Wolfgang Ullrich

"Fast jedes künstlerische Selbstporträt ist narziss­tischer als ein Selfie"

Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich weiß, warum Selfies keine Selbstporträts sind

Herr Ullrich, warum haben Selfies so einen schlechten Stand?
Das liegt vor allem in unserer Kultur begründet, in der das Selbstporträt in der Moderne die Tradition hatte, das Innere, das Eigentliche, das Echte und Wahre zum Ausdruck zu bringen. Selfies, das ist sehr schnell sichtbar, stimmen damit nicht überein: Es werden Grimassen, krasse Gesichtszüge und Filter verwendet. Da sagt sich schnell: Das ist der Niedergang einer großen Porträt-Tradition. Aber man kann auch umgekehrt fragen: Was drückt sich denn stattdessen aus?

Gibt es andere kunsthistorische Bezugspunkte zum Selfie als das Selbstporträt?
Sie stehen genauso in der Tradition des Rollenspiels, der Maske. Man kann das als kreative Leistung würdigen und anerkennen, dass es nicht in jedem Fall darum geht, das Gesicht neu zu erfinden oder das Ich, sondern zu typisieren oder auch Mimikry zu betreiben, bezogen auf bestimmte Erwartungen und bestimmte Kontexte. Für unsere Kultur ist das ein Bruch, nachdem jahrhundertelang das Porträt Ausdruck des Individuums war, aber es ist kein Bruch, wenn man den historischen Bogen weiter zurück schlägt und an höfische Kulturen denkt oder an den Bereich der Mode, wo die Selbstinszenierung nie verschwunden ist. Andere Kulturen haben da viel weniger Mühe, den Sinn von Selfies zu verstehen.

Das Typisieren, also standardisierte Gesichter und Gesten anzuwenden, hat doch auch den Zweck, sich von der etwas peinlichen Selbstbespiegelung ironisch zu distanzieren.
Absolut, gerade dadurch haben Selfies generell oft den Charakter der Maske: Sie versteckt etwas, und sie macht etwas sichtbar. Man immunisiert sich, man schützt sich, man will eben nicht wirklich zu erkennen geben, wie man sich fühlt oder was man denkt. Da hilft ein zwinkerndes Auge als Ironie-Marker oder dass man die eigenen Hände noch mal dazu nutzt, sich in Anführungszeichen zu setzen. Auch ständig neue Filter in den Apps sind ein Beleg dafür, dass die Anbieter erkannt haben, wie wichtig es den Leuten ist, mit Effekten und Formen der Übertreibung zu spielen, um das Verbergen und das Zeigen zum Einsatz zu bringen.

Was unterscheidet Selfies inhaltlich noch von schriftlichen oder mündlichen Statusmeldungen?
Das Gegenüber weiß gleich: Das ist jetzt alles nicht so ernst gemeint. Man kann dafür nicht so haftbar gemacht werden. Ich folge vielen Accounts, und gerade von Politikern gibt es sehr krasse Selfies. Erstaunlich, wie wenig das skandalisiert wird! 

An wen denken Sie?
Dorothee Bär von der CSU ist bekannt für ihren Account, ihre Selfies sind oft extrem und sehen nicht so aus, wie man sich jemanden vorstellt, der jede Woche im Bundeskabinett gewichtige Entscheidungen trifft. Aber dadurch, dass die Selfies so erkennbar übertrieben sind, würde man sie nicht haftbar machen dafür. Für jeden Tweet werden Politiker sofort zur Verantwortung gezogen, wenn eine Vokabel ein bisschen verrutscht ist. Aber die Gesichtszüge dürfen noch so entgleist sein.

Sich am ausgestreckten Arm zu fotografieren ist nicht neu, was ist das Neue am Selfie? Die Verbreitung?
Ja, es geht immer auch um das Adressieren. Es ist sehr anlassbezogen. Ich mache das Selfie in einer bestimmten Situation, nicht abstrakt „ein Bild von mir“, das dann nachträglich kontextualisiert wird wie ein künstlerisches Selbstporträt. Der Kontext ist von vornherein Teil der Sache. 

Das Tauschen von Bildern hat etwas von einer Währung, man erwartet einen Gegenwert.
Eine schöne Metapher. Ich schicke jetzt was, aber will etwas zurückgeschickt bekommen. Es gibt bestimmte Formeln, die dazu animierend wirken sollen. Wenn ein Selfie sehr lustig ist, kann der andere nicht nur zurückschreiben "Danke für das schöne Bild", auch eine Kaskade von Emojis reicht nicht als Antwort. Um keinen Stilbruch zu begehen, muss man auch wieder mit einem Selfie antworten. Sonst ist es, als würde der eine ein großes Geschenk machen, und der andere gibt gar nichts. Es ist eine Bildertausch-Ökonomie.

Das Selfie wird immer schnell mit Narzissmus in Verbindung gebracht, aber ich bin mir da gar nicht so sicher.
Meiner Meinung nach stimmt das gar nicht, denn Narzissmus hieße ja, man machte die Bilder, um sich selber noch zu spiegeln und die Außenwelt auszublenden. Dabei ist das Gegenteil der Fall, die meisten Selfies werden ja aufgenommen, um mit anderen Menschen in Kontakt zu treten und Verbindlichkeiten herzustellen. Jedes alte Selbstporträt, bei dem der Künstler in den Spiegel starrt und jede Falte genau seziert, ist in der Logik viel narzisstischer als 99 Prozent der Selfies.

In Ihrem Buch treffen Sie die Formulierung der „mündlichen Bildkultur“. Was ist das Mündliche?
Jemand, der Selfies verschickt, will eine Statusmeldung machen, er will den anderen zu einer Gegengabe bringen, er will einen Witz machen, sich einfach mal wieder ins Gespräch bringen. Alle Gründe sind vergleichbar mit dem Modus der Unterhaltung. Da macht man auch mal einen Witz, da will man auch mal jemanden provozieren, eine Information austauschen oder einfach nur Zeit überbrücken. Dieses Spektrum, für das wir bislang nur die Sprache hatten, drückt sich jetzt in der digitalen Bildkultur aus. Die Logik von Snapchat ist auch Ausdruck dieser Vermündlichung, wenn die Dinge, die man sendet, nach kürzester Zeit wieder weg sind. Genauso wenig fixiert man das, was Menschen sprechen, wenn sie sich unterhalten.

Welche Berührungspunkte mit der Kunst sehen Sie in der digitalen Bildwelt über das Selfie hinaus?
Cindy Sherman hat mit ihrem Insta­gram-Account die Zusammenhänge verstanden zwischen ihrer künstlerischen Position und einer Alltagskultur. Ich würde mir aber noch viel mehr künstlerischen Umgang wünschen, denn die Gegenwartskunst hat ja auch die Aufgabe, neue Effekte und Formen der Bildlich­keit zu reflektieren und sie in andere Kontexte zu bringen. Da sehe ich aber bislang wenig.

Geraten Künstler vielleicht durch diese kreative Konkurrenz unter Druck und gehen absichtlich auf Abstand?
Das ist eine interessante These, wir sollten die nächsten Künstler, die wir treffen, danach fragen.