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10 Kunst-Filme, die sich im Juni lohnen

Unsere Filme im Juni geben einen Vorgeschmack auf die Documenta, erforschen die Geheimnisse einer berühmten Skulptur und rufen den Geist der Malerin Hilma af Klint 


Kunst und Horror mit Wakaliga Uganda 

Am Stadtrand, in den Slums von Kampala, liegt Wakaliga Uganda, früher auch Wakaliwood genannt. Das kleine Filmstudio, das Isaac Nabwana lange mit einer einzigen Videokamera betrieb, will es nicht in erster Linie mit Hollywood aufnehmen. Eher schon mit Kannywood, der mächtigen nigerianischen Filmindustrie. Die mehr als 40 Filme, die der Autodidakt seit 2005 gedreht hat, kommen in der Regel mit einem Budget von 180 Euro aus; die Mitwirkenden werden am Gewinn beteiligt. Prallvoll mit Actionszenen, getragen meistens von Heldinnen und einem Cast aus Familienmitgliedern, genießen sie bei Genrefans Kultstatus. Tatsächlich aber bestehen Werke wie "Who Killed Captain Alex?" oder "Bad Black" aus sehr viel Blut und aus noch mehr Liebe. Sie arbeiten sich nicht an Formeln ab, sondern erfinden ihre eigenen Regeln. Einfache Pappkulissen lassen die Wirklichkeit hindurchschimmern – und verhindern zugleich jeden Realismusverdacht.

Nun ist Isaac Nabwana mit Wakaliga auch nach Kassel auf die Documenta Fifteen eingeladen und wird dort einen neuen Film zeigen und Workshops veranstalten. Einen Eindruck von seinem fröhlich-anarchischen Schaffen liefert der Dokumentarfilm "The Cinematic Dream", der auf YouTube verfügbar ist. Darin bekommt man einen Eindruck von einem ehrgeizigen Unterfangen, das geringe Budgets nicht als Beschränkung empfindet und das Horrorgenre auf der Leinwand mit viel Humor angeht. 

"Faces of Africa – Wakaliwood: The Cinematic Dream", auf Youtube


Wie entsteht Kunst und was kostet sie?

Der Filmemacher Felix von Boehm und die Monopol-Redakteurin Silke Hohmann sind der Frage nachgegangen, wie Kunst entsteht. Was geschieht, bis ein Kunstwerk in der Welt ist? In einer vierteiligen Dokumentation besuchen sie drei Künstlerinnen und Künstler in ihren Ateliers, bei Ausstellungen, sie sprechen mit Kuratorinnen, Galeristen und Händlern, begleiten die Fertigstellung der Werke und verfolgen, wie sie schließlich am Markt platziert werden. 

Die Reise beginnt in den Künstlerstudios. Am Anfang steht die Zeichnung, das gilt für die Porträts des Malers Amoako Boafo aus Ghana genau wie für die konzeptuellen Außenskulpturen aus Alicja Kwades Atelier, das einem Unternehmen gleicht. Und auch Anne Imhof formuliert die Themen ihrer groß orchestrierten Performances zunächst als Zeichnung. Während der Dreharbeiten bereitet sie ihre große Ausstellung im Pariser Palais de Tokyo vor. Das prozesshafte Arbeiten mit ihrem Team, ihre radikale Erweiterung des Kunstbegriffs und das nicht käufliche Erlebnis ihrer Arbeit stellen hier die Frage nach Kunst als Handelsware ganz konkret. Eine Serie über den Preis der Kunst, über ihren Wert und darüber, was Kunst eigentlich ist.

Mehr zu "Ist das Kunst?" lesen Sie hier.

"Ist das Kunst?", Arte-Mediathek, bis 16. Mai


Liebe zwischen Kunsthalle und Diamantenmine

Monika ist Anfang 40 und Kuratorin an der Frankfurter Kunsthalle. Joseph ist ein Geschäftsmann, der Investoren für eine Diamantenmine im Kongo sucht und sich vorübergehend mit dubiosen Geschäften über Wasser hält. Während einer Polizei-Razzia in einer Kneipe im Frankfurter Bahnhofsviertel stoßen die beiden zufällig aufeinander – es ist der Beginn einer leidenschaftlichen Beziehung, die sich vor höchst diversen Szenerien entfaltet: einer elitären Kunstwelt und prekären, migrantischen Verhältnissen.

So unterschiedlich ihr Hintergrund auch sein mag: Monika und Joseph stehen beide in der Mitte des Lebens, konfrontiert mit der großen Frage, wie es weitergehen soll. Sie will endlich aus dem Schattendasein der emsigen Kuratorin treten und sich auf die Direktion der Kunsthalle bewerben, und auch er sucht nach dem großen Deal, dem Sprung heraus aus der Schattenwelt.

