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8 Kunst-Filme, die Sie im Juli nicht verpassen sollten

Filmstill aus "Helvetica" (Regie: Gary Hustwit)
Filmstill: © Gary Hustwit / Swiss Dots / Veer

Die Schriftart, die Menschen in Fans und Hasser aufteilt: Filmstill aus "Helvetica" (Regie: Gary Hustwit)

Die Filme im Juli tauchen ab: In die Klangwelt einer Stadt, ins Unterbewusstsein, in die Unterwelt und in den endlosen Streit um eine bekannte Schriftart



Mit Fassbinder auf den Alexanderplatz

Berlin 1928. Franz Biberkopf hat wegen Totschlags an seiner Freundin gesessen. Jetzt wird er aus der Strafanstalt entlassen und will ein ehrliches Leben beginnen. Wie dieser Plan gründlich schiefgeht, erzählt Rainer Werner Fassbinder in seiner 14-teiligen Fernsehserie nach dem gleichnamigen Roman "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin. Trotz der erstklassigen Besetzung mit Günter Lamprecht als Franz und Barbara Sukowa, Hanna Schygulla, Brigitte Mira oder Gottfried John in weiteren Rollen wurde Fassbinders kühne Adaption zur Erstausstrahlung 1980 eher negativ beurteilt. Nach einer aufwendigen Restaurierung des Materials und einer Neuedition 2007 hat sich die Sicht auf Fassbinders bildgewaltige Vision von Stadt und Menschen geändert. "Berlin Alexanderplatz" ist ein faszinierender Trip in die Zwischenkriegszeit. Während Burhan Qurbanis vielgelobte Neuadaption des Stoffes als Flüchtlingsdrama im Juli in die Kinos kommt, zeigt Arte die 14 Fassbinder-Episoden in der Mediathek.

"Berlin Alexanderplatz", Arte Mediathek, bis 7. August


Mit Kunst übers Klima reden

Bevor die Corona-Pandemie so gut wie alle anderen Themen aus dem öffentlichen Diskurs gefegt hat, hat der Kunstbetrieb über einer anderen globale Krise gebrütet: dem Klimawandel. Umweltschutz, Nachhaltigkeit und Wertschätzung der Schöpfung sind als Themen schon lange in der Kunst vertreten, gleichzeitig ist der Kulturzirkus mit seinem Jetset-Personal, den reisenden Kunstwerken und riesigem Materialverbrauch nicht gerade klimaneutral. Die Dokumentation "Kunst und Klimawandel" beleuchtet diese Widersprüche und lässt Akteure aus dem Kunstbetrieb zu Wort kommen, die die Branche nachhaltiger machen wollen. Mit dabei sind Julius von Bismarck, Julian Charrière, Rugilè Bardziukaitè, Lina Lapelytè, Harald Welzer, Jonathan Safran Foer, Tino Sehgal, Jérôme Bel, Andreas Greiner, André Schlechtriem und Frédéric Schwilden. Inzwischen wird deutlich, dass die Corona- und die Klimakrise keine Konkurrenten um Aufmerksamkeit sind. Sie stellen beide dieselben Fragen: Wie können wir zusammenleben und wie behandeln wir die vorhandenen Ressourcen, um niemanden zurückzulassen?

"Kunst und Klimawandel", 3-Sat-Mediathek, bis Juni 2021

Rugilè Bardziukaitè und Lina Lapelytè haben bei der Biennale von Venedig 2019 den Goldenen Löwen mit einer Klimaschutz-Oper gewonnen
Foto: Courtesy ZDF und Ingo Brunner/Production GmbH

Rugilè Bardziukaitè und Lina Lapelytè haben bei der Biennale von Venedig 2019 den Goldenen Löwen mit einer Klimaschutz-Oper gewonnen


Mit Dion McGregor ins Unbewusste

Dion McGregor war ein New Yorker Songwriter, der jedoch vor allem mit seinen Schlaf-Monologen berühmt wurde. Des nachts sagte er surreal-poetische Verse auf, die sein Mitbewohner auf Band aufnahm. 30 Stunden assoziatives Sprechen wurden so in den 70er-Jahren für die Nachwelt festgehalten. McGregor war neurotisch und fasziniert von Gewalt, aber auch hin- und hergerissen zwischen Homosexualität und einer Faszination für Frauen. Die Filmemacher Verena Paravel und Lucien Castaing-Taylor haben aus den Monologen eine traumartige Collage geschnitten, die schon auf der Documenta 14 zu sehen war. Unterlegt sind McGregors Worte mit Bildern von nackten, ungeschützten Körpern in völliger Entspannung. Zum Anschauen muss man versichern, dass man 18 ist.

