Kuratorinnen des deutschen Venedig-Pavillons

"Architektur kann eine einladende Geste sein"

Im deutschen Pavillon auf der Architekturbiennale von Venedig dreht sich diesmal alles um Recycling und inklusive Räume. Die Kuratorinnen Anne Femmer und Franziska Gödicke erklären, wie wir wirklich für alle bauen könnten


Anne Femmer, Franziska Gödicke, wie kam es eigentlich zur Zusammenarbeit zwischen der Architekturzeitschrift "Arch+" und praktizierenden Architekturbüros bei der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig?

Anne Femmer: Mit dem Architekturbüro Juliane Greb haben wir bereits ein Projekt zu genossenschaftlichem Wohnungsbau in München realisiert. Der Bericht darüber erschien in der 246. "Arch+"-Ausgabe "Zeitgenössische Feministische Raumpraxis". Wir fanden die Zusammenarbeit sehr bereichernd und entschieden uns, uns für die 18. Architekturbiennale gemeinsam zu bewerben.

Die Architekturbiennale wird diesmal von der ghanaisch-schottischen Architektin Lesley Lokko kuratiert. Lokko begreift eine solch umfangreiche Ausstellung als eine Collage aus Narrativen, aber auch als einen konkreten physischen Prozess. Das Motto lautet: "Decarbonize, Decolonize, Deinstitutionalize!". Daraufhin wählte das kuratorische Team des deutschen Pavillons eine kompromisslose Strategie, indem es frühere Kunstausstellungen des Pavillons recycelt. Einfach, für heutige Zeit aber existenziell. Wie kam es zur diesen Entscheidung?

Franziska Gödicke: Für die genannte "Arch+"-Ausgabe hatten wir die Möglichkeit, mit Lesley Lokko ein Gespräch zu führen und konnten im Nachhinein ungefähr abschätzen, welche möglichen Themen für die diesjährige Architekturbiennale in Betracht gezogen werden könnten. Die Perspektive auf eine intensivere kollektive Auseinandersetzung hinsichtlich der Prozesse der Dekolonialisierung und Reduzierung von CO2-Emissionen angesichts der sozialen, politischen und ökonomischen Herausforderungen erschien uns als sehr wichtig. Wir erkennen auch an, dass die bestehenden Rahmen der Architekturbiennale als Institution in Bezug auf Deinstitutionalisierung weiter gefasst und ausgedehnt werden sollten. Somit wollten wir die Biennale als einen Raum nicht nur des Vernetzens denken, sondern als einen inklusiven, sozial-ökologischen Ort für Begegnungen: einen Raum, welchen Menschen in unterschiedlichen Zeiten und aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten für sich nutzen können.

Mit dem Titel "Wegen Umbau geöffnet" verwandelt sich der deutsche Pavillon dieses Jahr in eine Werkstatt. Solch innovative Bespielung des Pavillons und das Interagieren scheint heute sehr relevant zu sein.

AF: Dieses Jahr verzichteten wir auf den Rückbau der Arbeit der letzten Kunstbiennale von Maria Eichhorn. Es sollte keine ausschließlich repräsentative Ausstellung werden, sondern alles sollte Funktionalität besitzen und einen sinnvollen Zweck erfüllen. Die Absicht ist unter anderem, das NS-ideologische Konzept des Gebäudes, das auf der Überlegenheit und Machtanspruch beruht, nicht nur im politischen und kulturellen, sondern unmittelbar im physischen Sinne zu modifizieren.

Wie?

AF: Die halbkreisförmige Erschließungsrampe, die temporär zum Zweck der ideologischen Korrektur umgestaltet wurde, thematisiert architektonisch die Problematik der Exklusion der marginalisierten Gruppen und kreiert durch Neugestaltung einen physischen Raum für die Teilhabe. Die inklusive Rampe wird somit zum öffentlichen Podium, auf dem diverse sozial engagierte Initiativen mit Fokus auf nachhaltige Praxis ins Leben gerufen werden. Alle Räume innerhalb des Pavillons, wie Brücken, Werkstatt, Waschraum, Versammlungsraum oder Teeküche haben auch Funktionen — der praktischer Raum wird hier zusätzlich zum Erlebnisraum, wobei gemeinschaftliches Handeln und Selbstermächtigung im Zentrum stehen. 

