Alexander Kluge über den Ukraine-Konflikt

"Der Krieg stellt der Kunst eine Aufgabe"

Russische Panzer in der Rasputiz
Courtesy Alexander Kluge

Russische Panzer in der Rasputiza: Zwei Mal im Jahr gibt es wochenlang in der Ukraine die Schlammperiode, die Rasputiza. Abseits der Straße versinken die Panzer im Matsch

Muss die Kunst angesicht des Kriegsschreckens schweigen? Im Gegenteil, jetzt ist sie gefordert wie nie, sagt der Autor und Filmemacher Alexander Kluge. Ein Gespräch über Kulturboykotte, Nachrichtenbilder und die Möglichkeit von Frieden

Herr Kluge, in Ihren Büchern weisen Sie immer wieder darauf hin, dass die Wirkung von Ereignissen oft mit jahrzehntelanger Verspätung in den Gefühlen ankommt. Sehen wir jetzt in der Entscheidung Wladimir Putins, die Ukraine anzugreifen, eine Wirkung des Zusammenbruchs der Sowjetunion?

Davon bin ich überzeugt. Es ist das Versailles-Syndrom, wie 1918, als bei vielen Deutschen eine unverarbeitete Demütigung da war. Es gibt gerade bei denjenigen, die in Apparaten eine Planstelle besetzen, eine Art Hautgefühl, wenn Landesgrenzen und Zuständigkeiten variiert werden. Bürokratien, im Militär, in den Geheimdiensten, sind wie virtuelle Tiere. Russland ist so weitläufig, dass es nie eine Republik werden konnte. Die Menschen leben schlicht zu weit voneinander entfernt. Deshalb hat es immer eine Zentralverwaltung gegeben. Leute, die dort in Planstellen sitzen, in Archiven, im Auswärtigen Amt, im Militär, haben 1991 ein Gefühl der Demütigung erlebt.

Sie legen in Ihrem Buch "Russland-Kontainer" von 2020 dem US-Außenminister James Baker eine gespenstische Prophezeiung in den Mund: "Man werde in den USA das Jahr 1991 vergessen haben, wenn die Saat der Racheschwüre des heutigen Tages ans Licht trete."

"Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor!" – "Rächer, erstehe du mir einst aus meinen Gebeinen!", das sollen die schlesischen Herzöge gesagt haben, als sie ihr Land erst an Österreich und später an Preußen verloren. Das sind Gefühle, die ein normaler Mensch nicht hat. Das ist eine abstrakte Ebene. Da müssen erst wie Landgüter große Hierarchien entstehen, Beamte ernähren sich auf deren Planstellen, einigen sich auf einen Anführer wie Putin und sind dann empfindlich für etwas, das sie als Bedrohung ihrer Landesgrenzen ansehen. Aus meiner Erfahrung als 13-Jähriger im "Frühling mit weißen Fahnen" 1945, kann ich Ihnen sagen, dass die realen Menschen so nicht empfinden. Ob Danzig zu Deutschland gehört, war mir gleich, dass die Amerikaner auf das Hissen weißer Fahnen reagierten, war mir ein Glück.

Hat Sie der Überfall auf die Ukraine also gar nicht so sehr überrascht, weil alles so einen langen Vorlauf hat?

Doch, ich habe diesen Angriff nicht für möglich gehalten. Dass eine atombewaffnete Veto-Macht einen Krieg eröffnet, ist in unserer Welt doppelt unmöglich und verboten. Den 24. Februar werde ich nicht vergessen. Meine Frau betritt mein Zimmer und sagt: "Putin hat die Ukraine angegriffen!" Das war wie der Schock am 11.9. in New York. Aber die reale Aktualität geht über diesen Tag hinaus. Die Wirklichkeit geht auf 1991 zurück, wie Sie sagen. Aber auch auf 1945 und 1939. Solche weitergefasste Aktualität ist Gegenstand der Kunst und der Literatur.

Wie kommen wir jetzt aus dieser Situation?

