Interview mit Künstler von Wedemeyer

"1989 kollidiert mit der digitalen Gegenwart"

Clemens von Wedemeyer, "Faux Terrain", 2019
Foto: Courtesy KOW und Galerie Jocelyn Wolff

Clemens von Wedemeyer, "Faux Terrain", 2019

In Leipzig versetzt Clemens von Wedemeyer die Montagsdemonstrationen in den virtuellen Raum von heute. Ein Gespräch über die Macht der Masse, die Paranoia im Digitalen und die Kontrolle von Menschen durch Algorithmen 

Herr Wedemeyer, für die Ausstellung in Leipzig ist ein neues Video mit dem Titel "70.001" entstanden. Es geht um den Herbst 1989. Am 4. September 1989 war die erste Montagsdemonstration in Leipzig. Sie haben in den 90er-Jahren in Leipzig studiert. Begleitet Sie das Thema schon lange oder war das 30. Jubiläum Anlass für die Arbeit?

Als ich 1999 zum Studium nach Leipzig kam, war das unter uns Kunststudierenden kaum ein Thema. Ich habe mich in den vergangenen Jahren mit Massendarstellungen im digitalen Raum beschäftigt und für eine Arbeit mit dem Gedanken gespielt, Gruppendynamiken durch virtuelle Figuren zu visualisieren. Dabei habe ich mich auch gefragt, ob man die Montagsdemonstrationen von 1989 in einem virtuellen Leipzig simulieren könnte. Als ich von der GfZK zur Ausstellung eingeladen wurde und klar war, dass parallel das 30. Jubiläum ist, bot sich die Umsetzung dieser Idee an.

Das Video zeigt in 16 Minuten, wie sich animierte Menschenmassen vom Platz vor der Nikolaikirche aus der Innenstadt über den Leipziger Ring bewegen. Was wollen Sie zeigen?

Dem Video liegt die absurde Vorstellung zugrunde, dass die Menschen nach den einzelnen Montagsdemos nie nach Hause gegangen sind, sondern die Teilnehmer der nächsten Demo immer dazugekommen wären, bis Leipzig platzt. Die Montagsdemos haben sich damals massiv transformiert, von den Anfängen der Reformbewegungen für Demokratie und Bürgerrechte im Herbst 1989 über den Fall der Mauer bis zur Fraktionsbildung vor den Wahlen im März 1990. Anfang und Ende waren nicht deckungsgleich. Meine zweite Idee war, die Demos ins Heute und zugleich in den virtuellen Raum zu transformieren. 1989 kollidiert mit der digitalen Gegenwart. Das Abbild der Leipziger Innenstadt erinnert an Google Earth. Die Tonspur speist sich am Anfang noch aus Originalsound und geht in eine rein digitale Komposition über. Tag und Nacht wechseln dabei alle 40 Sekunden.

Ein Verfremdungseffekt der irritiert, denn die meisten Bilder und Videos von den Montagsdemonstationen sind schwarz-weiß und auch die farbigen Aufnahmen meist im Dunkeln aufgenommen. Dadurch schwingt etwas Unheimliches, Düsteres mit. Geht es auch um einen Abgleich der medialen Bilder mit der Realität?

Ich wollte vor allem etwas produzieren, dass die Betrachter dazu bewegt, ihr eigenes Bild abzugleichen. Am 9. Oktober 1989 sollen 70.000 Personen unterwegs gewesen sein. Die Rekonstruktion im digitalen Raum hat gezeigt, dass es wahrscheinlich sogar mehr waren. Es gibt also auch über 70.001 verschiedene Erfahrungen. Das Video vermittelt keine historische Wahrheit, vielmehr gehe ich ins Fiktionale: Das Stasi-Gebäude, heute Museum in der "Runden Ecke", fällt in meinem Video in sich zusammen, obwohl das gar nicht passiert ist. Ich habe mit den Mitteln des Digitalen übertrieben und verfälscht, um die Geschichte in eine zeitgenössische Reflexion zu bringen. Es gab auch Gegendemos zu den Montagsdemonstrationen, von Gruppen, die mit der Entwicklung hin zu einer schnellen deutschen Einheit nicht einverstanden waren und die Gefahr des Nationalismus sahen. Diese Transformation der Montagsdemos ist ein Bild für Eigenarten von Massen, die auch Elias Canetti in "Masse und Macht" von 1960 beschreibt. Massen sind nie statisch. Doch derart komplexe Sachverhalte lassen sich durch sie schlecht darstellen.

