Architektin Xu TianTian

"Von alter chinesischer Tradition kann man viel lernen"

Die Architektin Xu TianTian wurde gerade mit dem Berliner Kunstpreis ausgezeichnet. Ein Gespräch über chinesische Kultur, Dorfleben und Schönheit von Fabriken

Xu TianTian, viele Ihrer Bauprojekte finden auf dem Land statt. Was steht dabei im Fokus: Der Mensch oder die Natur?

In der Regel kommen die Provisionen für Architekten von Kunsteinrichtungen, Unternehmen oder vermögenden Personen.  Gleichzeitig möchte ich als Architekt so arbeiten, dass wir Alternativen finden, dass wir unsere Natur so integrieren können, dass der Planet der Auftraggeber ist. Wenn es um die Wiederbelebung ländlicher Gebiete geht, wird die Zukunft eines Ortes in erster Linie an den ökologischen Werten und dem wirtschaftlichen Potenzial gemessen. Wir haben einen anderen Ansatz gewählt: Wir sind in die Berge gegangen, haben Dörfer besucht und mit den dort lebenden Menschen gesprochen, um zu verstehen, was ihre Bedürfnisse sind. Daraus hat sich das Konzept der Akupunkturarchitektur entwickelt.

Akupunktur kenne ich nur aus der Medizin. Was bedeutete das im Zusammenhang mit Architektur? 

Im alten China gab es viele Ärzte, die keine Niederlassung haben, sondern von Dorf zu Dorf gereist sind. Die Bewohner konsultierten den Arzt eben dann, wenn er da war und erzählten ihm von ihren Problemen, Diagnosen und Symptomatiken, um eine Behandlung zu erhalten. Fahrende Ärzte waren auch deshalb wichtig, weil nicht alle Menschen das Geld hatten, zu einem Krankenhaus in im Stadtzentrum oder in der Kreisstadt zu fahren. Dieser Ansatz hat für uns Modellcharakter. Der Patient ist die Erde. Wir wollen nicht nur für gewinnbringende Provisionen arbeiten, sondern mittels Architektur Lösungen für Probleme im ländlichen Raum finden. Wir gehen nicht mit dem Mainstream, aber ich denke, wir bilden eine neue Art und Weise, Architektur zu sehen.

Ihre Architektur orientiert sich an traditionell chinesischer Kultur. Was inspiriert Sie daran?

Es ist ein faszinierender Prozess für mich, das Erbe chinesischer Kultur zu entdecken. Vor allem auf dem Land gilt noch immer die jahrtausendealte chinesische Philosophie, im Einklang mit der Natur zu leben. In den Städten geht es nur um den Menschen, alles ist auf ihn ausgelegt, auf dem Land dagegen ist er Teil der Natur. Es geht nicht nur um das kulturelle Erbe, sondern auch darum, die Beziehung zwischen dem Mensch und seiner Umgebung neu zu entdecken. Von alter chinesischer Tradition kann man viel lernen.

Was kann die Stadt vom Land architektonisch lernen?

Es ist wichtig, unser Verhältnis den Materialien, die wir verwenden, zu überdenken - statt die Poesie im Beton zu suchen. In ländlichen Gebieten arbeiten die Menschen mit dem Material, das gerade da ist. Sie sammeln Steine oder Bambus und nutzen natürliche Rohstoffe. Wir versuchen auch bei städtischen Projekten biobasiertes Material zu verwenden, am besten direkt aus der Region. Die Bauindustrie spielt auch ihre Rolle im Klimawandel.

Kann Architektur eine Balance zwischen Stadt und Land schaffen?

Ich habe den Eindruck, dass weltweit viele Menschen städtemüde sind und nach Alternativen auf dem Land suchen. Die Pandemie war ein Grund dafür. Ich denke, dass der Trend dazu geht, beides zu nutzen: Viele junge Menschen ziehen in China wieder aufs Land und arbeiten aus der Ferne, kommen aber trotzdem immer wieder in die Städte.

Wo fühlen Sie sich persönlich am wohlsten: auf dem Land oder in der Stadt?

Auf dem Land! Peking für Geschäftsreisen in die Natur zu verlassen, ist ein Genuss für mich.

Was bedeutet Architektur für Sie: Kunst, Technik oder eine Methode zur sozialen Entwicklung?

Natürlich sind Technik und Ästhetik wichtig. Durch die Arbeit auf dem Land habe ich aber erkannt, dass das größte Potenzial der Architektur tatsächlich in ihrem gesellschaftlichen Wert liegt. Mich fasziniert, wie groß der soziale Einfluss von Architektur sein kann.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Gerade arbeite ich an einem Projekt bei dem es darum geht, wie anpassungsfähig traditionelle chinesische Gebäudetypologien sind. Die sogenannten „Tulou“ sind kreisrunde Gebäude, die ursprünglich so angelegt wurden, damit man sich nach außen gegen Feinde verteidigen kann. In der Mitte befindet sich ein Hof, außen herum sind viele Wohnung, sie sind auf kollektives Wohnen ausgelegt. Jedes dieser Gebäude ist wie ein eigenes kleines Dorf. Viele Menschen verlassen sie, weil sie nicht mehr als modern gelten, dabei ist das Konzept eigentlich sehr flexibel. Wir wollen die Tulou wiederbeleben. Teilweise sind von ihnen nur noch Ruinen übrig. Wir nutzen das als Ausgangspunkt, um neue Kulturstädten aufzubauen. Ein Tolou wird zu einer Bibliothek, ein anderes zur Porzellanwerkstatt und wieder ein anderes für Opernaufführungen umgebaut.

Sie haben in der Vergangenheit Fabriken gebaut, für braunen Zucker oder Tofu. Sollten Fabriken schön sein?

Jedes Dorf hat eine Spezialität. Das eine ist bekannt für Tofu, ein anderes für Reiswein und wieder eines für braunen Zucker. Die Menschen erschaffen damit ihr eigenes kulturelles Erbe. Genau das wollten wir architektonisch Widerspiegeln. Natürlich geht es aber auch darum, den Produktionszustand und die Qualität effektiv zu verbessern, damit das wirtschaftliche Einkommen gesteigert wird, gleichzeitig dienen die Fabriken als Museen für traditionelle Herstellungsformen. Ich möchte einen Dialog zwischen der Tradition, Produktion und Natur kreieren. Erst dann wird etwas wirklich ästhetisch. Es reicht nicht, dass man die parametrische Form als schön empfindet.

Geht es bei Ihrer Architektur auch darum, China nach außen hin zu repräsentieren?

Im Bezug auf die chinesische Kultur und den Landkreisen, mit denen wir zusammenarbeiten, ja. Trotzdem ist es für mich schwer zu sagen, was eigentlich "chinesisch" ist. Ich möchte die dörfliche Kultur den Stadtbewohnern näher bringen. Erst wenn man versteht, wie Menschen seit Tausenden von Jahren in den hohen Bergen oder auf kleinen Inseln leben, dann kann man ihnen den Respekt für die Art und Weise wie sie leben, entgegenbringen.

Was ist Ihr Ziel als Architektin?

Ich möchte die Architektur nutzen als soziales Mittel für die Herausforderungen, die uns umgeben. Bald beginne ich ein Projekt zum Thema nachhaltige Landwirtschaft auf einer Insel. Es ist schön, ein Puzzleteil eines sozialen Gefüges sein zu können.