FG: Der Sachverhalt "Wegen Umbau geschlossen" ist allen bekannt. Bei "Wegen Umbau geöffnet" geht es um eine Veränderung des vertrauten Zustands und um das Öffnen von neuen Perspektiven. Wir wollen damit eine stärkere Sichtbarkeit für körperliche Arbeitsprozesse wie Instandhaltung, Reparatur, Reproduktion und Pflege schaffen. Die Idee für das Materialdepot im zentralen Raum des Pavillons basiert auf dem Gedanken, dass das von den früheren Ausstellungen gesammelte Material, als "fragmentierte Vergangenheit" in der Gegenwart fungiert und somit als kulturelle Anreicherung auch innerhalb Architektur begriffen werden kann.

Der Deutsche Pavillon überrascht das Publikum unter anderem mit einer Performance, aufgeführt von Performerinnen und Performern mit diversen körperlichen Beeinträchtigungen.

AF: Die Performance wird live von der Forward Dance Company des Lofft-Theaters in Kooperation mit dem Goethe-Institut / Performing Architecture aufgeführt und unterstützt auf sehr direktem Weg und somit auf der emotionaler Ebene die Wichtigkeit der Inklusion.

FG: Der demokratische Zweck der neu errichteten Rampe ermöglicht den barrierefreien und gleichwertigen Zugang zum Pavillon, somit kann Architektur eine neue Dimension gewinnen und als eine einlandende Geste begriffen werden. Mithilfe dieser Performance können andere, alternative Bewegungsmodelle erkannt und erarbeitet werden.

Der Titel der diesjährigen Architekturbiennale lautet "The Laboratory of the Future". Wenn wir die heutige Entwicklung zum Beispiel der Großstädte in Betracht ziehen, zeigt sich die Tendenz, dass Großstädte immer stärker kommerzialisiert werden. Das führt dann zu Mietssteigerungen und Vertreibung der Menschen in die Peripherien. Wie sieht das "Labor der Zukunft" der heutigen Gesellschaft aus, und was soll dort entwickelt werden?

AF: Das soziale Engagement ist für heutige kapitalistische Wirklichkeit enorm wichtig. Um sich aber sozial engagieren zu können, muss es dafür Räume, Zugänge und Finanzierungen geben. Der deutsche Pavillon mit dem sechsmonatigen Werkstatt-Programm "Maintenance 1:1" schafft einen Raum für möglichen Handlungsoptionen der Architektur, wobei die zivilgesellschaftlichen Gruppen, wie Assemblea Sociale per la Casa (ASC), die Infrastrukturen in Venedig pflegen, reparieren oder instandsetzen werden.

FG: Autonomie spielt dabei eine wichtige Rolle. In dem "Labor der Zukunft" muss eine solidarische Allianz gebildet werden, wobei die Ideen der Wiederverwendung statt Neugestaltung weiterentwickelt werden müssen, da es ein außerordentliches transformatives Potenzial mit sich bringt. Das Reparieren muss an Wichtigkeit gewinnen und von Architekt:innen als nützliche Kompetenz begriffen werden.

Lesley Lokko unterstreicht die Wichtigkeit des Gedankens, dass ohne einer wünschenswerten Vorstellung der Zukunft keine wünschenswerte Wirklichkeit gestaltet werden kann. Für welche Vision sollte sich Architektur heute einsetzten?

FG: Der Begriff des Reallabors ist heute sehr relevant. Wir alle haben Freude daran, Dinge zu testen, zu schauen, was möglich ist. Am Beispiel der Rampe als Ort der Inklusion konnte man Veränderungen hervorrufen, die neue Zugänge, aber auch neue Denkweisen für die Sachverhalte innerhalb der Architektur schaffen. Der Aspekt der Nachhaltigkeit mit wiederverwendbarem Material erschien für uns dabei als sehr wertvoll und spannend.

