Ortsbegehung

Um Chemnitz zu verstehen, muss man den Kaßberg verstehen

Patricia Holland Moritz hat einen Roman über den Chemnitzer Kaßberg geschrieben. Eine Wiederbegegnung mit einem geschichtsträchtigen Stadtquartier

Er kommt zurückhaltend daher, so zurückhaltend wie die Stadt, die ihn umgibt. Dieser Kaßberg, der tatsächlich nur ein Hügel ist. Das haben Gegenden so an sich: dass man ihnen ihre Geschichte nicht ansieht. Damit sich eine neue Geschichte entrollen kann. Aber vielleicht muss auch nicht alles einen Grund haben. Die Häuser an den schachbrettartig angelegten Straßen ergeben eines der größten Gründerzeitviertel Europas. Wie ein wohlgehütetes Geheimnis lag dieser Superlativ über Jahrzehnte hinweg in der Erinnerung der Stadt begraben. Dann wurde der Kaßberg irgendwann auf Wikipedia erwähnt, fand aber auch dort nur wenig Beachtung.

Weder Karl-Marx-Stadt noch Chemnitz, nicht das Chemnitz vor 1953 und nicht das ab 1990, konnten jemals viel mit Superlativen anfangen. Eine der "größten" Industriestädte Deutschlands im 19. Jahrhundert, ebendann das "Zentrum" des Maschinenbaus mit der "ersten" Werkzeugmaschinenfabrik des Kontinents, heute mit einer der "bedeutendsten" Kunstsammlungen des Landes – eine so potente Stadt schien sich jeglicher Aufmerksamkeit entziehen zu wollen. 

Während jede komatöse Kleinstadt mindestens einen ihrer Kirchtürme zum spektakulärsten Bauwerk seiner Zeit zu küren wusste, verbarg Chemnitz seine Schätze, und das in dem Irrglauben, sie damit zu hüten. Für bessere Zeiten. Die besseren Zeiten sind angebrochen. Jetzt. Und die Aufmerksamkeit scheint merkwürdig auf der Stadt zu lasten. Als misstraute Chemnitz jedem Kompliment eines Fremden, nickt die Stadt den einzigartigen Kaßberg, die monumentale Industriearchitektur, die außergewöhnliche Kunstsammlung und den Titel Kulturhauptstadt Europas 2025 beinah verlegen weg. 

Verstecke Schokoladenseiten

Wären da nicht die Unverdrossenen, die innerhalb und außerhalb dieser Stadt leben und an ihr hängen und nie verlernt haben, "geboren in Karl-Marx-Stadt" zu sagen, wenn sie zu den Jahrgängen 53 bis 89 gehören, weil sie längst begriffen haben: In einer unter-schätzten Stadt gibt es einiges mehr an Schätzen zu heben als dort, wo sie in Glasvitrinen zu betrachten sind. So spüren sie nun den Fährten nach, mitten hinein in die eigene Vergangenheit und damit in die der Eltern und noch Älteren, längst Verstorbenen, die allesamt so wenig anfangen konnten mit Komplimenten über ihre Stadt – und vielleicht zu wenige davon vernommen haben. 

Dieses geschundene Stück Sachsen, dem man die Bombennacht vom 5. März 1945 auch vierzig Jahre später noch ansah, versteckte seine Schokoladenseiten, etwa den Blick von der ­Hohen Straße hinunter ins Tal der Chemnitz. Hier, am Rande des Berges, steht heute noch die Schule. Wer zu DDR-Zeiten in Karl-Marx-Stadt Abitur machte, ging an die FES, die KMO oder die Neubauer. Friedrich-Engels-Schule und Karl-Marx-Oberschule waren gut im Gespräch, die EOS Theodor Neubauer fiel im provinziellen Dünkel etwas hinten runter. Die FES war die "Penne" auf dem Kaßberg, einst das Königliche Gymnasium. Hier lag einem die Stadt zu Füßen, nur dass einem dieser Blick so unwichtig war wie der tägliche Blick aufs Pausenbrot.

1872 erbaut, ist dieser repräsentative Schulbau in Neorenaissance noch heute einer der besten Vertreter seiner Gattung in Chemnitz, später mit seinem charakteristischen Eingangspavillon im Stil der Neuen Sachlichkeit versehen, durch den über ein Jahrhundert hinweg namhafte Schüler ein- und ausgingen. Wovon den weniger namhaften zu DDR-Zeiten nichts erzählt wurde: Die Schriftsteller Stefan Heym und Stephan Hermlin, damals noch die Jungen Helmut Flieg und Rudolf Leder, hatten hier gemeinsam die Schulbank gedrückt, wie dreißig Jahre vor ihnen Karl Schmidt-Rottluff, der, wie in seinen Biografien zu lesen ist, allen in seiner geistigen Entwicklung weit vorauseilte und der, wie wir heute wissen, ein berühmter Expressionist werden sollte. 

