Familiengeschichte

Land der Väter und Verräter

In Karl-Marx-Stadt ereignete sich einst ein Familiendrama "von shakespeareschem Ausmaß". Es ist die Geschichte von Horst und Thomas Brasch und von den Söhnen, die vor den Vätern sterben

Über allen Neubausiedlungen liegt eine seltsame Ruhe. Hier ist die Ruhe extrem – vielleicht noch ein wenig Kindergeschrei, dort ein kläffendes Hündchen auf einem Balkon. Sonst strahlen sich die auffallend fröhlich angestrichenen Wohnkästen stumm gegenseitig an. Das Chemnitzer Neubaugebiet Hans Beimler, heute Wohngebiet an der Geibelstraße, ist vom DDR-Vorzeigeprojekt zum Rentner­paradies geworden. 

Die Plattenbausiedlung oder, wie man hier noch sagt, Neubausiedlung wurde 1970 fertiggestellt, nach nur drei Jahren Bauzeit, stellenweise auch in erschreckender Baudichte. Etwa 14.000 Menschen leben hier. Trotzdem ist die Siedlung still, die Rasen um die Wohnblöcke sind gut gepflegt, gelegentlich ein Blumenbeet, alles gut sortiert – auch wenn hier und da der obligatorische kettenrauchende "Sozialfall" am Fenster hängt. 

Es ist Mittag, ein paar Kinder spielen Fußball auf der schmalen Straße, es riecht nach Kartoffeln, und aus einem weit geöffneten Fenster im Erdgeschoss strömt der Geruch angebratener Zwiebeln. Doch ausgerechnet dieses Kleinbürger-Reservat hat einmal als Kulisse für eine geradezu antike Tragödie gedient – ein Königsdrama von shakespeareschem Ausmaß, epischer Breite und Radikalität. Ein Drama voller kleinerer Dramen, die sich immer wieder um Rebellion und Verrat ranken. Ein Drama, das zugleich für die DDR steht und ihre Kulturkämpfe – und das schon ihren späteren Untergang markiert, die Zeitenwende. 

"Im Parteibetrieb eine ambivalente Rolle"

Dieses Drama spielt in einer Zeit, als Chemnitz noch Karl-Marx-Stadt hieß. In diesem Drama geht es um die Familie Brasch, die beispielhafteste Funktionärs- und Künstlerfamilie der DDR. Es geht um den Verfall eines Clans in seiner ganzen Dimension. Es geht um den Vater und Patriarchen Horst, die Mutter Gerda, die Söhne Thomas, Peter und Klaus und die Tochter Marion Brasch. In dieser Karl-Marx-Stadt, in dieser Hans-Beimler-Siedlung, verbrachten sie ihre letzten und entscheidenden gemeinsamen Jahre. Diese Familie ist vielleicht nur mit einer zweiten Familie vergleichbar, die ebenso tragisch zerbrach: den Manns. Die Braschs sind deren DDR-Version. 

Im Zentrum steht Familienoberhaupt Horst Brasch. Vier Jahre war er stellvertretender Minister für Kultur der DDR. Da hatte er schon eine beispiellose Parteikarriere hinter sich: den Aufstieg eines Außenseiters, eines aufstrebenden jüdischen Emigranten. Aufgewachsen in Bayern, konvertierte er zwar zum Katholizismus, musste jedoch aufgrund seiner jüdischen Herkunft fliehen. Mit den sogenannten Kindertransporten kam er nach Großbritannien, wo er die Bibel gegen das Kommunistische Manifest tauschte und in der Atmosphäre junger antifaschistischer Idealisten die FDJ mitgründete, deren Vorsitzender er Anfang der 1940er-Jahre wurde. Da war Horst Brasch 18 Jahre alt.

Dort lernt Horst Brasch seine spätere Frau Gerda kennen, eine Wiener Jüdin mit großbürgerlichem Hintergrund. Beide helfen ab 1945 in der DDR, den Sozialismus aufzubauen. Gerda wird Journalistin. 1945 wird Thomas geboren, Klaus 1950, Peter 1955 und 1961 Marion. Horst Braschs Karriere als SED-Parteifunktionär beginnt. "Er hatte auch im Parteibetrieb eine ambivalente Rolle", erzählt seine Tochter Marion, die letzte noch lebende Zeugin dieser Familiengeschichte. "Einerseits der kluge, weltgewandte, charismatische Mann, der fließend Englisch sprach, der aus dem westlichen Exil kam. Andererseits hatte er durch seine Weltgewandtheit etwas sehr Bürgerliches. Das wurde sehr beargwöhnt."

