Künstlerinnenduo Fort über Krisen-Projekt

"Es hat etwas Befreiendes, seine Sorgen zu teilen"

Das Künstlerinnenduo Fort hat die Sorgen der Bevölkerung in Siegen gesammelt und daraus ein Archiv angelegt. Ein Gespräch mit Jenny Kropp und Alberta Niemann über die Kunst des Zuhörens und den Unterschied zwischen Sorgen und Angst


Alberta Niemann und Jenny Kropp, wie kam Ihr Fokus auf das Thema Sorgen? 

Das Thema hat uns schon länger beschäftigt. Während der Corona-Zeit hatten wir eine künstlerische Krise, bei der wir alles in Frage gestellt haben, sämtliche Ideen und Gedanken, die in dieser Zeit aufkeimten haben wir zerredet und zunichte gemacht. Irgendwann haben wir gemerkt, dass wir uns im Kreis drehen, dass wir feststecken und nur aus der Krise herausfinden, wenn wir die Krise selbst zum Thema machen. Wir haben dann begonnen, diese zermürbenden, teils destruktiven Gespräche aufzunehmen. Die Idee war, diese Tonaufnahmen in einen Dialog zu bringen, der von zwei animierten Raben, in einem ansonsten leeren Raum gesprochen werden sollten. Doch aus verschiedenen Gründen landete die Idee dann doch erstmal in der Schublade. 

Und dann?

Als wir Anfang letzten Jahres für das Artist in Residence Stipendium der Universität und des Museums für Gegenwartskunst in Siegen vorgeschlagen wurden, kam uns die Idee wieder in den Sinn. Bei dem Stipendium steht die Entwicklung von Arbeiten im Fokus, die im öffentlichen Raum stattfinden und sich kritisch und partizipativ mit der gesellschaftlichen Situation und aktuellen Fragen auseinandersetzen. Es war Februar 2022 und der Ukraine-Krieg hatte gerade begonnen. Das war ein großer Schock, der mit vielen Sorgen und Ängsten einherging. Wir sahen uns mit finsteren Zeiten konfrontiert, die zusammen mit den unzähligen anderen Krisen unserer Gegenwart, den Folgen der Corona-Krise, dem Klimawandel, der Polarisierung der Gesellschaft, Flüchtlings-Krisen, steigendem Rechtsextremismus und der Gefährdung von Demokratie, erdrückend ausweglos erschienen. So kamen wir auf die Gedanken, den Fokus von unserer eigenen Krise auf die Gesellschaft auszuweiten. 

Inwiefern?

Wir wollten wissen, was Menschen um uns herum denken, welche Sorgen und Ängste sie mit sich herumtragen. So entstand die Idee zum "Archiv der Sorgen", das wir von Oktober 2022 bis Oktober 2023 in Siegen realisierten. Das Programm war auch mit einem Lehrauftrag verbunden, sodass Studierende der Fächer Kunst und Sozialpädagogik an dem Projekt partizipieren konnten. 

Wie sah das "Archiv der Sorgen" konkret aus?

Zunächst haben wir diesen Begriff in den Raum gestellt, indem es überall in der Stadt Plakate gab, die das Thema auf unterschiedliche Weise aufgegriffen haben. Dazu gab es Performances, die nicht angekündigt waren und bei denen wir mit den Studierenden wie eine Reisegruppe durch die Stadt gelaufen sind und Aktenkoffer hinter uns herzogen, die mit "Archiv der Sorgen" beschriftet waren. Das erregte in einer kleineren Stadt wie Siegen Aufmerksamkeit, die Leute fragten sich, was es damit auf sich hatte. Im Dezember 2022 standen wir dann in einer kleinen Bretterbude in der Innenstadt, die in roter Neonschrift mit "Archiv der Sorgen" überschrieben war. Drei Wochen lang sammelten wir zusammen mit den Studierenden die Sorgen der Menschen. Man konnte sie entweder aufschreiben und in einen am Büdchen befestigten Briefkasten einwerfen oder sie direkt erzählen. Mit Erlaubnis der Teilnehmerinnen wurden die Sorgen dann aufgezeichnet und später anonym transkribiert. Man konnte aber auch eine E-Mail schreiben oder auf den Anrufbeantworter sprechen. 

Wie wurde das angenommen?

Wir wussten anfangs überhaupt nicht, was auf uns zukommt und ob jemand mitmachen wird. Gleich am ersten oder zweiten Tag ging dann die Sorge einer Frau ein, die lautete: "Die Leute sind verschlossen, behalten ihre Sorgen für sich. Ich komme aus Kolumbien, da hat man große Familien. Selbst die Cousine des zweiten oder dritten Grades, alle gehören dazu. Und man spricht miteinander. Hier behalten alle ihren Kummer für sich, stürzen sich von der Autobahnbrücke oder gehen vor den Zug.“ Und es ist wahrscheinlich etwas dran, dass Deutschland ein Land ist, in dem man seine Sorgen eher für sich behält. Daher rührte ja auch unsere Angst, dass niemand mitmacht. 

Aber?