Ein Stolperstein lässt innehalten

An namhaften Töchtern und Söhnen mangelte es nicht, nur waren ihre Namen weder auf den Straßenschildern noch in den Lehrbüchern zu lesen. Genauso wenig wie Spuren der Synagoge am Stephanplatz zu sehen waren, in welcher die Fliegs, die Leders und die Oppenheims einst gebetet hatten. Lediglich zwei Pyramideneichen, um 1900 von einem besonders zuversichtlichen Menschen links und rechts vom Portal der Synagoge gepflanzt, hätten etwas vom Leben und Tod des Gotteshauses erzählen können, wären sie nur gefragt worden. Diese Familien waren nur drei von Dutzenden Familien jüdischer Herkunft, die auf dem Kaßberg eine prosperierende Gemeinde gebildet und als Sammler und Mäzene die Basis der heutigen Kunstsammlungen Chemnitz geschaffen hatten. 

David Leder, der Vater von Stephan Hermlin, war als Händler mit Textilrohstoffen zu Wohlstand gekommen, den er in Werken von Paul Cézanne, Max Slevogt, Edvard Munch, Max Liebermann und anderen Namhaften anlegte. Eng befreundet mit dem damaligen Museumsdirektor Friedrich Schreiber-Weigand, verlieh Leder seine Bilder in den 1920er-Jahren an die neu gegründete Städtische Kunstsammlung. Niemand wüsste heute, wo das Haus der Leders einst gestanden hatte, bliebe man nicht an dem goldfarbenen Stolperstein in der Heinrich-Beck-Straße hängen, der innehalten lässt und erinnert. An Alfred, den Sohn von David Leder, der zu jung in einem Kriegsmanöver endete, bevor er sich einen Namen machen konnte.

In der Villa daneben die Kaufleute Joachimsthal, Alfred und Elli, damals die am längsten in Chemnitz lebenden Juden. 1942 nach Belzyce deportiert und dort ermordet. Wo Villenlandschaft in spröden Neubau übergeht, ist Geschichte nie nur eine Geschichte, sondern immer die eine aus vielen, die überliefert wird. Wir wissen nicht, ob sich die beiden Jungen Rudolf und Helmut, die später zu Stephan Hermlin und Stefan Heym wurden, auf dem damaligen Kaiserplatz – heutigen Gerhart-Hauptmann-Platz – vor einhundert Jahren begegnet sind. Ob sie Räuber und Gendarm spielten ebenda, was ihre jüdischen Väter in Erinnerung an den gerade verrauchten Ersten Weltkrieg die Köpfe schütteln ließ. Dass sie nur zweihundert Meter Luftlinie voneinander entfernt aufwuchsen, weiß nur, wer heute an Stolpersteinen und Gedenkplaketten entlang über den Berg geht und von selbst auf den Zusammenhang stößt. 

Hier verdichtet sich die Erinnerungskultur der Stadt zu einer Einheit

Wir wissen nicht, ob sich ihre Väter, David Leder und Daniel Flieg, unten im Tal am Theaterplatz in der "Kunsthütte" begegneten, der sie als Sammler und Mäzene angehörten. In den gediegenen Räumen der späteren Städtischen Kunstsammlung. Mit den Mitgliedern der Künstlergruppe "Brücke" Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff. Mit den anderen Fabrikanten wie Hugo Max Oppenheim, dem ersten jüdischen Bürger in Chemnitz, der seiner Stadt ein Gemälde schenkte. Wissen nicht, ob David Leder ebenda seinen Freund, den Textilkaufmann Erich Goeritz traf, beide rauchend, beratschlagend; eine Szene, die Lovis Corinth 1921 als "Die Kunstfreunde" auf Leinwand verewigte. Wissen wenig von den Menschen, ohne die es weder den Superlativ der Chemnitzer Industrie noch den seiner Kunst gäbe.

Um Chemnitz zu verstehen, muss man den Kaßberg verstehen. Jenen Hügel also, auf dem sich die neu entdeckte Erinnerungskultur der Stadt zu einer Einheit verdichtet. Heute sind die Fassaden freigelegt von der Patina sozialistischer Fahrlässigkeit. Damals spiegelten sie den Wohlstand, der an den Wänden in den Wohnungen dahinter hing und von dem sich nur noch in den überlieferten Erinnerungen der Bewohner etwas finden lässt. Wie jene des Literaturwissenschaftlers Wolfgang Emmerich über die Acht-Zimmer-Wohnung, in der im März 1945 ein Blüthner-Flügel in Flammen stand, im Biedermeier-Sekretär eine Phosphorbombe steckte, das Nolde-Gemälde "Der Mann mit der Kiepe" verbrannte – und die Mutter nur zurückkam, um die Federbetten zu retten. 

Chemnitz und der Kaßberg sind die zwei Eichen am Stephanplatz. Würdig und wissend stehen sie am Ort der 1938 niedergebrannten Synagoge. So tief verwurzelt wie ihre stummen Zeugen.