Wie haben Sie zu den Montagsdemonstrationen recherchiert?

Neben den Gegendemos hat mich vor allem die Wirkung der Bilder interessiert, die die Menge produziert hat. Dafür habe ich zum Beispiel Gesine Oltmanns, eine wichtige Aktivistin bei den ersten Montagsdemonstrationen, getroffen. Aber auch Aram Radomski, der am 9. Oktober 1989 mit Siegbert Schefke heimlich Aufnahmen von einem Kirchturm in Leipzig gemacht hat, die dann im Westfernsehen ausgestrahlt wurden und so wiederum auch weite Teile der DDR-Bevölkerung erreichten.

Sie waren damals 15 Jahre alt und lebten im westdeutschen Göttingen. Erinnern Sie sich an die Fernsehbilder?

Wahrscheinlich, aber ich weiß nicht mehr an welche. Göttingen lag ja relativ nah an der DDR, das waren nur zehn Kilometer bis zur Grenze. Ich erinnere mich, dass ich am 3. Oktober 1990 nach Heiligenstadt gefahren bin und mir die Einheits-Feierlichkeiten im Osten angeschaut habe. Ich war angesichts der vielen deutschen Fahnen geschockt. Das war in Göttingen nicht vorstellbar.

Das Format hat sich längst verselbstständigt. Gegen Hartz IV haben damals extrem große Montagsdemonstrationen, zum Teil mit 60.000 Teilnehmern, stattgefunden. Auch die Bilder von 1989 werden vereinnahmt: Die AfD hat in diesem Frühjahr in Leipzig Plakate mit einer Aufnahme der Montagsdemo vom 16. Oktober 1989 aufgestellt. Der Enkel des Fotografen, Martin Neuhof, ist dagegen vorgegangen. Das Landgericht hat die Nutzung des Bildes inzwischen untersagt.

Auch in diesem Herbst wird die AfD probieren, 1989 für sich zu reklamieren.

Zeitzeugen könnten die digitale Verfremdung der Ereignisse in Ihrem Video "70.001" als verharmlosend empfinden. Gerade zu Beginn der Demonstrationen war keineswegs klar, dass diese friedlich verlaufen und ob man abends wieder am Küchentisch oder im Gefängnis sitzen würde.

Keine Frage, Angst war ein Thema. Dafür lassen sich kaum adäquate Bilder finden. Sie stehen den tatsächlichen Erfahrungen gegenüber.

Auf der Documenta 13 verdeutlichten Sie bei "Muster" durch im Dreieck zueinander stehende Projektionswände Simultaneität verschiedener Zeitebenen. Greifen Sie für "70.001" auf ein ähnliches Präsentationsmittel zurück, um Vielstimmigkeit bzw. Uneindeutigkeit der Montagsdemonstrationen zu betonen?

In der GfZK wird "70.001" auf einer Videowand präsentiert. Parallel kommen in diesem Raum auch Zeitzeugen wie Gesine Oltmanns und Aram Radomski zu Wort sowie Experten zur Regulierung von Gesellschaft im digitalen Raum. Es geht mir um die Konfrontation von damals und heute über die Ästhetik. Davor stehen drei verschiedene Sitzgelegenheiten, die an eine Tribüne, einen Käfig oder ein Parlament erinnern. Sie verweisen auf verschiedene Sprecherpositionen und sind so gebaut, dass sie sich nicht sinnvoll zusammenschieben lassen. Während der Laufzeit wird es in dem Raum sechs Veranstaltungen und Workshops zu Themen geben, die mit der Ausstellung zusammenhängen und die von den Kuratorinnen Anna Jehle und Franciska Zólyom zusammen mit der Schriftstellerin Heike Geissler geplant werden.