"Die skurrile Schlafwelt des Dion McGregor", Arte-Mediathek, bis 4. Juli

"Somniloquies" von Véréna Paravel and Lucien Castaing-Taylor (Film Still)
Foto: Véréna Paravel and Lucien Castaing-Taylor

"Somniloquies" von Véréna Paravel and Lucien Castaing-Taylor (Film Still)


Mit King Vidor in die Mittelmäßigkeit der Masse

Die Retrospektive der diesjährigen Berlinale war dem Hollywoodregisseur King Vidor gewidmet, dessen Karriere von der Stummfilmzeit bis zum Ende des Studiosystems reichte. Vidors Filme zeigten eine stilistisch wie thematisch immense Bandbreite. Auf dem Berlinale-Programm stand mit "Hallelujah" (1929) sein erster Tonfilm – zugleich der erste Hollywoodfilm mit ausschließlich schwarzen Darstellern –, und mit "Ein Mensch der Masse" ("The Crowd", 1928) wurde einer seiner letzten Stummfilme gezeigt.

In der Arte-Mediathek kann das sozialkritische Drama um einen New Yorker Jedermann, dessen amerikanischer Traum nicht erfüllt wird, noch bis zum 17. Oktober abgerufen werden. "Ein Mensch der Masse", das ist John Sims (James Murray), der schon als kleiner Junge glaubt, dass ihm einmal die Welt zu Füßen liegen wird. Als Erwachsener reiht er sich in die Angestelltenschar eines Versicherungsunternehmens ein, größerer Erfolg und Wohlstand bleiben ihm aber verwehrt, weil es ihm in der darwinistisch funktionierenden Gesellschaft an Killerinstinkt mangelt. Bei einem Ausflug nach Coney Island lernt er Mary (Eleanor Boardman) kennen, die er heiratet, das Paar bekommt zwei Kinder. Johns latentes Minderwertigkeitsgefühl steigert sich zur Depression, als eins seiner beiden Kinder bei einem Unfall stirbt. Immer wieder zieht Vidor die Kamera in die Distanz der Totalen zurück, um die Gleichförmigkeit und Anonymität der Menge zu zeigen. Mit großer Empathie und Wärme widmet er sich der exemplarischen Mittelstandsfamilie, die im Zentrum eines der bedeutenden Spätwerke der Stummfilm-Ära steht.

"Ein Mensch der Masse", Arte-Mediathek, bis 17. Oktober 

James Murray, Eleanor Boardman, Estelle Clark und Bert Roach in King's "Ein Mensch der Masse", 1928
Foto: © Turner Entertainment Co.

James Murray, Eleanor Boardman, Estelle Clark und Bert Roach in King's "Ein Mensch der Masse", 1928


Mit "Helvetica" über die Welt nachdenken

Früher wusste niemand, was den Beruf des Typographen ausmacht - heute haben Menschen Lieblingsschriftarten. Aber kaum eine Schriftart wird so ambivalent rezipiert wie: "Helvetica". Von den einen verehrt als Perfektion der Moderne, von anderen verpönt als die Pest des Alltags. Selbst Menschen, die keine tiefergehende Verbindung zur Schriftgestaltung haben, werden bei dem Dokumentationsfilm "Helvetica" erstaunt sein, wie oft die serifenlose Schweizer Schriftart, die auch "Neue Haas Grotesk" genannt wird, Alltagsbotschaften von Werbetafeln, Häuserfassaden und U-Bahn-Schildern aussendet. Unter der Regie von Gary Hustwit kommen Zeitzeugen der Entstehung und einige der renommiertesten Gestalter und Designer zu Wort; unter ihnen auch Erik Spiekermann, Stefan Sagmeister und Wim Crouwel.

Egal ob Typo-Freak oder (noch) nicht: Die flammenden Fürsprachen der Fans sowie die Aufregungen der Helvetica-Hasser lassen einen Begeisterungsfunken auf jedes Publikum überspringen. Design und Gestaltung haben in jedem Bereich des Alltags Einzug gehalten. In einer derart aufmerksamkeitsökonomischen Gesellschaft benötigen besonders schriftbezogene Informationen eine entsprechenden Form und Präsentation, um im Rauschzustand der Bewegtbild-Fluten überhaupt wahrgenommen zu werden. Nach dieser Doku lässt es sich gar nicht vermeiden, Helvetica-Typographien beim nächsten Stadtspaziergang zu zählen.

