Hettie Judah über Eltern in der Kunst

Augenöffner und Pflichtlektüre

Eigentlich sollte es dieses Buch gar nicht mehr geben müssen: Die britische Autorin Hettie Judah erklärt in "How to Not Exclude Artist Mothers (and other parents)", wie Eltern im Kunstbetrieb noch immer benachteiligt werden – und zeigt, dass es auch anders gehen kann

"How to Not Exlcude Artist Mothers (and other parents)" von der britischen Autorin Hettie Judah ist ein Buch, das es nicht geben sollte. Und genau deswegen ist es so wichtig: Denn Künstlerinnen, die ein Kind bekommen, müssen sich immer noch zu häufig der Frage stellen, ob sie Kind oder Kunst in ihrem Leben wollen.

Die patriarchale Annahme, dass eine erfolgreiche Karriere in der Kunst als Mutter unmöglich – oder zumindest sehr schwierig – sei, hält sich hartnäckig. Studien bestätigen immer wieder, dass Frauen im Kunstfeld unterrepräsentiert sind, weniger verdienen, weniger Einzelausstellungen haben und weniger Galerievertretungen verbuchen können als ihre männliche Kollegen.

Kommen ein oder mehrere Kinder ins Spiel, treffen die strukturellen Hürden oft kunstschaffende Väter weniger hart als Mütter, da die primäre Sorgeverantwortung gesellschaftlich immer noch bei letzteren gesehen wird. Während es für Angestellte gesetzliche Rahmungen für Elternzeiten gibt, die Diskriminierung vorbeugen sollen, so sind selbstständige Kunstschaffende mit Kindern oft auf sich allein gestellt. Aber es sind nicht nur rechtliche Rahmen, sondern auch festsitzende Voreingenommenheit und Werte, die einer elternfreundlichen Kunstwelt im Weg stehen. Denn auch, wenn sich die Szene als besonders liberal und avantgardistisch gibt, scheint sie betrunkene Künstler gegenüber Kindern auf ihren Veranstaltungen zu bevorzugen, so zumindest Coco Fusco in einem Gespräch über Mutterschaft und Kunst.

Eine Bestandsaufnahme mit Hoffnungsschimmer

Aber diese Doppelmoral bleibt nicht ohne erheblichen Gegenwind von Initiativen wie "Mehr Mütter für die Kunst", "Fair Share - Mehr Sichtbarkeit für Künstlerinnen", und "Kind+Kunst Berlin", die sich aktiv für einen gerechten, solidarischen Kunstbetrieb einsetzen. Das neu erschiene Buch von Hettie Judah reiht sich geschickt in ebendiese Debatte ein und führt diese weiter. Das schlanke Buch mit 100 Seiten (bisher nur in englischer Sprache) vereint Beispiele von Künstlerinnen, Kunst-Kollektiven, Initiativen, Galerien und Institutionen, die vorleben, wie Künstlerinnen mit Sorgeverantwortung nicht zwischen Kind und Kunst entscheiden müssen – und nimmt dabei die Lesenden mit nach Seoul, Toronto, London und Berlin.

Obwohl der Titel ein Handbuch mit expliziten Praxis-Anleitungen vermuten lässt, so verstehe ich "How to Not Exlcude Artist Mothers (and other parents)" eher als internationale Recherche und kritische Analyse zu der Vereinbarkeit von Kunst und Mutterschaft, die sowohl historische Entwicklungen aufzeigt, Studien zu Geschlechtergerechtigkeit im Kunstbetrieb beleuchtet und dadurch hartnäckige Annahmen und Mechanismen des Kunstfelds offenlegt und hinterfragt.

Das Buch ist dabei in sechs Abschnitte unterteilt: In dem ersten Kurzkapitel "The Culture" stehen kulturelle Annahmen, Werte und (fehlende) rechtliche Rahmen in Bezug auf Mutterschaft der Kunstwelt im Vordergrund; im folgenden Block "Art School" zeigt sie anhand von Künstlerinnen-Geschichten auf, wie unvorbereitet Kunstakademien und Kunsthochschulen darauf sind, Studierende mit Kindern in ihren Bedürfnissen aufzufangen, aber auch, welche Möglichkeiten es gäbe, dies zu ändern.