Wir brauchen Bausteine für eine Sicherheitsarchitektur. Die ist ebenso komplex wie der Krieg. Die russische Seite befindet sich im Moment in einer schwachen Position. Sie braucht eine Sicherheitsstruktur in Europa. Davon hat sie sich aber entschieden entfernt. Allerdings hat auch vorher niemand Russland zugehört. Der Westen hat ein großes Maß an Gleichgültigkeit gezeigt für die Fragen, die aus Russland kamen. Und die ukrainische Seite hat die Chance des Minsker Abkommens sabotiert. Die ukrainische Seite ist gegenüber der Großmacht nicht stark, sie leidet. So gibt es, weil beide Seiten schwach sind, eigentlich eine gute Verhandlungsgrundlage. Wir im Westen ermutigen aber die ukrainische Seite, auch durch theatralische Auftritte, also eine künstlerische Darbietung in der Mitte von Parlamenten, sich stark zu fühlen, ohne dass dies mehr als eine rhetorische Stärke sein kann. Es gibt das Wort "abgerutscht". Man müsste es ergänzen um das Wort "aufgerutscht". Wir sind aufgerutscht auf eine abgehobene Ebene der Wertedebatte. Ich kann kaum beschreiben, wie abstrakt diese Ebene sich anhört, wenn auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Formeln der Bündnisverträge des Westens gebetsmühlenartig wiederholt werden. Aus diesem Grundbuchamt der Verträge kommt doch gerade das, was Russland als Aggression empfindet, und sollte das ein Irrtum sein, könnten wir es durch Reden nicht ändern. Dies ist das Patt in der Verständigung, die Ausweglosigkeit. Bei Clausewitz heißt es: Der Krieg ist ein Akt der Gewalt, um den Willen eines anderen zu brechen. Als Reaktion darauf wird dieser Gegner seinerseits versuchen, den Willen seines Angreifers zu brechen. An diesem Punkt ist es gleich, wer Angreifer oder Verteidiger ist, denn der Gegner wird widerum seine Kräfte steigern, um den Willen des Gegners zu brechen. So, heißt es bei Clausewitz, "träumt der Krieg von seiner absoluten Gewalt". Das verschlimmert sich, wenn auf Panzer mit Sanktionen und auf Sanktionen mit Panzern geantwortet wird. Die Elemente des asymmetrischen Kriegs antworten nicht aufeinander. Die Herausforderung an die Kunst liegt darin, robustes Unterscheidungsvermögen, also Konkretion wiederherzustellen.

Wie geht das?

Auf keinen Fall mit durch Bekenntnisse und Zeichensetzungen, die Öl ins Feuer gießen. Wenn wir einen Dirigenten feuern, Anna Netrebko außer Dienst stellen, ist das so schlafwandlerisch, wie die Kriegshetze aller Seiten von 1914. Ganz anders die Bilder von Goya. Sie stellen die Abstraktion des Kriegs vor Augen. Die Grafiken von "Desastres de la Guerra" zeigen, wie des Nachts Partisanen westfälische Grenadiere Napoleons massakrieren. Tags erschießen und verstümmeln französisch geführte Grenadiere Partisanen oder deren Angehörige. Die Franzosen kommen nach Spanien und verkünden die Freiheiten der Französischen Revolution, die "Werte des Westens". Spanische Großgrundbesitzer knechten seit Jahrhunderten die Bauern. Die Franzosen glauben, dass ihre Freiheitsrechte diese Großgrundbesitzer enteignen. Die Bauern aber sind der Meinung: Wir verteidigen das alte Spanien. Der politische Beobachter Carl Schmitt weist darauf hin, dass Partisanen hier von ganz rechts kämpfen. Goyas Bilder durchbrechen alle gängige Anschauung. Sie machen anschaulich, was es heißt, wenn Geschichte abstrakt und monströs wirkt.