"Helvetica", gebührenpflichtig bei Vimeo on Demand



Mit dem Vater auf Entdeckungsreise 

Er sei ein ganz normaler Typ, sagt der Vater des Regisseurs Alan Berliner. Er wisse gar nicht, wie man aus seinem Leben einen Film machen soll. Und warum genau er auf einem alten Foto auf einer Bühne offenbar singend vor einem Mikrofon steht, will er auch nicht verraten. Die Dokumentation "Nobody's Business" nähert sich einer Biografie und einer Zeit über die Verweigerung des Besondersseins. In einem mit Fotos unterlegten Zwiegespräch lässt sich Alan Berliner von seinem (widerwilligen) Vater Oscar von dessen Leben erzählen. Gerade das macht den Film so intensiv. Dass sich Stück für Stück und eher unabsichtlich das Panorama einer Existenz entfaltet.

"Nobody's Business", Arte-Mediathek, bis 27. August


Mit Nevin Aladağ durch die musikalische Stadt

Ein Tambourin wird über die Meeresoberfläche gezogen, ein paar Tauben zupfen an einer auf dem Asphalt liegenden Saz, einem Saiteninstrument. So wird Istanbul von Künstlerin Nevin Aladağ hör- und erlebbar gemacht. In "City Language I" verschwimmen die Grenzen zwischen urbanen Alltagsgeräuschen und Musik im Zusammenspiel von vier türkischen Instrumenten. So entstehen Klangwelten, die gemeinsam auf poetische Art den Charakter der Stadt wiederspiegeln. Auch "City Language II" zeigt ein lebhaftes, wenn auch etwas subtileres Porträt der Stadt zwischen Tradition und Moderne. Hier zieht Istanbul, aufgenommen auf einer Motorradfahrt, unscharf an den Betrachtern vorbei; allein im Rückspiegel sind die Gebäudekomplexe des konservativen Stadtteils Fatih auszumachen. Die beiden Videos von Nevin Aladağ gibt es nun als Stream auf der Website der Berlinischen Galerie zu sehen.

"Nevin Aladağ: City Language", Virtueller Videoraum der Berlinischen Galerie



Mit Jordan Wolfson ins Reich des Grotesken

Was sieht Jordan Wolfson, wenn er in den Spiegel blickt? Auf einem Foto streckt der Künstler in Boxershorts seinem Spiegelbild den Zeigefinger entgegen, auf einem anderen zieht er sich eine transparente Gesichtsmaske ab. Wie in der Eröffnungssequenz von "American Psycho", als Patrick Bateman am Ende seiner Morgenroutine die Peeling-Maske langsam ablöst und sagt: "Ich bin ganz einfach nicht da," und man erwartet darunter noch eine Maske, danach noch eine und immer so weiter.

Diese Szenen sind im Film "Spit Earth: Who Is Jordan Wolfson?" gegenübergestellt. James Crumps Porträt hat einen ehrgeizigen Künstler in der Hauptrolle, seine Ex-Freundin, seine Tante, Kritiker, Kuratoren, Freunde und Feinde übernehmen die Nebenrollen. Mittlerweile hat Wolfson sein Einverständnis zu dem Film widerrufen. Laut dem Magazin "Artnet" haben auch Interviewpartner Zitate zurückgenommen. Trotz der Kontroverse ist der Dokumentarfilm nun im Stream verfügbar.

Und, wer ist nun Jordan Wolfson? Der Künstler, 1980 in New York wurde anfangs in die Generation der Post-Internet-Künstler eingeordnet, vielleicht, weil er sein Material oft in digitalen Bildwelten findet. Später kommen Archetypen aus dem popkulturellen Archiv Nordamerikas hinzu. Huckleberry Finn, Chucky, die Mörderpuppe oder Alfred E. Neuman überblendet er zu aufgedrehten Cartoonfiguren, die durch die Videos tanzen, unterlegt mit Popmusik. Seine narzisstischen Trickster sind Meister der Verwandlung und Maskierung, und sie haben Lust auf Gewalt und Grenzüberschreitung.

"Spit Earth: Who Is Jordan Wolfson?", bei Vimeo on Demand

Jordan Wolfson in "Spit Earth: Who Is Jordan Wolfson?"
Foto: Summitridge Pictures

Jordan Wolfson in "Spit Earth: Who Is Jordan Wolfson?"