In einem älteren Interview mit Sabine Huzikiewiz haben Sie formuliert, dass das Kino für Sie ein Denkraum sei, in den die Zuschauer gleichzeitig eintreten. Im Austausch nach der Vorführung würden Differenzen und damit Individuelles in der Wahrnehmung der einzelnen Zuschauer sichtbar.

In diesem Raum in Leipzig kann man sogar schon während der Vorführung Meinungen austauschen. Es ist ein helles Kino.

Das Thema begleitet Sie offenbar schon lange: In "Mass" von 1998 montierten Sie Archivaufnahmen von Massenaufläufen und Demos aus den 1920er-Jahren. Auch "Masse und  Macht" (1960) von Elias Canetti nannten Sie bereits als wichtige Inspiration. Wann hatten Sie das Buch zum ersten Mal in der Hand?

Mir fiel das Buch während des Studiums zufällig in die Hände. Mich haben damals vor allem Gruppendynamiken interessiert. Für mein Diplom an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig habe ich einen Film gemacht, der von einer Crew handelt, die eine große Statistenszene drehen will. Die Menge verselbständigt sich jedoch und rennt weg. Dieser Film läuft auch jetzt in der Ausstellung.

Inwieweit hilft Canetti heute beim Verständnis digitaler Massen?

Mit dem Begriff des Unsichtbaren. Er meinte damit ungreifbaren Mengen, Tote oder Geister, aber auch Bazillen oder Viren, die Ängste auslösen. Heutzutage produzieren Klicks bei YouTube eine unsichtbare Masse, die Einfluss auf die Meinungsbildung hat, wobei ich nicht weiß, ob die 80.000 Klicks nicht vielleicht durch Bots zustande kamen. Das Digitale ist mit Paranoia verbunden. Gleichzeitig können Usermassen einen realen Einfluss haben, was die Reaktion der CDU auf das RezoVideo deutlich gezeigt hat.

Als Bild sind digitalen Massen bisher kaum greifbar, stellen sich meist nur durch eine Zahl neben einem nach oben gestreckten Daumen dar.

Das Kino und auch die Computerspielindustrie haben bereits Möglichkeiten entwickelt, digitale Daten greifbar darzustellen. Das kennt man zum Beispiel aus dem Film "Herr der Ringe", wo im Hintergrund digital animierte Orks herumlaufen. Die haben eine gewisse künstliche Intelligenz und können Entscheidungen innerhalb bestimmter Parameter treffen. Die Möglichkeiten, mit solchen "virtuellen Agenten" Daten zu visualisieren, beschreibe ich im Video "Transformation Scenario" von 2018. Eine Firma bietet darin Simulationen zur Zukunft des sozialen Zusammenlebens an, zusammengesetzt aus Algorithmen, die mit realen Daten angefüttert werden.

Inwieweit können solche Werkzeuge und Algorithmen künftig zur Vorhersage oder Kontrolle von realen Menschenmassen eingesetzt werden?

Zum Teil passiert das schon heute, etwa um vorauszusagen, wie sich Produkte verkaufen werden. Firmen, die Zugriff auf große Datenmengen haben, sind da im Vorteil. Mittels solcher Simulationen kann man berechnen, wie groß eine Straße in Mekka oder vor einem Fußball-Stadion sein muss, damit es keine Massenpanik gibt. Ich übertreibe das in der Arbeit im Sinne einer Parallelsimulation: Wäre die Welt besser, wenn man sie durch Computeralgorithmen steuert, statt durch emotionale politische Entscheidungen? Oder wäre das dann eine Art von Techno-Faschismus?