Francisco de Goya "Desastres de la guerra", Blatt 3

Francisco de Goya "Desastres de la guerra", Blatt 3

Abstrakt ist doch, wenn ich als Bauer Spaniens mein Leben und das meiner Dörfer opfere, um Regierungsverhältnisse und Grenzen Spaniens gegen Frankreich zu verteidigen und dabei auf westfälische Grenadiere treffe, die keinen Grund haben, dort ihr Leben zu lassen. Dass solche verbeulte Dialektik "unwirklich" und "monströs" ist und durchbrochen gehört, das kann nur die Kunst ausdrücken. Die Bulletins feindlicher Parteien tun das nicht und könnten es auch nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen, die in der Ukraine fliehen oder getötet werden, in ihren Köpfen die Vorstellung haben, sie müssten dafür kämpfen, dass dort, östlich von Charkow, wo 1942 Hitlers Wehrmacht stand, eine NATO-Grenze und somit Einsatztruppen und Raketen eines Bündnisses stehen, das Russland, gleich ob irrig oder zutreffend, für feindselig oder seinen Interessen gegenüber gleichgültig empfindet. Die abstrakte Formel vom Beitritt zur NATO bedeutet ja zunächst auch Rückeroberung der Krim und der beiden Republiken am Don. Die Not der Menschen, die dem unverantwortlichen Angriff ausgesetzt sind, verhält sich dazu absolut konkreter. Auch die Interessen, sich zu retten, sind konkreter. Die Kunst und die Poetik sind nicht wehrlos, sie sind nur nicht zu gebrauchen zu Kriegs- und rhetorischen Zwecken.

Nennen Sie doch bitte noch ein Beispiel dafür, wie Kunst "verbeulte Dialektik" durchbricht.

Anselm Kiefer hat jetzt aus Anlass der Verlegung des Leichnams des Romanautors Maurice Genevoix ins Pantheon monumentale Ölgemälde und ein paar hinreißende Vitrinen geschaffen. Sie sind auf Anordnung von Macron in diesem Tempel der Unsterblichen auf Dauer aufgestellt. Genevoix hat über 1914 geschrieben, man könnte ihn als französischen Ernst Jünger bezeichnen. Durch Kiefers Kunst nun wird bis heute unverarbeitete Erfahrung, nämlich der Erste Weltkrieg, noch einmal von einer ganz anderen Seite aufgerührt. Nicht von der Frage: Wer war schuld? Sondern von der Erfahrung: Wie entgleist eine Zivilisation 1914? Kiefer stellt den Dichter Paul Celan, der die bittere Erfahrung des Holocaust in dem Teil Süd-Ost-Europas, zu dem die West-Ukraine gehört, in diesen Zusammenhang. Die Raumperspektive beherrscht die bildende Kunst seit der Renaissance. Aber für die Moderne und für die Antwort auf unsere heutige Welt viel entscheidenderen Zeitperspektiven kann ebenfalls nur die Kunst mit ihrer auratischen Autorität herstellen. Die Zeitperspektive beherrscht die Kunst noch wenig.

Als permanente Installation schuf Anselm Kiefer sechs Vitrinen für den Pariser Panthéon. Neben den Vitrinen waren temporär seine monumentalen Arbeiten "La voie sacrée" und "Ceux de 14 - l'Armée noire - Celles de 14" ausgestellt
Foto: Georges Poncet, © Anselm Kiefer. Courtesy Galerie Thaddaeus Ropac | London • Paris • Salzburg • Seoul.

Als permanente Installation schuf Anselm Kiefer sechs Vitrinen für den Pariser Panthéon. Neben den Vitrinen waren temporär seine monumentalen Arbeiten "La voie sacrée" und "Ceux de 14 - l'Armée noire - Celles de 14" ausgestellt

Wer beherrscht die Zeitperspektive noch?

Katharina Grosse hat eine Scherenkranbühne, ein modernes industrielles Produkt, mit Tüchern behängt, die sind so gefaltet, dass sich jedes Bild ändert, wenn man darauf Film projiziert. Ich habe ein Fragment von Medea in Stein, 2000 Jahre alt, darauf projiziert. Die Verbindung der Medea mit einem Objekt, das offenkundig aus dem Jahr 2022 kommt, enthält eine Zeitperspektive. Die auratische Struktur beruht auf dem, was die Künste gemeinsam in den Jahrhunderten erarbeitet haben.

Von Dürer bis Grosse haben die Künstlerinnen und Künstler geschuftet und einen Kredit geschaffen wie ein Bankhaus, nur dass das ein spiritueller Kredit ist. Verknüpfen wir ihn mit einer konkreten Zeiterfahrung, entsteht ein übergreifender Begriff von Aktualität. So wie Gerhard Richter aus einem Zeitungsbild, das in der folgenden Woche schon vergessen worden wäre, seine "Acht Lernschwestern" machte. Sie lösen das Ereignis aus der Vergesslichkeit der Medien und führen es in das dauerhafte Gedächtnis der Kunst. Solche und andere Transpositionen sind Aufgabe der Moderne in der Kunst.

