Ökosex auf der Mannheimer Bundesgartenschau

"Mein Baum war ein guter Küsser"

Eine Bundesgartenschau gehört nicht unbedingt zu den erotischsten Ereignissen der Kulturwelt. Außer, wenn die Künstlerinnen Annie Sprinkle und Beth Stephens dort einen ihrer ökosexuellen Spaziergänge leiten, bei denen man Zärtlichkeiten mit der Natur austauschen soll. Ein Ortstermin

Es sind 30 Grad im Schatten. Einige Mutige laufen trotz der Hitze über die Bundesgartenschau in Mannheim. Vor allem sind es Ehepaare mit ergrauten Haaren, einige Mittvierzigerinnen mit Fächern in der Hand, ein paar Familien mit Kleinkindern, gut geschützt unter Sonnenhüten.

"Sie sind hier richtig", ruft eine Frau den Menschen zu, die mit suchender Miene am "Rainbow-Hub" entlanglaufen. In den Blumenkästen ringsum sind LGBTQIA+-Flaggen verteilt, über den Boden verlaufen bunte Linien, in den Himmel sind leuchtende Schnüre gespannt. Viele folgen ihren Rufen und verteilen sich auf den Holzbänken, die mit Sitzkissen ausgelegt sind. Ob sie wissen, was sie gleich erwartet? 

Viele von ihnen sehen aus, wie man sich die Besucherinnen und Besucher der Bundesgartenschau vorstellt: kurzärmelige Hemden, Kameras um den Hals, Chino-Shorts, auf der Suche nach entzückender Blumenpracht oder Tipps für die eigene Terrasse. Wo man sie eher nicht erwarten würde: Auf einer querfeministischen Veranstaltung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, dem Publikum das Prinzip der Ökosexualität näherzubringen. Den Zugang der Anwesenden zur Natur stellt man sich vielmehr beim Rasenmähen oder Parkspaziergängen vor. Dass sie später noch aufgefordert werden, Bäume zu streicheln oder zu küssen, scheint in diesem Moment weit entfernt. 

Ökosex seit 2011

Die Frau, die eben noch gezeigt hat, von welchen Plätzen aus man am besten sehen kann, weist nun das Awareness-Team ein. Dessen Aufgabe ist es, aus einem Bollerwagen Fächer, Wasser und Sonnenschirme zu verteilen und einzuschreiten, sollte eine unangenehme Stimmung entstehen. Dann sollen sie, es sind vor allem junge Frauen, Flyer austeilen, die betreffenden Personen freundlich ansprechen und erklären, was eigentlich passiert, bei "The Earth as a Lover", der performative Walk, der hier beginnen soll.

Das Konzept geht auf die Performance- Künstlerinnen Annie Sprinkle und Beth Stephens zurück. Das Ehepaar aus einer ehemaligen Pornodarstellerin und einer Filmemacherin hat die Ecosex-Bewegung mit ihren Unterstützerinnen schon vor einigen Jahren ins Leben gerufen. Jahren. 2011 verfassten die Künstlerinnen und Aktivistinnen ein Manifest, in dem es um den Umgang mit der Umwelt und Liebe zur Natur geht.  Öko-Sex kann vieles sein, sagen sie: eine Dating-Form, eine sexuelle Identität, eine Bewegung. Es vereint Kunst und Aktivismus und noch viel mehr, "was erst noch herausgefunden und definiert werden muss".

Mit einer ihrer Ökosex-Performances waren sie bereits auf der Documenta 14 in Kassel und Athen vertreten, haben Filme darüber gedreht und Bücher herausgebracht. Als Vorbilder ihrer Performance-Kunst dienen ihnen unter anderem Joseph Beuys und Yoko Ono, erzählen sie.

"Was turnt Sie an?"

Carmen Göth vom Queeren Zentrum Mannheim hat die beiden Künstlerinnen zur Bundesgartenschau gebracht, wo sie mit den regionalen Künstlerinnen und Künstlern Hayma Alqueer, Ilka Kaufmann, Baküs Mejri, Amina Flyingstone und Haru apa nyx zusammenarbeiten. Die Regisseurin Joy Brooke Fairfield, die schon lange mit Stephens und Sprinkle zusammenarbeitet, hat auch dieses Mal mit ihnen die Choreografie des Walks erarbeitet. Die Bundesgartenschau ist eine Mainstream-Veranstaltung, der Walk ist das Gegenteil. 