Studien und persönliche Geschichten

In "The Studio" beleuchtet Judah die verschiedenen Herangehensweisen an künstlerische Produktion in Bezug auf Räumlichkeiten, Zeit, und Selbstorganisation mit Kindern. In "Residencies" werden internationale Künstlerinnen-Initiativen besprochen, die Aufenthaltsstipendien mit Kindern neu denken. Das Kapitel "The Commercial Gallery" – ein Sektor, der besonders männlich-dominiert ist – analysiert das oft fragile Verhältnis zwischen Galeristinnen oder Galeristen und ihren Künstlerinnen, sobald eine Schwangerschaft bekannt wird und zeigt die Notwendigkeit, diese Beziehung neu auszuhandeln. "Institutions" setzt sich mit den strukturellen Ausschlüssen und der Verantwortung von Kultureinrichtungen gegenüber Kunstschaffenden als auch Publikumsgruppen mit Kindern auseinander.

Die jeweiligen Kapitel bauen neben Studien auf persönlichen Geschichten auf; es sind direkte Zitate aus Interviews, die das Thema zum Leben erwecken. Die Abschnitte vereinen sowohl albtraumhafte Erfahrungen von Künstlerinnen als auch Initiativen – zumeist in künstlerisch-aktivistier Selbsorganisation –, die Hoffnung für einen anderen, elternfreundlichen Kunstbetrieb aufkommen lassen.

Hettie Judah trägt somit Erzählungen von persönlichen Einschnitten und kreativen Lösungen zusammen, die strukturelle Lücken in der Kunstwelt aufdecken und teilweise subversiv zu umgehen versuchen. Die Künstlerin Lenky Clayton nahm bisher an verschiedenen Künstlerresidenzen teil, um ihre künstlerische Praxis auszuüben. Als Sie ein Kind bekam, stand ihr diese Möglichkeit in vielerlei Hinsicht nicht mehr offen.

Wie es auch anders gehen kann

Sie entwickeltdaraufhin ein "D.I.Y. Residency Kit", das es auch anderen Künstlerinnen mit Kindern ermöglichte, eine selbst-deklarierte und selbstorganisierte Artist-Residency-in-Motherhood in ihrem Zuhause auszurichten. Die Kandidatinnen nominieren sich selbst, füllen ein Online-Formular aus, auf dessen Grundlage ein offizielles Bestätigungsschreiben generiert wird, und laden das Residency Kit herunter.

Seit 2016 haben weltweit mehrere Tausend Künstlerinnen mit Kindern eine Residency-in-Motherhood durchgeführt. Die Initiative erlaubt es ihnen, einen flexiblen Arbeitsrahmen zu schaffen, und vor allem verleiht es Legitimität. Die gefürchtete "Lücke im Lebenslauf" wird nun – in einer kompetitiven Kunstwelt zu einer selbstbestimmten Residency, in der Kind und Kunst keinen Widerspruch mehr darstellen. 

Die Berliner Galerie Asterisk* verfolgt einen ähnlich subversiven, dezidiert feministischen Ansatz: Aus Protest gegen die Voreingenommenheiten und strukturellen Ausschlüsse gegenüber Künstlerinnen mit Sorgeverantwortung, widmet die virtuelle Galerie jeder Künstlerin eine Solo-Ausstellung im Geburtsjahr ihres Kindes. Auch retrospektiv können die Künstlerinnen ihre Ausstellungen eintragen, die "Leere" im CV füllen und somit Teil eines weiten Netzwerkes von Künstlerinnen werden, was wiederum die Sichtbarkeit für ihre Arbeiten erhöhen kann. Eine Aufmerksamkeit, die häufig im regulären Kunstbetrieb mit Beginn einer Schwangerschaft (unter)bewusst untergraben wird.

Pflichtlektüre für die Kunstwelt

Das Buch ist daher vieles: eine Inspirationsquelle, eine Ressourcen-Sammlung, ein Augenöffner, aber auch ein drängender Aufruf zum Handeln. Hettie Judah verweist an mehreren Stellen auf das kollektiv verfasste Manifest "How to Not Exclude Artist Parents", das Richtlinien für Institutionen und Residencies in 15 Sprachen vereint, wie sie Künstlerinnen mit Kindern nicht weiter ausschließen. Die Erklärung bildet jedoch nicht selbst Teil des Buches, sodass Handlungsanweisungen von den Lesenden selbst abgeleitet und auf den eigenen Kontext übertragen werden müssen.

Eine Transfer-Leistung, die für Akteurinnen und Akteure sowie Führungspersonen im Kunstbetrieb durchaus zumutbar ist. Eine, die dazu beitragen kann, dass das Buch tatsächlich obsolet würde, weil Künstlerinnen und Künstler unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer sozialen und ethnischen Herkunft, sexuellen Orientierung und ihrer Sorgeverantwortung die gleichen Chancen in der Kunstwelt hätten.

Aber bis dahin sollten sowohl das Manifest als auch das Buch von Hettie Judah Pflichtlektüre für alle im Kunstbetrieb sein, egal, ob sie selbst Kinder haben oder nicht. Eine gerechte Branche geht alle etwas an.