Sie halten offenbar wenig von Kultursanktionen gegen Russland oder von gestrichenen Engagements russischer Künstlerinnen und Künstler.

Gar nichts! Der Dämon Krieg ist eine Herausforderung, dass wir unser Unterscheidungsvermögen, unsere Phantasie und unsere Urteilsfähigkeit schärfen. Immanuel Kant sagt in dem schwierigsten Kapitel der "Kritik der reinen Vernunft", dem sogenannten Schematismus-Kapitel: Es gibt zwei Stämme der Erkenntnis. Das eine ist die Anschauung und die Sinnlichkeit, das andere ist der Verstand oder der Begriff. Anschauung ohne Begriff ist blind. Begriff ohne Anschauung ist leer. Die beiden Stämme finden von sich aus nicht zusammen. Es braucht ein Drittes: die Einbildungskraft. Und die nennt er das Schema. Er verwendet das Wort Schema hier entgegengesetzt zum heutigen Wortgebrauch. Er nimmt es im Sinne des antik-griechischen Wortes, da heißt es Gestalt, Form, Tanzschritt. "Der Tanzschritt des Geistes". Und dieser Tanzschritt des Geistes namens Einbildungskraft verbindet eben den Verstand, der zu Abstraktion neigt, mit der Konkretion, die unsere Sinne und unsere Emotion bewegt. Es braucht viel Verstand und viele Generationen, um ein smartes Raketengeschoss zu erzeugen. Niemand der Menschen, die ein Fragment ihrer Lebenszeit für dieses Produkt beigesteuert haben, hat darüber mitbestimmt, wohin es geschossen wird. Das ist abstrakt. Und die Leute unter dem Bombenteppich, die getroffen werden und deren Haut zerfetzt wird, das ist die Konkretion. Das gilt es auch dann zu unterscheiden, wenn die feindlichen Parteien jeder nur noch im Monolog reden. Die Kunst kann mit dem Möglichkeitsraum anders umgehen als die Politik und die Menschen in ihrer Lebenswelt. Die Künste beherrschen den Konjunktiv, das Futur II, den Optativ im Altgriechischen, das Konjugieren der Wünsche. Vor allem verstehen sie sich auf das "Probehandeln im Geiste". Neben die Realität treten und entdecken: Da liegt ja erst das Wirkliche, da liegt der Zusammenhang, da liegen die Notausgänge. Wird die Wirklichkeit irre, gibt es gleich neben ihr Bodenhaftung. Die Künstler sind die Entdecker der Wirklichkeit. Sie sind Ausgräber.

Wieso nicht die Massenmedien oder sozialen Medien?

Die Tagesschau-Sprecherin kann nicht anfangen zu singen und deshalb Teile des Seelenlebens nicht ausdrücken. Die Medien sind kühl. Für das Entdecken der Heterotopie, der Sachlichkeit – die ist nichts anderes als die andere Seite der Empathie –, braucht man aber viele emotionale Gründe. Das ist nichts Kühles. Über das schiere Unglück kann ich am besten außerhalb des Unglücks nachdenken. Das ist es, was im Tempel der Ernsthaftigkeit, im Opernhaus und im Theater, verhandelt wird. Das Theater zeigt den Bürgerkrieg des Seelenlebens in seiner Reinform. Das ist möglich, weil dort Othello Desdemona nicht wirklich tötet, sie steht hinterher wieder auf. Dadurch, dass die Wirklichkeit im Theater und der Oper aufgehoben ist, kann man etwas ausdrücken, was man im Geschäftsleben oder im Bundeskabinett oder der Tagesschau nicht ausleben kann.

Und die bildende Kunst?