Pünktlich um 18 Uhr erklingt Musik, fünf junge Drag-Performerinnen, Ballroom Artists und Kunstperformerinnen tanzen auf die warteten Menschen zu. Sie kommen aus Mannheim, Heidelberg und der Region, eine von ihnen kommt aus Mali, ein anderer aus Tunesien. Eine Künstlerin, die sich als pansexuelle Trans-Aktivistin vorstellt, trägt einen Hexenhut, der an eine Vulva erinnert und blaue Schminke im Gesicht. Viele haben Netzstrumpfhosen an, einer trägt dazu pinke High-Heels, eine andere Birkenstocks und einen selbstgebastelten Orchideen-Kopfschmuck. Das Publikum klatscht.

Die Performer und Performerinnen verteilen Schilder ans Publikum. Statt dem eigenen Namen sollen sie darauf schreiben, was sie an der Erde anturnt. Die meisten denken eine Weile nach, dann schreiben sie doch etwas, "Wind" oder "Stone & Fire", viele "Wasser". Als alle versorgt sind, erscheinen endlich Annie Sprinkle und Beth Stephens in aufeinander abgestimmten roten Outfits.

Die Erde hat alle Geschlechter

Bevor der Spaziergang beginnt, stellen sie 25 Arten vor, wie man "Liebe mit der Erde machen" kann. Der erste: "Sag der Erde: Ich liebe Dich. Ich kann ohne Dich nicht leben." Es folgen die Ideen, an der Erde zu riechen und sie zu schmecken, "dirty mit ihren Pflanzen" zu sprechen, "erotische Energie" mit ihr auszutauschen, sie zu küssen und zu lecken, Aufrufe zum Recyceln und sich gegen Krieg einzusetzen, denn "Bomben tun wirklich weh".

Die Bezeichnung der "Mutter Erde" ist weit verbreitet. "Die Erde ist müde davon, sich um uns zu kümmern, weil sie nicht wertgeschätzt, sondern missbraucht wird", sagt Annie Sprinkle. Aus diesem Grund haben sich die Künstlerinnen und Künstler entschieden, das nicht-binäre Pronomen "they" zu verwenden, wenn sie über ihren Lieblingsplaneten sprechen. "Die Erde hat alle Geschlechter", ruft Sprinkle. Währenddessen räkelt sich einer der Künstler in einem pinken Hemd auf einem Fell auf dem Boden.

Dann halten die Künstlerinnen ein Schild hoch, auf dem in einer Grafik verschiedene Stadien von Ökosexualität abgebildet sind. Von nur ein bisschen Anziehung am linken Ende der Skala, also Eco-Curious (neugierig), bis zu Eco-Sensual oder Eco-Romantic, all dies auch möglich in der Kombination mit anderen sexuellen Identitäten und Vorlieben, bis zum rechten Ende der Skala: "mehrheitlich" oder "extrem" ökosexuell.

"Ich liiiiebte es"

In all diesen Stadien des Spektrums gibt es wiederum eigene Vorlieben entlang der Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft. Wasserfetischisten lieben es etwa, unter Wasserfällen zu stehen oder nackt zu baden. Feuer-Begeisterte schätzen heißes Kerzenwachs auf ihrer Haut, erklären Sprinkle und Stephens. Menschen, die besonders auf Luft reagieren, können es mögen, ins Ohr gepustet zu bekommen.  "Wenn man mit einem Menschen Liebe macht, dann macht man auch mit der Erde Liebe!", verkündet Stephens abschließend.

Dann geht der eigentliche Walk los. Die Künstlerinnen und Künstler haben Glocken, Windspiele und Klangschalen dabei, mit deren Geräuschen sie die Prozession anführen. Nach knapp 100 Metern kommt schon der erste Stopp, sie nehmen Platz und erzählen, wie sie ihre Liebe zur Erde entdeckt haben. Im Alter von fünf Jahren habe sie schwimmen gelernt, erzählt Annie Sprinkle. "Ich liiiiebte es", sagt sie. Auch andere Künstlerinnen und Künstler erzählen, vom Meer, von Gewittern und Wattleuchten und schließen bedeutungsschwanger mit den Worten "That´s when I knew".

Dann ist wieder das Publikum dran. "Wann wusstet ihr es?", fragen die Künstlerinnen und Künstler und gehen mit Mikrofonen auf die Zuschauer zu. Sie picken sich eine Frau heraus, "Was ist mit Ihnen?", fragen sie, aber die Frau winkt ab. Bitte nicht, steht in ihrem Gesicht geschrieben. Schließlich erbarmt sich eine andere und erzählt davon, wie sie als Kind an schlammigen Stränden gespielt hat. Die Künstlerinnen freuen sich, dass doch noch jemand eine Geschichte geteilt hat. 

Wie geht es dir, kleiner Baum?