Lisa Bierwiths Filmdebüt "Le Prince" ist zugleich intensive Liebesgeschichte und punktgenaue Studie zweier Milieus, die kongenial ineinander geblendet werden. Netzwerken muss Monika genauso wie Joseph. Vorsprechen bei Gönnern, die Codes aneignen, Erniedrigungen ertragen, Misogynie und Rassismus. Es geht um Status, um Macht, um Anerkennung. Um die Frage, was wir wirklich im Leben suchen.

"Le Prince", auf Mubi


Mit Anton Corbijn und Depeche Mode im Wald 

Im Alter von nur 60 Jahren ist Ende Mai der Depeche-Mode-Keyboarder Andy Fletcher gestorben. Wer den stillen Star im Hintergrund noch einmal in Aktion erleben möchte, kann das im Film "Spirits in the Forest" von Anton Corbijn tun.

Der niederländische Fotograf und Regisseur hat die düster-elegante Schwarz-Weiß-Ästhetik der Band nachhaltig geprägt. 2019 hat er einen Konzertfilm in die Kinos gebracht, der die Musiker nicht nur bei ihrem Auftritt auf der Berliner Waldbühne zeigt, sondern auch mehrere Fans begleitet, die ihre ganz persönlichen Depeche-Mode-Geschichten erzählen. Ein Film über die Kraft der Musik und nun auch ein Denkmal für Andy Fletcher.  

Eine ausführliche Kritik zum Film lesen Sie hier.

"Depeche Mode: Spirits in the Forest", bei Amazon Prime


Ein Porno und seine Folgen 

Die ersten zehn Minuten sind krass, nämlich einfach ein billiger, expliziter Porno. Würde "Bad Luck Banging or Loony Porn" (Übersetzungsversuch: "Unglückliches Bumsen oder verrückter Porno") in diesem Exploitation-Modus bleiben, müsste man sich schon sehr über den Bärensieg des rumänischen Beitrags auf der Berlinale 2021 wundern. Aber Radu Jude, der Regisseur des Films, hat es natürlich faustdick hinter den Ohren. Wer sich hier aufregt und trotzdem nicht abschaltet, muss sich Heuchelei vorwerfen lassen.

Die weitere Geschichte geht so: Auf dem Sexvideo, das unbedacht hochgeladen wird und dann viral geht, sind eine Lehrerin und ihr Mann zu sehen. Emi (stark: Katia Pascariu) versucht vor dem unausweichlichen Elternabend noch verzweifelt, die Verbreitung des Pornos zu stoppen. Die Abendveranstaltung in der Schule wird zum Tribunal mit vorwiegend entrüsteten Eltern, die über Emis berufliche Zukunft abstimmen. Eigentlich handelt es sich um mehrere Filme in einem. Jude zeigt zunächst Straßenszenen aus Bukarest im Corona-Sommer 2020. Gesichtsmasken, Alltag, Hektik, viel Aggression und blanker Hass. Dazwischen eine genervte Emi, die per Handy Schadensbegrenzung versucht. 

Anschließend schiebt Jude einen Bilderbogen "Short dictionary of anecdotes, signs, and wonders" dazwischen, eine Montage, in der es scheinbar um ganz andere Dinge geht, um Geschichte und Symbole. Aber auch um Medusa und ihren tödlichen Blick, Medusa, die von Perseus nur deshalb besiegt werden konnte, weil er das Monstrum nur indirekt, im reflektierenden Schild der Göttin Athene ansah. "Das Kino ist Athenas poliertes Schild", sagt ein Zwischentitel: Wir können den wahren Horror, die auf uns zurollende wirkliche Gefahr, nur indirekt erkennen – auf der Leinwand.

Dieses Credo des rumänischen Filmemachers muss man im Hinterkopf behalten, wenn sich die Eltern im dritten, als theatralische Farce inszenierten Teil die Köpfe über Emi heiß reden, als wären die Lehrerin und ihr versehentlich in Schülerhände gelangtes Privatvideo ein echtes Problem. Die tiefergehenden Schieflagen, die dahinter versteckt sind, macht "Babardeală cu bucluc sau porno balamuc" en passant sichtbar, indem er uns eine aus dem Ruder geratende postsozialistische Gesellschaft zeigt, in der Konsumismus und reaktionäre Haltungen auf merkwürdige Weise koexistieren.

Das Werk ist ein kühner Mix aus Spielhandlung und Dokumentation, Essayfilm und Satire, ein würdiger Gewinner einer Berlinale, die ohne Publikum auskommen musste. Wären die Säle voll gewesen, hätte es gewiss hitzige Diskussionen über diesen Film gegeben. Vielleicht lässt sich das nun beim Streamen nachholen.