Gerhard Richter stellt den Krieg dar durch ein leeres Blatt. Auf dem Bild "Umgeschlagenes Blatt" von 1965 ist nichts geschrieben. Aber es ist umgeknickt am Rand, so dass man sieht, man könnte darauf schreiben. Es hat Tiefe. Und dieser Block erinnert an den Wunderblock von Sigmund Freud. Freud fragt sich 1914 in "Zeitgemäßes über Krieg und Tod", warum es bei etwas so Schrecklichem wie den Kriegsausbruch auf allen Seiten Euphorie gibt. Seine Antwort: Es liegt an der Hochstapelei der Zivilisation. Im Grunde lebt in uns ja eine Grundströmung, die ist weder gut noch böse. Sie hängt zusammen mit der evolutionären Ausstattung, die wir als Menschen-Tiere haben. Jürgen Habermas spricht von dem steilen Unterschied zwischen den Präambeln der Verfassung und der Wirklichkeit. Zwischen den Verhältnissen in Afrika und unserer Verfassung in Europa gibt es solchen steilen Unterschied, sichtbar durch die Menschen, die Mittelmeer ertrinken. Was liegt am Grunde dieses steilen Abhangs? Dort fließt das Grundwasser: das, was wir wirklich sind, bevor wir uns zu Moralität erzogen und dabei zivilisatorisch übernommen haben. Das ursprüngliche Grundwasser tragen wir in uns so wie Zellen und Bauch, Darm, Zwerchfell und Haut. Es rauscht im Unbewussten nach der alten Struktur, die die Moralität nicht kennt. Die Lust weiß nicht, was gut und böse ist. Und weil wir in Wien, Berlin, Paris und London 1914 auf hohem Niveau, ja zu hohem Niveau lebten, waren unsere Voreltern erleichtert, wenn es den Krieg gibt, in dem Hass plötzlich erlaubt ist, die unteren Kräfte sich frei äußern können. Das ist der Grund, sagt Freud, für die Kriegseuphorie der Schlafwandler und Dichter und Abitursjahrgänge von 1914. Es kann eine Friedensdemonstration sein, die Erleichterung bringt und es kann Kriegsgeschrei sein. Und diese Erleichterung müssten wir wahrnehmen. Sie gießt Öl in die Feuer des Kriegs. Wir sollten sie wiedererkennen in dem Unisono unserer westlichen Öffentlichkeiten, mit der sie, auch aus Dichtermund, die Säuberung des Himmels über der Ukraine fordert und wenig Suche darauf verschwendet, wo westliche Vorschläge auf eine Antwort vernünftiger Russen treffen und wo Orte und Vorschläge, die den Krieg zum Stolpern bringen, liegen könnten. Wenn doch zum Friedensschluss immer beide Seiten beitragen müssen und Gewalt, auch rhetorische Gewalt, einen solchen gemeinsamen Willen nicht herstellt.

Die Kunst wäre dann dasjenige, was das darstellen kann. Bedeutet das denn, man sollte Anna Netrebko weiter singen lassen?

Mehr als das. Sie kennen Tschaikowskis Oper "Mazeppa", sie handelt von einem ukrainischen Hetman-Sohn, der am Hof von Krakau Frauen verführt. Die Männer dieser Frauen nageln diesen Ehebrecher auf ein Pferd. Das Pferd trägt diesen Jüngling bis ans Ufer des Don, wo er halb ohnmächtig zum Chef eines Clans gekürt wird. Das erste, was er tut, ist, andere Hetman-Männer zu bekämpfen. Er raubt eine Frau und erschlägt deren Vater. Am Schluss dieses wüsten Bürgerkriegsszenarios steht dieser Mazeppa auf der Seite von Karl dem Zwölften von Schweden, der in Russland einmarschiert und in der Schlacht bei Poltawa von Zar Peter dem Großen besiegt wird. Karl der Zwölfte ist sozusagen die damalige NATO. Der Ukrainer Mazeppa ist mit ihr verbündet, steht auf der Seite des Verlierers. Übrig bleibt seine Frau, die inzwischen irrsinnig ist und das schönste Lamento der ganzen Operngeschichte singt, ein Schlaflied für ihr totes Kind. Das soll die Netrebko singen! Dann hätten Sie einen Moment der Trauer. Wir Menschen stammen von Fischen ab. Meerestiere können Salz von innen nach außen transportieren. Das bedeutet, wir Menschen – als späte Erben – können schwitzen und wir können weinen. Wir können trauern, können Versteinertes verflüssigen. Das Auge fängt an zu laufen und verflüssigt den Blick. Ist das Teleskop oder die Träne der bessere Verstärker des Auges? Die Kunst würde antworten: die Träne. Die Wissenschaft würde Ihnen sagen, selbstverständlich das Mikroskop, das Fernrohr und die Brille. Beide Antworten sind wahr. Aber um Emotion mit Einsicht zu verbinden, dazu ist Trauer nötig.

