Zum Tod von Genesis P-Orridge

Körper als Waffe

Genesis P-Orridge war eine der einflussreichsten und kontroverstesten Figuren der jüngeren Kunstgeschichte, ihre Werke zerbarsten vor Krach und Körperflüssigkeiten. Nun ist sie im Alter von 70 Jahren verstorben

Wer in den vergangenen Tagen durch die sozialen Netzwerke scrollte, erkannte schnell, wie mannigfaltig Genesis P-Orridges Einfluss auf eine junge Generation queerer Kulturschaffender war. Von der Balenciaga-Stylistin Lotta Volkova bis hin zur nonbinären Experimentalmusikerin Arca posteten Grenzgängerinnen jeglicher Disziplin Fotos der Künstlerin. "Danke für die Bildung", schrieb Musikerin und HIV-Aktivistin Mykki Blanco in einer Instagram-Story, Performancekünstlerin Donna Huanca dankte in einem Post für "endlose Inspiration."

P-Orridge war eine der kontroversesten Figuren der jüngeren Kunstgeschichte, aber zweifelsohne auch eine der einflussreichsten. Jahre vor Paul B. Preciados Testosteron-Selbstversuchen machte sie/er ihren Körper zur Waffe im Kampf gegen binäre Geschlechtsidentitäten und erklärte das Modulieren der eigenen Geschlechtsmerkmale zur Kunst, musikalisch sprengte sie/er Genregrenzen und legte den Grundstein für Genres von Witch House über Art Pop bis hin zu Deconstructed Club.

Genesis P-Orridge wurde 1950 als Neil Andrew Megson in Manchester geboren. In seiner Studienzeit als Teil des Kollektivs COUM Transmissions zeigte sie/er inspiriert von der Fluxus-Bewegung und zeitgleich mit den Wiener Aktionisten in Blut, Sperma und Erbrochenem getränkte Performances. 1976 löste die COUM-Ausstellung "Prostitution" im Londoner Institute for Contemporary Art (ICA) eine Debatte über die Verteilung von Kulturgeldern im britischen Unterhaus aus.

Zu sehen waren Performance-Memorabilia wie Maden, rostiger Nadeln und blutige Tampons, das Wachpersonal wurde durch Transvestiten ersetzt und alle an der Ausstellung beteiligten Personen als Zeichen für die Normalisierung von Sexarbeit als käuflich deklariert. Parlamentsabgeordnete bezeichneten COUM als "Wreckers of Civilization", ein Ausdruck, der alsbald von den Medien und schlussendlich auch von dem Kollektiv als Selbstbezeichnung übernommen wurde.

Geburtsstunde der Industrial-Musik

Neben diversen anderen Bands trat bei der Eröffnung von "Prostitution" erstmals auch die Gruppe Throbbing Gristle auf, der neben den COUM-Gründungsmitgliedern Cosey Fanni Tutti und P-Orridge auch Peter Christopherson und Chris Carter angehörten. Zu ihren großartigsten Werken zählte das dritte Studioalbum "20 Jazz Funk Greats": Die Band kombinierte Funk-Beats mit Noise-Kulissen und zeigten mittendrin mit "Hot on the Heels of Love" nur so zum Spaß, dass sie auch einen makellosen Disco-Hit produzieren kann.

Ihre aggressiven, sonderbaren und bahnbrechenden Soundcollagen waren ihrer Zeit um Jahre voraus, und so veröffentlichte die Band ihre Alben unter ihrem selbstgegründeten Label Industrial Records, das namensgebend wurde für jenes vollkommen neue, dem Post-Punk abtrünniges Genre elektronischer Musik das Throbbing Gristle Ende der 70er-Jahre erfand. 

So künstlerisch produktiv die Beziehung zwischen Genesis P-Orridge und Cosey Fanni Tutti gewesen sein mag, so toxisch war sie offenbar ebenfalls: In ihrer Autobiografie "Art Sex Music" beschreibt sie ihren ehemaligen Partner als ausbeuterisch und manipulativ und bezichtigt ihn unter anderem, sie aus Eifersucht gewürgt, mit einem Messer verfolgt und mit einem Schalstein beworfen zu haben – Anschuldigungen, die P-Orridge stets dementierte und die in späteren medialen Berichterstattungen häufig unter den Teppich gekehrt wurden.

Missbrauchsvorwürfe gegen kulturelle Ikonoklasten bleiben gerade in der Nachbetrachtung der der zügellosen 70er-Jahre allzu häufig unbeachtet, ganz so, als könnten sie durch die Transgressorrolle des Beschuldigten wegerklärt werden. Doch was die Musikerin Lottie Brazier 2018 im "Guardian" schrieb, gilt auch noch nach P-Orridges Tod: "Fanni Tuttis Anschuldigungen sind nun Teil ihres Erbes – und mit einer derart ungebärdigen Persönlichkeit würde wohl auch P-Orridge selbst eine einfache, rein huldigende Darstellung ihres Lebens ablehnen. Die Geschichten unserer Künstlerinnen und Künstler müssen ehrlich und manchmal sogar schmerzhaft geschrieben werden."

Radikale Annäherung

Ab den 80er-Jahren wandte sich P-Orridge mit seiner Band Psychic TV und dem irgendwo zwischen Fanclub und Kult angesiedelten "Temple ov Psychick Youth" dem Okkultismus zu. Die Band fluktuierte zwischen Genres wie psychedelischem Rock und Acid House und blieb P-Orridges amoralischer Schock-Ästhetik weiterhin treu. Mitte der 90er-Jahre lernte P-Orrdige die Domina Lady Jaye kennen, mit der er das "Pandrogeny Project” startete. Das Paar begann auf radikalem Wege, sein Aussehen aneinander anzugleichen, P-Orridge nahm fortan das Pronomen s/he an, ließ sich Brustimplantate einsetzen und unterzog sich gemeinsam mit Jaye zahlreicher Gesichtsoperationen. "Wir suchten nach einer physischen Einheit, die unserem Begehren entsprach, einander zu konsumieren, voneinander absorbiert zu werden und einen neuen, modernen Daseinszustand zu erreichen, der jegliches Entweder-Oder entkräftet", erklärte P-Orridge das Projekt viele Jahre später auf Instagram.

Lady Jayes Tod im Jahr 2007 traf sie/ihn tief. Um ihre Zugehörigkeit zu einer durch den Tod entzweiten Entität zu signalisieren, sprach sie/er von sich selbst fortan als "We".

2017 wurde bei P-Orridge Leukämie diagnostiziert. Bis zuletzt teilte sie/er in den sozialen Netzwerken ihren/seinen Kampf gegen die Krankheit und zeigte Kämpfergeist und Humor. Am Samstagmorgen erlag sie/er in New York ihrer/seiner Krankheit. "Lustvolle, sensuelle, stimulierende und gefährliche Leben führen," sagte P-Orridge einmal, "es gibt keinen anderen Grund, hier zu sein." Man darf sich sicher sein, dass sie/er ihre Leben rückblickend als erfüllte angesehen haben.