Das Familienleben wird zum Shakespeare-Stück

Die Radiomoderatorin Marion Brasch hat über ihre Familie einen Roman geschrieben. "Ab jetzt ist Ruhe", heißt er. Redet man mit ihr über ihren Vater, merkt man sofort, wie sehr sie ihr Leben auch mit dem Verstehen ihrer Familie verbracht hat. Sie spricht mit einem fast ausgestellten Berliner Dialekt, der aber im Gegensatz zum West-Berliner Slang mit gelassener Schnoddrigkeit daherkommt, etwas Zurückgelehntes hat und gleichzeitig etwas sehr Aufmerksames. Marion Brasch ist die unabhängige Zeugin dieser Familie: Jahrelang hat sie zwischen den Fronten gelebt, zwischen einem scheinbar harten Vater und drei wilden Söhnen, zwischen Ordnung und Rebellion. Das kann einen zerreiben oder zu größter Klarheit führen. 

Das Ende von Horst Braschs Nomenklatura-Karriere ließ nicht lange auf sich warten. Als 1968 die Panzer des Warschauer Paktes den Prager Frühling niederwalzen, sind in der DDR vor allem viele junge Menschen in Aufruhr. Thomas, als aufstrebender Dichter der Prenzlauer-Berg-Boheme mit 23 Jahren der älteste und prominenteste der Brüder, verteilt mit seiner Freundin, der Liedermacherin Bettina Wegner, Flugblätter. Später wird Thomas behaupten, sein Vater habe ihn angezeigt und die Staatssicherheit persönlich angerufen, um ihn verhaften zu lassen. Er wird zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt und nach 77 Tagen auf Bewährung entlassen. Aber der Patriarch selbst verliert seinen Posten. 

Spätestens hier wird das Familienleben zum Shakespeare-Stück. Vielleicht eins wie "Heinrich IV.": Darin schließt sich der Thronfolger Prinz Hal, anstatt seinem Vater, dem König, tatkräftig zur Seite zu stehen, dem dicken, prahlerischen Sir John Falstaff und dessen wilden Streichen an. Er ergreift Partei für Rebellion und Anarchie gegen Autorität und Ordnung. Der alternde König sieht in seinem ungebändigten Sohn die Strafe für begangenes Unrecht. Wie in einem mittelalterlichen Moralitätenspiel müssen sich die Protagonisten zwischen Gut und Böse entscheiden. Aber wer ist gut, wer ist böse in der DDR – in einem Land, das seinen Bürgern alle Entscheidungen unentwegt abnimmt? 

Thomas Brachs Roman ist ein Symptom

Horst Brasch wird zunächst an eine Parteischule nach Moskau versetzt, dann mitsamt der Familie nach Karl-Marx-Stadt, als Zweiter Sekretär der SED-Bezirksleitung. Man kann aber auch sagen: strafversetzt. Zwar wird er morgens noch von einem Fahrer im Wartburg abgeholt und in die Parteizentrale gefahren. Aber die Macht ist dahin. Er ist düpiert. Und das Verhältnis zu seinem Sohn Thomas zerstört. 

"Karl-Marx-Stadt war eine fremde Welt, die nicht verlockend war", erinnert sich Marion Brasch. Als Horst Brasch mit Frau Gerda, Sohn Klaus und Marion 1971 ankommt, wird vor der Parteizentrale gerade die riesige Karl-Marx-Büste eingeweiht, Bronze, 40 Tonnen schwer. Heute rauchen dort ein paar Jugendliche in Bomberjacke und mit kurzen Haaren. Ein paar Meter weiter skaten ein paar Jungs am berühmten Kopf des Erfinders des "wissenschaftlichen Sozialismus" vorbei. Auch heute spürt man die Widersprüche dieser Stadt an jeder Ecke – auch sie mit shakespearescher Wucht: Es ist immer ein wenig zu angespannt. Als würden hier die Montagues aus "Romeo und Julia" an einer Ecke rauchen und die Capulets auf Skateboards an ihnen vorbeifahren. 