Dann geht es weiter, zu einem "magischen Portal", mitten hinein in die Welt der Ökosexualität. Hintereinander schreiten die Besucher durch einen engen Gang, in dem es nach Holz riecht, auf der anderen Seite werden sie auf eine Wiese geführt. Dort sprechen Annie Sprinkle und Beth Stephens über Konsens. Wer die Erde als Liebhaber oder Liebhaberin haben will, darf auch hier nicht auf Einverständnis verzichten. Wie das bei der Erde geht? Nachfragen, sagt Stephens und macht es an einem Baum vor.

"Hallo kleiner Baum", sagt sie. "Wie geht es dir?". Dann beginnt sie die Rinde zu streicheln und lädt das Publikum ein, es auch mal auszuprobieren. Während die meisten eher verhalten über die Wiese streicheln und lieber die Rolle der Beobachter einnehmen, beginnen einige der Künstlerinnen und Künstler, mit ihren Händen über die Bäume zu fahren und sie zu küssen.

Ob ein Baum auch mal nein sagt? An diesem Tag scheinbar nicht. Später sagt eine der Künstlerinnen: "Mein Baum war erst etwas schüchtern, aber dann hat er gefragt, ob ich ihn noch mehr lecken kann. Er war ein guter Küsser!" Sie bedanken sich bei den Bäumen, mit denen sie eben noch Zärtlichkeiten ausgetauscht haben. Ob die Besucherinnen befremdlich finden, was sie eben gesehen haben? Zumindest versuchen die meisten, sich nichts anmerken zu lassen. Sie bleiben still und laufen den Künstlerinnen, die vorne entlanggehen einfach weiter nach.  

"Die kleine Brise eben war ein E-Spot"

Beim nächsten Halt werden Sticker verteilt, für sogenannte "E-Spots", also Dinge in der Natur, die als besonders erregend wahrgenommen werden. "Die kleine Brise eben war ein E-Spot", ruft eine Frau von hinten. "Ja, warum fantasieren wir nur über Menschen?", antwortet Sprinkle. Immer wieder hält die Gruppe an, sieht den Künstlerinnen und Künstlern zu, wie sie sinnlich über Blumen streicheln - die Genitalien der Erde, wie Beth Stephens später sagt -, ihre Hände über Gras wandern lassen oder an Pflanzen riechen.

Irgendwann fangen immer mehr Besucher an, sich ebenfalls einige Gewächse genauer anzusehen. Dann kommen die "Ecosexercises", also Öko-Sex-Einheiten. Es fängt an mit Atemübungen, bei der die Aktivistinnen und Künstlerinnen ihre Hände auf den unteren Bauch legen und ihre Hüften in liegenden Achten bewegen, dazu läuft Musik. Wie in Trance wiegen sie sich, die Übung erinnert an eine Mischung aus Tanz und Yoga. Wer wolle, könne seine Schuhe ausziehen, um die Verankerung und das tragende Gefühl der Erde noch mehr spüren zu können, sagen sie. Weil die Gruppe auf einem Schotterplatz Halt gemacht hat, lassen die meisten ihre Füße doch lieber bedeckt.

Es folgt eine Traumreise, bei der sich die Zuhörenden vorstellen sollen, eine Seerose zu sein, die Erzählung steigert sich beständig. "Stell dir vor, Du spürst, dass Wellen gegen dich schlagen, sie werden größer, sie werden immer mehr, bis DU die Welle bist", stöhnt die Rednerin ins Mikrofon. Ihre Anspielungen sind explizit, sie endet schwer atmend.

Die Hitze ist ein Mitspieler 

Für das Element Feuer schütteln alle ihren Körper aus, nach und nach machen immer mehr Personen mit, Frauen, Kinder, das Awareness-Team. Für die Erde soll man sich vorstellen, ein Löwe zu sein und durch die Savanne zu streifen, mit den Händen werden die passenden Bewegungen nachgeahmt, dann beginnen sie zu brüllen und zu knurren. Die letzte Übung sind die "Sounds of Pleasure", also Geräusche der Befriedigung, bei denen die Künstlerinnen und Künstler in ihre Mikrofone hauchen und gurren. Spätestens an diesem Punkt hören die meisten Zuschauer dann doch auf, mitzumachen. Als die Künstlerinnen und Künstler nach wenigen Minuten wieder verstummen, lacht Beth Stephens: "Ich glaube, jetzt haben wir keine Ökosex-Jungfrau mehr unter uns", sagt sie.

Zu dem Song "Staying Alive" von den Bee Gees wird den Bienen gedacht, die schwitzende Gruppe tanzt durch ein Holztor in From einer Bienenwabe. Das nächste Lied "Every molecule" ist von Annie Sprinkle selbst geschrieben und gesungen, extra für die Bundesgartenschau hat sie es geschrieben, erklärt Beth Stephens stolz. Riesige Seifenblasen-Röhren werden verteilt, einige Kinder hüpfen damit herum.