Sie zeigen in Leipzig noch eine weitere Neuproduktion: "Faux Terrain". Es geht um Geschichte und Gegenwart der Schweiz, um Fragen der Isolation und Gemeinschaft. Im Vergleich zu „70.001“ ist es nicht digital: Eine junge Frau stört eine Führung in einem Museum, spricht nicht, erscheint als Fremdkörper, läuft durch ein leeres Gebäude.

Jede Arbeit in der Ausstellung hat eine eigene Ästhetik, eine andere Grammatik. Bei diesem Film bin ich ohne Drehbuch vorgegangenen und habe auch selbst Kamera gemacht, während ich sonst oft mit einem Kameramann zusammenarbeite. Die Ausstellung wandert weiter nach Luzern. Ich hatte Interesse an Räumen, die die Schweizer Gesellschaft spiegeln: Das historische Panorama zeigt die französische Armee im deutsch-französischen Krieg 1870/71. Die Schweizer haben die Soldaten aufgenommen, sonst wären sie von den Preußen zerrieben worden. Sie mussten ihre Waffen abgeben, wurden für ein Jahr interniert und konnten dann zurückgehen. Dieses Ereignis ist identitätsstiftend für die neutrale Schweiz. Das Panorama ist interessant, weil es ein Vorläufer des Kinos ist. Auch Jeff Wall hat davon eine Fotografie gemacht.

Die Architektur des zweiten Gebäudes erinnert an ein Panopticon. 

Das ist ein Bunker im Sonnenberg unter Luzern. Im Falle eines Atomkriegs hätten dort 20.000 Menschen versorgt werden können. Das ist die größte Zivilschutzanlage der Welt: In der Schweiz gibt es für jeden Bürger ein Bett in einem Bunker, unter dem eigenen Haus oder in den Bergen. Vor ein paar Jahren wurden einige dieser leer stehenden und dunklen Zivilschutzräume für die Unterbringung von Geflüchteten genutzt.

Und wer ist die junge Frau?

Man weiß nicht, wer sie ist. Sie spricht nicht und ist dadurch eine Projektionsfläche für die Betrachter.

Laut Presseankündigung fragen Sie in diesen neuen Arbeiten, wie Menschen sich zusammenschließen, welche Dynamiken innerhalb von physischen und virtuellen Menschenmengen entstehen und wie soziales Verhalten durch Simulation erprobt oder reguliert wird. Welche Haltung liegt dem zugrunde: Wollen Sie diese Fragen im besten Wortsinn illustrieren oder Antworten liefern?

Mir geht es darum, miteinander Unverbundenes zu verbinden, so wie 1989 und die digitale Revolution. Daraus entstehen dann vielleicht neue Fragen. Ich versuche, mit unterschiedlichen Bildsprachen mehr als eine Tür zu öffnen. Das Dokumentarische steht dabei gleichberechtigt neben der Fiktion. Die Einzelausstellung in Leipzig ist mit acht Videoarbeiten wie ein thematisches Puzzle und gibt Überblick über eines meiner Interessensfelder.

Bei Ihrer ersten Einzelausstellung in Deutschland, 2016 in der Hamburger Kunsthalle, standen noch Orte im Vordergrund. 

Ich arbeite gerne ortsspezifisch, hier in Leipzig etwa mit der Ausstellungsarchitektur. In dieser Ausstellung geht es nun mehr um gesellschaftliche Simulationen, zum Beispiel in einem Video, das eine Katastrophenübung des ASB in Leipzig dokumentiert, oder eines, das ein Programm der holländischen Polizei zur Kontrolle von Demonstranten zeigt. Bereits in Hamburg war "Die Probe" von 2008 zu sehen, in dem ein Politiker kurz nach der Wahl entscheidet, die Macht doch nicht anzunehmen, obwohl die Menge schon jubelt. Diese Arbeit zeige ich jetzt auch in Leipzig.