Wie komplex die Aufgabe der Kunst ist!

Sie brauchen so viel Energie wie der Krieg für die Suche nach der winzigen Ausnahme von der Wirklichkeit, die kein Krieg ist. Das nämlich, die Herstellung des Willens des Anderen und dadurch meines eigenen Willens, ist der Frieden. In Liebesverhältnissen und bei der Beschreibung wie im Ehekrieg eine Scheidung vermieden wurde und ungeschiedene Kinder und vielleicht sogar die beiden Kontrahenten anschließend glücklich waren, können wir konkret nacherzählen, wie schwierig und wie glücklich Friedensschlüsse sein können. In Bayreuth habe ich Gorbatschow und Loriot gefilmt, die gerade aus Wagners "Götterdämmerung" kamen. Gorbatschow berichtete, er sei mit elf Jahren 1942 in seiner Heimatstadt deutschen Panzern begegnet. Loriot antwortete, er sei zur selben Zeit dort Kommandant einer deutschen Panzerabteilung gewesen. Die Szene: Kinder stellen sich vor einen Panzer und dieser entfernt sich rückwärts, hätte sich hier ereignen können. Frieden ist, wenn man so viele Jahre später darüber einander erzählt. In der Wirklichkeit haben Sie immer ein Grundwasser von Krieg. Sie müssen einen Schritt aus dieser Wirklichkeit hinaus tun, so wie wir den Konjunktiv wählen, wenn wir ein Buch lesen. Wenn wir einen Moment in den Möglichkeitsraum gehen und dann entspannt wieder zurückkehren in die Wirklichkeit. Ja, dieser Wechsel ist das Einzige, was die Künste können und tun. Und dazu braucht es die Autorität der bildenden Kunst. Sie brauchen die Fähigkeit der Literatur im Formulieren und sie brauchen die Bewegungsfähigkeit der Musik. Und das möglichst gleichzeitig oder nebeneinander.

Sie haben es zum Beispiel versucht mit Ihrem Buch "Russland-Kontainer".

Kafka sagt dort: Eine Beschreibung von Russland geht nur im Verhältnis von eins zu eins. Das ist dann die Bodenhaftung der Füße. Hätte Napoleon, so Kafka, vorher gewusst, was für die Füße ein Rückmarsch von Moskau im Winter bedeutet, wäre er nie dorthin marschiert. Auf einer Generalstabskarte im Maßstab von eins zu 300.000 kann niemand sterben. Aber an den Entschlüssen, die mittels einer Generalstabskarte getroffen werden, können Tausende sterben. Konkretion ist eine Ameisen-Straße und Abstraktion ist der Sprung des Tigers. Bei Caspar David Friedrich haben Sie das Bild des französischen Kürassiers vor dem deutschen Wald. Der Wald, das kann Russland oder Deutschland sein. Besser, er geht da nicht hinein. Was wir alles nicht können, lernen wir am Krieg. Sie müssen die Ich-Schranke senken, um mit dem Krieg umzugehen. Caspar David Friedrich malt nicht "die Rückkehr der starken Kerle". Was die Bilder aus der Ukraine durchaus tun. Bilder wie die von Caspar David Friedrich besitzen wie in der Musik eine "Obertonreihe". Von diesen Varianten führt uns die Einbildungskraft direkt ins heute, in die Moderne.

Caspar David Friedrichs "Der Chasseur im Walde" in einer Collage von Alexander Kluge
Courtesy Alexander Kluge

Caspar David Friedrichs "Der Chasseur im Walde" in einer Collage von Alexander Kluge

Wenn jemand ein Bild macht, das sieht aus wie ein Kirschgarten in Japan und man sieht eine Tür, und das ist die Tür, durch die der Mörder ging, der beim Bostoner Marathon Menschen tötet, dann hat er von der Gewalt ein Bild gemacht.