"Bad Luck Banging or Loony Porn", auf Mubi 


Das Rätsel der Venus von Willendorf 

Historische Dokumentarfilme mit nachgespielten Kostüm-Szenen sind Geschmackssache: Entweder man liebt sie, oder man hasst sie. Wenn man jedoch über die etwas dick aufgetragenen Steinzeit-Episoden hinwegkommt, liefert die Produktion "Rätselhafte Venus" von 2021 interessante Erkenntnisse über eines der berühmtesten Kunstwerke der Welt: Die "Venus von Willendorf", eine knapp 30.000 Jahre alte Statuette einer üppigen Frau, die als eines der frühesten bekannten Menschen-Abbbilder gilt und sogar in den sozialen Medien viral ging, als sie bei Facebook als Pornografie eingestuft wurde. 

Wer hat diese Figur aus Kalkstein geformt? Was sagt sie uns über das steinzeitliche Leben und dessen Geschlechterverhältnisse? Und ist sie wirklich eine Venus – also eine Fruchtbarkeitsgöttin? Oder sagt diese Bezeichnung nicht viel mehr über die patriarchalen Verhältnisse ihrer Fundzeit um 1900 aus als über das Objekt selbst? Der Film von Regisseur Klaus T. Steindl fächert die Fragen auf, die auch über 100 Jahre nach der Entdeckung noch offen sind und begleitet Expertinnen und Experten bei ihren neuesten Forschungen. Denn die Statue ist nicht nur ein Kunstwerk, sie ist auch eine Zeitmaschine.

"Rätselhafte Venus", Arte-Mediathek, bis 26. Juni


"Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren …"

Wenn Drew Dollaz Spitzentanz, Breakdance und zeitgenössischen Tanz in einer Bewegung vereint, schwebt er scheinbar schwerelos über den New Yorker Asphalt. Wenn die Trans-Frau Carmen Xtravaganza sich bewegt, wird jeder Move zur Kunst: Kaum jemand beherrscht das Vogueing wie sie. Und wenn Nathan Bugh seine Partnerin Gabriella Cook beim Rock'n'Roll durch die Luft wirbelt, teilen sie sich einen Rhythmus, einen Herzschlag.

All die unterschiedlichen Individuen, deren Geschichten in der Arte-Dokumentation "Let's Dance" erzählt werden, haben eines gemeinsam: Die gelebte Überzeugung, dass Tanzen Freiheit, Selbstbestimmung und Empowerment bedeutet. Die sechs Teile erzählen die Geschichte des Tanzes seit Anfang des 20. Jahrhunderts. All die unzähligen Protagonistinnen und Protagonisten beweisen, wie die oft so standardisierte Disziplin in den vergangenen 100 Jahren immer freier wurde – und wie viele Menschen ihre Erfüllung im Tanz gefunden haben.

Die sechs Teile widmen sich jeweils einem Themenschwerpunkt. Die erste Staffel, bestehend aus drei Folgen, geht von dem Gedanken aus, dass das wichtigste Werkzeug eines Tänzers oder einer Tänzerin der Körper ist. So erzählt die erste Episode die Geschichte des Spitzentanzes, die zweite thematisiert die Nacktheit im Tanz, die auch in der Kunst immer wieder auftaucht. Die dritte widmet sich Schönheitsidealen und deren Überwindung.

Die zweite Staffel dreht sich um Tanztraditionen aus der ganzen Welt. Dabei verbreitet sie die Botschaft von Tänzerin und Choreografin Pina Bausch, wenn diese sagt: "Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren …" Die erste Folge der zweiten Staffel widmet sich dem modernen Solotanz, der aus den Klassenkämpfen des 20. Jahrhunderts entstand. Die zweite Episode räumt mit dem Vorurteil auf, dass es beim Paartanz nur um die Verführung geht. Zuletzt erzählt die Dokumentation die teilweise erschreckende Geschichte der Gruppentänze, die seit jeher von künstlerischen und politischen Strömungen instrumentalisiert wurden.

Beide Staffeln von "Let's Dance" (nicht zu verwechseln mit der RTL-Kostümrevue-Show) verabschieden die Normierung und den Eurozentrismus, von denen Tanzdokumentationen in der Vergangenheit nicht selten heimgesucht wurden. Die erste Staffel kann als Hymne auf verschiedenste Aspekte der menschlichen Diversität gelesen werden. Die zweite Staffel wirft die Frage auf, ob der Tanz womöglich die einzige echte Weltsprache ist. Die überraschend vielfältigen Verbindungen zwischen den Tanzkulturen verschiedener Länder können anders kaum erklärt werden.