"Es wurde bei uns in der Familie nicht darüber gesprochen, was im Hintergrund dieser Versetzung passiert war. Mein Vater hat sie nie auf die Festnahme von Thomas bezogen. Sondern er erzählte es so, als wäre das eine Auszeichnung, hier zu sein, was es natürlich nicht war. Aber er hat es so gedreht." Thomas Brasch reist bald mit seiner Freundin, der Schauspielerin Katharina Thalbach, nach West-Berlin aus und schreibt seinen erfolgreichsten Roman "Vor den Vätern sterben die Söhne", eine ödipale Tragödie aus der Feder eines Mannes, der folgerichtig später Shakespeare übersetzen wird. Trotz Verbots in der DDR wird es auch hier fleißig gelesen. In der Bundesrepublik landet der Roman in den Bestsellerlisten. Bis heute ist er nicht nur ein Roman aus der DDR. Er ist ein Symptom. 

Ein strenger und autoritärer, aber großzügiger Mann

Auch der Bruder Klaus verlässt die Familie in Karl-Marx-Stadt, um in Berlin Schauspieler zu werden. Er spielt Rollen in "Jakob der Lügner" und "Solo Sunny". Der andere Bruder Peter wird Schriftsteller, ebenfalls in Berlin. Marion Brasch, die Jüngste, bleibt in der Neubauwohnung in Karl-Marx-Stadt und fungiert als letztes Verbindungskabel zwischen den Familienmitgliedern. Sie sieht sich noch heute, wie sie als Kind im Wohnzimmer steht und alle anfleht: Habt euch lieb!

Sie habe das nie als Bürde gesehen, sagt sie. Zwar war der geliebte Vater auch für sie nicht lesbar. Nicht klar. Oft zurückgezogen und verschlossen. "Das Verhältnis zu meinem Vater war aber immer gut. Er war ein sehr strenger, autoritärer Mann, aber auch sehr großzügig", erzählt Marion Brasch. "Er hatte Erwartungen an mich, die meine Brüder nicht erfüllt haben. Ich habe einen Beruf gelernt, war also Arbeiterin, bin für ihn in die Partei eingetreten. Für ihn! Nicht für mich. Ich wollte ihm einen Gefallen tun. Ich habe ihm dann das Gefühl gegeben, etwas richtig gemacht zu haben. Ich habe ihn sehr geliebt, er hat mich auch immer beschützt."

Vor allem seine Integrität stellt Marion nicht infrage. Sie glaubt, die habe mit seinem katholischen Hintergrund zu tun. "In Karl-Marx-Stadt kam der Schulleiter zu uns nach Hause und sagte: ,Genosse Brasch, möchtest du nicht, dass wir deine Tochter zur Erweiterten Oberschule delegieren, damit sie Abitur macht?‘" Dorthin durften nur die Besten. Ich hatte einen Notendurchschnitt von 2,4. Es war also absurd. Mein Vater lehnte das ab, weil es seinen Prinzipien widersprach. Das ist etwas, das ich von ihm gelernt habe, und dafür bin ich ihm dankbar."

Er opferte seine Familie für seine Prinzipien

Aber wie passt diese Integrität zu dem Verrat an seinem Sohn? Marion Brasch hat sich, das merkt man an der Ruhe, mit der sie ihrem Gegenüber versucht, ihre Familie zu erklären, jahrzehntelang damit beschäftigt. Und sie stellt kurz klar: "Es ist nicht eindeutig und nirgendwo belegt, dass mein Vater die Stasi verständigt hat, um Thomas zu Hause abzuholen. Thomas hat das behauptet. Ich habe es recherchiert, und es steht nirgends. Mein Vater hat nirgends angerufen. Aber es kann auch Verrat am Sohn sein, es geschehen zu lassen."

Das ist vielleicht das größte Opfer: Zur Integrität dieses Mannes gehörte zwar einerseits, keine Privilegien anzunehmen, denn er wollte bei niemandem in der Schuld stehen. Andererseits opferte er für die Prinzipienfestigkeit seine ganze Familie. In diesen vier Jahren Karl-Marx-Stadt hat die Familie Brasch ihren Boden verloren. Die Mutter erkrankt zudem schwer und stirbt 1975 in Karl-Marx-Stadt. Fünf Jahre später folgt der Sohn Klaus mit nur 30 Jahren. Er nimmt eine Überdosis Alkohol und Schlaftabletten. 1989, ohne seinen Sohn Thomas je wiedergesehen zu haben, stirbt auch Horst Brasch an Krebs. Drei Monate vor dem Fall der Mauer.