AF: Wichtig wäre auch, dass soziale Themen in den Vordergrund treten. Marginale Wirklichkeiten sollen ins Zentrum rücken. Fokus auf die Hinterräume und die Nachfrage für das Reparieren anstatt Neubauen soll selbstverständlicher werden. Die Dynamiken der Neuproduktionen sollen umgedacht und neu konzipiert werden. Es gibt genug Material für Wiederverwendung.

Welche Ambitionen sollen Architektinnen und Architekten heute mitbringen, wenn sie sich als "diejenigen, die verändern" begreifen - und wenn sie politischen Support verweigern oder nicht bekommen?

AF: Architekt:innen können heute durchaus Dinge beeinflussen. Wenn man das universale Verständnis für Architektur als Disziplin immer weiter ausdehnt, indem man auch die Zusammenhänge hinsichtlich der Arbeit zum Beispiel von einem Hausmeister tiefer begreift, können da neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten entstehen, die zum erweiterten Verständnis der Architektur als Disziplin führen würden.

FG: Die Sachverhalte und Prozesse im Westen werden eben im kapitalistischen Kontext verstanden, beurteilt und verhandelt. Es ist tatsächlich sehr komplex, eine neue Perspektive zu schaffen, wenn man wie mit einem Gummiband am Kapitalismus befestigt ist und als Architekt*in überwiegend von den Wünschen des Bauherrn abhängig ist. Als junger Mensch empfinde ich es aber als Pflicht, zu behaupten, dass Veränderungen möglich sind. Am Beispiel der Biennale können wir bestätigen, dass die ungehorsame Position Umbrüche schafft. Wir wollten die Idee der Wiederverwendung durchsetzen und haben es trotz Hindernissen und Kritik auch geschafft.

Der Fokus der 18. Architekturbiennale richtet sich zum ersten Mal auf Afrika und die afrikanische Diaspora. In Deutschland scheint immer noch die Nostalgie nach Kolonialzeiten spürbar zu sein, nehmen wir nur die Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses. Können heute Architektinnen und ARchitekten in Deutschland einen konkreten Einfluss auf die Dekolonialisierungsdebatten haben?

AF: Auf jeden Fall können Architekt:innen in Deutschland heute den Ton der Debatten bezüglich der Dekolonialisierung angeben und sogar anführen. Wir können uns klar positionieren. Schön wäre es aber, die Lager verschieben zu können.

FG: Wenn wir über Dekolonialisierung sprechen, müssen wir immer uns bewusst sein, wieviele Menschen mit Migrationshintergrund die Infrastrukturen und Funktion der Städte aufrecht erhalten. Unsere Aufgabe als Planner:innen ist, sie alle mitzudenken und gleichberechtigt zu behandeln. Das ist auch die zentrale Frage in dem "Arch+"-Heft gewesen — wie erreichen wir Inklusion für alle marginalisierten Gruppen, die vernachlässigt wurden? 

Architektur repräsentiert immer ein Statement. Welches Statement soll Architektur heute haben?

AF: Alltagsarichtektur ist ein großes Thema für mich. Monumentalität sollte es geben, wenn es den demokratischen Zwecken dient. Architektur, die für den Menschen und für die Umwelt geschaffen wird, soll auch Sichtbarkeit haben.

FG: Den Aspekt der Ambivalenz finde ich sehr wichtig, den hat auch unser Konzept "Wegen Umbau geöffnet". Einerseits geht es um die Alltagsarchitektur, um welche man sich durch Pflege und Reparatur kümmern muss. Andererseits geht es darum, Veränderungen zu schaffen und Umbau zu realisieren. Man muss aber erst dahin kommen. Architekt:innen stoßen tatsächlich an Grenzen, daher müssen sie sich als eine Gemeinschaft denken, um durch ihr Engagement mehr Einfluss auf die politischen Faktoren und Entscheidungen ausüben zu können.