Plötzlich fällt Beth Stephens um. Das Awareness-Team kommt angelaufen, Annie Sprinkle beugt sich besorgt über sie, einige Künstlerinnen fächeln ihr Luft zu, es wird nach Wasser verlangt. Dann setzt Stephens sich langsam wieder auf. "Wo bin ich? Auf der BuGa?", fragt sie. Dann lacht Beth Stephens. "Okay, das war ein Witz", sagt sie, "aber Hitzetode sind kein Witz. Deutschland hat in Europa die drittmeisten Todesfälle durch Hitze." Die sengende Wärme dieses Tages ist zu einem eigenen Akteur der Performance geworden.

Dirty sex not dirty soil

"Welche Sorgen habt ihr?", fragt Stephens in die Runde. Die Künstlerinnen und Künstler reichen das Mikrofon herum, sie sprechen über Freunde auf Hawaii, Müll und Mikroplastik, Rohstoffe, Wale und Waldsterben, üben Kritik an deutschen Behörden und fordern mehr Aufmerksamkeit für Geflüchtete. "Das ist deprimierend", sagt Stephens. "Wir müssen etwas dagegen machen!".

Die Antwort ist ein Protest, jeder und jede bekommt ein Schild, darauf steht "Save the Bees", oder "Ecosex-Queen", die Künstlerinnen und Künstler skandieren "Gras nicht mähen wegen Hummeln / lieber auf den Wiesen fummeln", "Dirty Sex not dirty soil" oder "1,2,3,4 I am a whore against the war". Während die Demo in Richtung der letzten Station weiterzieht und die Besucher fleißig die Demo-Rufe wiederholen, läuft "I love you Earth" von Yoko Ono.

Beth Stephens, Annie Sprinkle und Joy Brooke Fairfield sind sehr zufrieden mit dem Walk, sagen sie am nächsten Tag. "Es war besser, als wir es uns vorgestellt haben!", so Sprinkle. Auf die Frage, ob es auch Kritik an ihrer Performance gegeben habe, antwortet Stephens: "Die meisten, die unsere Arbeit kritisieren, verbringen nicht zwei Stunden in Hitze mit uns" und lacht. Menschen, die wenig von ihren Performances halten, gibt es trotzdem, sie melden sich meistens online. "Es gibt Umweltschützer, mit denen wir zusammengearbeitet haben und die sagen, wir seien eine Schande für die Sache. Von rechtsextremen Christen haben wir schon gehört, dass wir Sünde verbreiten", erzählt Sprinkle.

Die Schwerkraft hält uns 

In Anbetracht der globalen Krisen, allen voran der Klimawandel und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, werden ihre Performances aber immer wichtiger, finden Sprinkle und Stephens. Wie oft sie ihre Walking-Touren schon gemacht haben, können sie nicht mehr zählen. "Ich bin 69 Jahre alt und lerne immer wieder, wie wichtig es ist, jüngeren Menschen zuzuhören. Es ist ein großes Glück, bei unserer Arbeit Künstlerinnen und Künstler kennenzulernen, die uns ideologisch verbunden sind", sagt Annie Sprinkle.

Zweieinhalb Stunden dauert der besondere Spaziergang. An der letzten Station bedanken sich Beth Stephens und Annie Sprinkle bei allen, die durchgehalten haben. Tatsächlich, niemand hat sich abgesetzt. Die beiden Künstlerinnen stehen auf einem Steg, der nahe des Ausgangs über eine künstliche Wasserstelle führt. Als sie mit ihren letzten Worten fertig sind, steigen sie hinab, eine der Künstlerinnen, die im Rollstuhl sitzt, wird ebenfalls hineingeschoben, bald folgen auch alle anderen. Sie wackeln mit den Hüften, spritzen sich nass, tanzen und fordern das Publikum ein letztes Mal zum Mitmachen auf. Bis auf ein paar skeptisch dreinschauende Menschen, die am Rand nach Schatten suchen, schlüpfen die meisten bereitwillig aus ihren Schuhen und strecken ihre Füße in das knapp 20 Zentimeter tiefe Wasser.

Aus den Boxen, die während des gesamten Walk von der "Technik-Bitch" der Gruppe auf einem Bollerwagen mitgezogen wurden, läuft laute Musik. Die Besucher wirken gelöst, die Abkühlung ist willkommen. "Wir schaffen bei unseren Performances temporäre Gemeinschaften. Das ist besonders schön", sagt Stephens später. Annie Sprinkle ergänzt: "Beth und ich genießen es, in Liebe mit der Erde zu leben. Sie hält uns mit ihrer Schwerkraft auf so eine schöne Art und Weise fest."