, Entwicklunsglinien aufzudecken, das Denken des Künstlers zu verstehen. Die Ausstellung ist zwar grob chronologisch, doch sie funktioniert auf eine weitaus direktere Art. Tillmans hat sämtliche Exponate aus seinem eigenen Archiv ausgewählt oder gar neu reproduziert, die 40 Arbeiten in der Sammlung des MoMA blieben im Keller. Tillmans Auswahlparameter waren dabei rein subjektiv: Das einzige Kriterium war, wie er sagt, ob ein Stück ihn berührte oder wenigstens die Erinnerung an eine Emotion hervor rief.

Demonstration der Vergeblichkeit

Dabei kamen viele seine bekannteren Werke zum Zuge, die ihn wohl schon immer berührt haben: Das Foto der Ragga-Tänzer aus Jamaica, das ikonische Bild seiner Freunde Lutz und Alex in einem Baum, den Kuss zweier Männer aus dem Londoner Schwulenclub Cock oder die Begegnung seines mittlerweile verstorbenen Lebenspartners Jochen Klein mit einem Hirschen am Strand im Jahr 1995. Doch durch die Größe der Drucke, die Komposition der Räume und den Dialog mit den umliegenden Werken werden sie Teil von Stimmungen, Geisteszuständen eines bestimmten Lebens- und Schaffensabschnitts, in das Tillmans sich und den Betrachter durch den Filter der Erinnerung zurückversetzt.

Das Clubleben der 90er-Jahre spielt dabei natürlich eine große Rolle, mitsamt der emanzipatorischen Kraft, die Tillmans dem Nachtleben schon immer zugeschrieben hat. Seine politischeren Momente kommen ebenso zum Tragen, wie etwa in dem Zyklus "Soldaten" mit fotokopierten Zeitungsausschnitten aus den 90ern. Und dann sind da seine ruhigeren Arbeiten, seine Stilleben, sowie seine Experimente in Abstraktion wie sein "Freischwimmer"-Zyklus, bei dem er Fotopapier mit Taschenlampen belichtete und großflächig vergrößerte. All das wird von einer tiefen Skepsis gegenüber seinen Medien durchzogen und dem beinahe verzweifelten Versuch Bildern inmitten unserer übersättigten Bilderwelt irgendeine Form der Wahrhaftigkeit abzuringen.

Eine ähnliche Verzweiflung spricht aus seiner Installation "Truth Tables", einem Raum in der Mitte der Ausstellung, in der sich auf Tischen Zeitungsausschnitte und Bilder vermischen und überlagern. Es ist so etwas wie eine Demonstration der Vergeblichkeit, den Dickicht unseres Informationsüberangebotes zu durchdringen und darin irgendetwas zu finden, das sich wahr anfühlt.

Melancholie und Orientierungslosigkeit

Das passt zu Tillmans Methode, beiläufig und ständig zu fotografieren und im Nachhinein die Menge der Bilder daraufhin zu durchforsten, ob ihn etwas anspringt. Am Ende bleibt diese Arbeit jedoch eine melancholische, eine Art Trauerarbeit für eine Unmittelbarkeit, die es ohnehin nie gegeben hat.

Eben diese Melancholie verströmt auch die Installation am Ausgang der Ausstellung – Tillmans großformatiges Foto eines leeren Raumes am Tag nach einer Party. Tillmans hat es für das MoMA gemeinsam mit Isa Genzken inmitten einer dreidimensionalen Spiegelkonstruktion inszeniert. Der Raum versetzt den Besucher in einen Zustand der Verkaterung und Orientierungslosigkeit. Ganz gewiss ein Zustand, der dem Künstler nicht fremd ist.