Sie sprechen von Thomas Demands Bild "Backyard" von 2014 …

Der Sog entsteht dadurch, dass dieses Bild gerade keine Gewalt direkt abbildet Aber wenn der Mörder und der Boston-Anschlag schon ganz vergessen ist, dann ist das Bild noch immer da und erzählt von einem Massaker, das wir nicht wollen. Der Krieg stellt der Kunst eine Aufgabe. Sie können das ikonoklastisch angehen wie Gerhard Richter oder ikonophil wie Anselm Kiefer. Gerhard Richter könnte auf den Negativen der Pressefotos vom Ukrainekrieg die obersten Schichten abkratzen, darunter kommt dann nur das Grau und Rot des Materials zum Vorschein. Das wäre dann aber der Protest, oder die Negation, wie Hegel sagen würde, zu diesem unseligen Krieg. Schauen Sie, in einer Woche beherrscht noch die Pandemie die Medien, in der nächsten Woche Ukraine, in der darauffolgenden Woche die Dissertation von irgendeiner Politikerin, die abgeschrieben haben soll. Das kriegen wir durchaus in unserer kurzatmigen Öffentlichkeit hintereinander. Nachrichten in Echtzeit werden gebraucht, aber sie verzerren den Gegenstand. Kunst hat einen anderen Begriff von Echtzeit. Echtzeit ist äquivalent mit Dauer.

Sie sagten, die westliche Öffentlichkeit habe vor dem Ukrainekrieg kaum Interesse an Russland gehabt ...

Es ist tatsächlich seltsam, wie sehr seit 1991 unser Westen mit sich selbst beschäftigt war. In Ibsens Drama "Nora" entsteht der Ehekrieg nicht, weil der Mann seine Frau prügelt, sondern weil sie ihm gleichgültig ist. Er antwortet nicht auf sie ... So haben wir die Entwicklungen in der Ukraine – auch den Nationalismus dort – wohlwollend, aber unaufmerksam verfolgt. Und auf die Irritationen in Russland – gleichgültig ob sie irrig oder berechtigt sind – über die Idee des Präsidenten Bush Jr. von 2008, die Grenzen der NATO über die Osterweiterung hinaus zu erweitern, hat unser Westen nie konkret geantwotet. Das entschuldigt keinen Kriegsausbruch. Aber wie man den Impfstoff aus dem Gift entwickelt, wäre es gut, den Weg zum Frieden aus den Fehlern der Vergangenheit abzuleiten, also zu reparieren und nicht durch Rechthaberei und Monolog die Risse zu panzern.

Woher kam bei Ihnen der Antrieb, den "Russland-Kontainer" zu schreiben?

Wie immer bei mir war es ein persönlicher Antrieb. Meine Schwester hat als junges Kind in Halberstadt Russisch gelernt. Und sie hat immer mir im Nacken gesessen, dass wir beide Russland nicht kennen. Nun ist meine Schwester gestorben und ihr zuliebe habe ich das Buch geschrieben. Ich kam dann auf den alten Satz: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Ich wollte also über ein mir fremdes Land etwas wissen. Was bedeuten 20 Werst im Winter mitten in Russland? Oder: Alle Flüsse in Russland liegen quer zum Marschweg Ost-West. Eine ganz einfache Frage. Sie merken, es gibt kaum einen Fluss, der wie die Donau quer geht. Also wenn Sie hier jetzt mit Boot nach Wladiwostok wollen, haben Sie keinen einzigen Fluss, der Sie hinbringt. Aus solchen und ähnlichen Fragen, die ich mir an das rätselhafte Russland stellte, habe ich viel über mein eigenes Land erfahren. Wenn wir beide jetzt hier weiterarbeiten würden, würde ich sagen: Wir machen jetzt eine Bilderserie mit Künstlerinnen und Künstlern nur über die Nachschubprobleme der Russen. Kaum bricht der Krieg aus, funktioniert nichts wie geplant. Solche Erfahrungen sind für uns genauso treffend wie für den Gegner. Der Perspektivwechsel, der Wechsel zwischen Möglichkeitsform und Wirklichkeitsform, zwischen verschiedenen Aggregatzuständen der Realität, das ist das, was die Kunst kann. Und das ist die Herausforderung an die Moderne in der Kunst.

Alexander Kluge
Courtesy Alexander Kluge

Beschuss nahe Kernkraftwerk, von Alexander Kluge bearbeitetes Bild für ein kommendes Buch mit der Künstlerin Katharina Grosse