"Lets Dance", 6 Folgen, Arte-Mediathek, bis 15. Oktober


Radikale Entspannung mit ASMR

"Autonomous Sensory Meridian Response", kurz ASMR, bezeichnet einen Zustand vollkommener mentaler Entspannung, der von einem leichten Kribbeln im Kopf begleitet werden kann. Ausgelöst durch Geräusche und visuelle Reize beim Betrachten bestimmter Videos entstehen Sinnesreize – sogenannte "Tingles" -,  die mit intensiven Körperreaktionen einhergehen. Dieser physiologische Effekt ermöglicht es, Stress abzubauen oder das Einschlafen zu erleichtern.

Dem Phänomen ASMR hat sich der ungarische Filmemacher Peter Strickland schon mehrfach gewidmet. So auch in seinem avantgardistischen Kurzfilm "Cold Meridian" aus dem Jahr 2020. Als eine Art Voyeur können wir aktiv am Prozess der Entspannungsmethode teilnehmen und erkennen, welche Wirkung die Sequenzen auf die Betrachtenden haben.

Ungarns Schauspiel-Shooting-Star Juli Jakab spricht das Publikum direkt an, während ihr der Kopf shampooniert wird. Diese rhythmischen und ästhetischen Bewegungen werden von sanften Geräuschen begleitetet und hypnotisieren die Zuschauenden, während eine impulsive Tanzperformance die Szenerie immer wieder unterbricht. Der auf 8mm gedrehte Kurzfilm wird mit seinen audiovisuellen Stimulationen zum experimentellen Entspannungsvideo, das die Grenzen von Wahrnehmung und Kontrolle austestet.

Peter Strickland "Cold Meridian", auf Mubi


Die Gedankenwelt des Bruno Latour

Beim Thema Klimaschutz hat die Kunstwelt lange im eskapistischen Dornröschenschlaf gelegen. Aufgeweckt hat sie unter anderem das dunkle Grollen des "Terrestrischen Manifests" (2017) von Bruno Latour. Mit "Critical Zones" im ZKM Karlsruhe und "Down to Earth" im Berliner Gropius Bau hat er 2020 zwei Ausstellungen mitgestaltet, die für ein Umdenken stehen. Latours Ansatz, auch bei der Kunst den Produktionsprozess und die ökologische Legitimation mitzudenken, wird uns zunehmend beschäftigen.

Auch wenn der französischen Philosoph seit den 80er-Jahren Dutzende Bücher veröffentlicht hat, ein Freund von gefilmten Interviews war er nie. Im Herbst 2021 setzte er sich dann aber doch mit dem Journalisten Nicolas Truong ("Le Monde") zusammen, um über einige seine Hauptthesen und -themen zu sprechen. Herausgekommen sind 12 um die 15 Minuten langen Videos zu Schlagworten wie "Das Ende der Moderne", "Die neue Erde" oder "Existenzweisen". Die Schnipsel sind eine gute Einführung in die Gedankenwelt des Ausnahmetheoretikers – und in einen Themenkomplex von Nachhaltigkeit, planetarischer Ordnung und der Gaia-Theorie, die die Kunst gerade umtreibt.

"Gespräche mit Bruno Latour", Arte-Mediathek, bis 16. Dezember 2024


Glamour und Geister mit Kristen Stewart und Hilma af Klint 

Maureen, gespielt von Kristen Stewart, ist in Olivier Assayas' gleichnamigen Spielfilm ein "Personal Shopper" – eine Avatarin für einen Popstar namens Kyra. Maureen gibt sich zu allem, auch zu ihrer Arbeitgeberin, distanziert, klammheimlich schlüpft die Protagonistin aber – verbotenerweise – in Kyras Kleidung, übernachtet und masturbiert in deren Bett. Assayas, der 2016 in Cannes den Regiepreis für seine vielschichtige Erzählung um fragile Identitäten bekam, behandelt Medien in zweifacher Bedeutung. Während die zeitgenössische Pop- und Celebrity-Kultur die Story rahmt, sind menschliche Medien im Sinn von Empfängern jenseitiger Botschaften zentral für den Film.

Teil einer Kulturgeschichte des Geistersehens, die parallel zur Handlung aufgerollt wird, ist die zu postumer Berühmtheit gelangte schwedische Künstlerin Hilma af Klint (1862–1944), die davon überzeugt war, Stimmen aus dem Jenseits hätten ihre abstrakten Zeichnungen und Gemälde in Auftrag gegeben. Maureen glaubt, selbst ein Medium zu sein. Ihr Zwillingsbruder starb vor Kurzem an einem Herzfehler; die Geschwister hatten sich versprochen, im Todesfall einander "ein Zeichen" zu übermitteln. Leben wirklich Geister unter uns Lebenden? Auch Maureen ist gewissermaßen ein Gespenst – als Mittzwanzigerin im saturierten Westen steht ihr die Welt offen, doch sie wirkt orientierungslos. "Personal Shopper" ist nicht zuletzt das schillernde Porträt einer Generation.

"Personal Shopper", auf Mubi