Vorläufige Einschätzung von Beratergremium

Documenta-Beirat fordert Stopp von Filmvorführung wegen Antisemitismus

Warteschlange vor dem Fridericianum in Kassel
Foto: Uwe Zucchi/dpa

Warteschlange bei der Documenta Fifteen vor dem Fridericianum in Kassel, Sommer 2022

Das von den Documenta-Gesellschaftern eingesetzte Beratergremium hat eine Einschätzung zu den Antisemitismus-Vorwürfen gegen die Weltkunstschau in Kassel veröffentlicht. Es fordert, propalästinensische Propagandafilme nicht mehr zu zeigen - Künstler protestieren und sprechen von Zensur

Das Gremium zur fachwissenschaftlichen Begleitung der Documenta Fifteen hat empfohlen, die Vorführung der "Tokyo Reels", einen Beitrag des Kollektivs Subversive Film, zu stoppen. Es handele sich dabei um eine Kompilation von pro-palästinensischen Propagandafilmen aus den 1960er- bis 1980er-Jahren. Problematisch an diesem Werk seien nicht nur "die mit antisemitischen und antizionistischen Versatzstücken versehenen Filmdokumente, sondern die zwischen den Filmen eingefügten Kommentare der Künstler:innen, in denen sie den Israelhass und die Glorifizierung von Terrorismus des Quellmaterials durch ihre unkritische Diskussion legitimieren", heißt es in einer Pressemitteilung des Gremiums, die auf der Website der Documenta veröffentlicht wurde.

Die Filme würden eine größere Gefahr darstellen als das bereits entferne Werk "People’s Justice" des indonesischen Kollektivs Taring Padi. Das Gremium bewertet als antisemitisch, dass Israel in den "Tokyo Reels"-Filmen ein "faschistischer" Charakter vorgeworfen werde und dass unterstellt werde, es betreibe einen "Genozid" an den Palästinensern. Dadurch werde Israel mit dem nationalsozialstischen Deutschland gleichgesetzt.

Eine Vorführung der Filme hält das Gremium nur für denkbar, "wenn diese in einer Form kontextualisiert würden, die ihren Propagandacharakter verdeutlicht, ihre antisemitischen Elemente klar benennt und historische Fehldarstellungen korrigiert".
Darüber hinaus hat ein Teil des Gremiums eine weitere Pressemitteilung veröffentlicht, die offenbar nicht den Konsens aller Mitglieder gefunden hat - hier fehlen die Unterschriften der Museumsdirektorin Marion Ackermann sowie des Experten für Kolonialgeschichte Facil Tesfaye.

In diesem Statement wird der Documenta Fifteen vorgeworfen, nahezu alle Werke, die sich mit dem arabisch-israelischen Konflikt beschäftigen, brächten "einseitig kritische bis hin zu dezidiert israelfeindlichen Haltungen" zum Ausdruck. Der Eindruck einer "kuratorischen Unausgewogenheit" werde dadurch verstärkt, dass in der Ausstellung weder Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus und der Shoah und ihren Folgen noch jüdischen Perspektiven auf den Nahostkonflikt Raum gegeben werde. Das kuratorische und organisationsstrukturelle Umfeld habe "eine antizionistische, antisemitische und israelfeindliche Stimmung" zugelassen. Das siebenköpfige Expertengremium war Anfang August von den Gesellschaftern der Documenta, der Stadt Kassel und dem Land Hessen, eingesetzt worden, um den Antisemitismus-Eklat um die Schau aufzuarbeiten. 


In einem offenen Brief an den Documenta-Aufsichtsrat wehren sich namentlich nicht genannte "Künstlerinnen und Künstler und Mitglieder der Lumbung Community" gegen die nun erhobenen Vorwürfe des Beirats und beklagen eine "rassistische Tendenz in einer schädlichen Struktur von Zensur“. Der Bericht des Gremiums reproduziere schlecht recherchierte Behauptungen aus den Medien und weise keine wissenschaftlichen Belege vor.

Die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Rememberance Alliance (IHRA), auf die sich der Bericht offenbar stütze, sei hochproblematisch, da sie Kritik am Staat Israel und Kritik des Zionismus mit Antisemitismus gleichsetze. Dadurch schaffe das Gremium einen Kontext, in dem Lumbung und seine Struktur, palästinensische Künstler und ihre Werke und schließlich die Documenta Fifteen als ganzes unvermeidlich verdammt würden. Der Bericht benutze keine klare Methodik noch definiere er die Begriffe, mit der er arbeite. Man weise diese "aggressive, ungeprüfte und absichtlich demütigende Form von Kritik und Urteil" zurück.

In Verbindung mit dem Brief tauchten am Wochenende zahlreiche Protestplakate an verschiedenen Ausstellungsorten der Documenta mit verschiedenen Slogans auf der Documenta Fifteen auf. Sie lauteten unter anderem: "Free Palestine from German Guilt" oder "Make workers Board / Not Scientific Board". Weder die künstlerische Leitung der Documenta Fifteen noch die Geschäftsführung haben sich bislang zu dem Statement des wissenschaftlichen Gremiums oder zu den Protestaktionen geäußert. Am Sonntag waren die "Tokyo Reels"-Filme im Hübner Areal in Kassel weiterhin zu sehen.

Protestplakate am Werk von Más Arte Más Accion auf der Karlswiese in Kassel 
Foto: Elke Buhr

Protestplakate am Werk von Más Arte Más Accion auf der Karlswiese in Kassel