Diese Sorge stellte sich als unbegründet heraus. Innerhalb von drei Wochen sammelten wir über 400 Beiträge. Wir waren wirklich überrascht und berührt, dass die Menschen so offen waren. Es gab Leute, die eine halbe Stunde eine Geschichte erzählt haben und Leute, die nur einen Satz oder ihre Sorgen in Stichpunkten formuliert haben. Wir haben aber auch sehr direkt danach gefragt, das passiert im Alltag wahrscheinlich eher selten. Gerade bei Social Media zeigen die meisten Leute ja eher die Sonnenseite von sich. 

Wir leben in einer Zeit, in der Krisen sehr präsent sind. Hat sich das in den Sorgen der Menschen niedergeschlagen? Ging es eher um weltpolitische oder individuelle Probleme?

Beides. Es waren viele persönliche Themen und Geschichten: Einsamkeit, Ausgrenzung, Mobbing, finanzielle Probleme, steigende Preise, das Gefühl, die Rechnungen nicht mehr bezahlen zu können. Ein Kind schrieb: "Niemand hört mir zu, Meine Mutter ist meine größte Mobberin." Ein anderes Kind: "Ich mache mir Sorgen um meinen älteren Bruder. Seitdem mein Halbbruder Suizid begangen hat, sperrt er sich in sein Zimmer ein und redet mit niemandem." Bei den gesamtgesellschaftlichen Sorgen spielte zum Beispiel die Klimakrise eine große Rolle. Vor allem Kinder und Jugendliche haben das Gefühl geäußert, keine Zukunft mehr auf diesem Planeten zu haben. Aber auch der Ukraine-Krieg war ein präsentes Thema. Es gab eine große Empathie mit den vom Krieg betroffenen Menschen, einige Teilnehmerinnen hatten aber auch ganz konkrete Sorgen um Angehörige oder Angst, dass der Krieg nach Deutschland kommt. Wenn man das "Archiv der Sorgen" jetzt machen würde, hätte der Ukraine-Krieg wahrscheinlich keinen ganz so großen Anteil mehr. Das zeigt auch, wie schnell Themen in der öffentlichen Wahrnehmung verblassen, obwohl sie nach wie vor existieren. Sie werden einfach von anderen Krisen überdeckt, wie zum Beispiel aktuell dem Nahostkonflikt.

Was war die Intention hinter dem Projekt? 

Als Künstlerinnen reflektieren wir unsere Gegenwart. Und unsere Wahrnehmung war, dass Sorgen und Ängste in den letzten Jahren allgegenwärtig waren. Es war natürlich eine Überwindung, mit den Menschen in Kontakt zu treten, denn als Künstlerinnen arbeiten wir ja eher solitär im Schutzraum unseres Ateliers. Bei dem Projekt hatten wir nicht den Anspruch, eine wissenschaftliche Studie zu erheben, es ging uns nicht um Statistiken. Wir wollten etwas über die Menschen erfahren. 

Man könnte denken, Krisen sind heute präsenter als früher. Oder stimmt das vielleicht gar nicht, und wir nehmen es nur so wahr?

Ich glaube, es ist eher eine Frage der Wahrnehmung. Jede Zeit hat ihre Krisen. Aber die Probleme verändern sich natürlich. Beispielsweise dieses Thema der Einsamkeit, das auch durch soziale Medien zugenommen hat. Viele Kinder oder Jugendliche treffen sich weniger, vieles findet über Instagram, Tiktok oder WhatsApp statt. Dazu kommt in den letzten Jahren die Klimakrise und die Ohnmacht der jungen Generation. Zur Zeit des deutschen Wirtschaftswunders bis in die 90er-Jahre hat man noch konsumiert ohne Reue, da hat sich das Bewusstsein über die Auswirkungen auf die Welt mittlerweile sehr verändert. 

Welche Strategien haben Sie, um mit Sorgen umzugehen? Oder haben Sie etwas von den Befragten gelernt?

Der Fokus unseres Projekts lag darauf, die Sorgen von Menschen anonym zu archivieren und diese in eine künstlerische Arbeit zu übersetzen. Dass wir damit gleichzeitig eine Art von sozialer Arbeit geleistet haben, war eigentlich gar nicht beabsichtigt. Natürlich war uns bewusst, dass wir potentiell mit schwerwiegenden Problemen in Berührung kommen, bei denen wir keine Hilfestellung geben können, da wir nicht psychologisch ausgebildet sind und dies auch nicht die Aufgabe des Projektes war. Für diese Fälle hatten wir alle möglichen Hilfsangebote zusammengestellt, auf die man verweisen konnte. Trotzdem war es natürlich nicht möglich, die Sorgen ganz neutral entgegenzunehmen. Es gab viele emotionale Momente, es wurde oft geweint, aber auch gelacht. Denn es hat natürlich etwas Befreiendes, seine Sorgen zu teilen. Viele Menschen haben gesagt, wie gut es ihnen getan hat, die Sorgen auszusprechen, oder haben angeregt, dass es so einen Stand immer in der Stadt geben müsste: ein niedrigschwelliges Angebot, ohne Tür und Anmeldung. Insofern zeigt das Projekt die Notwendigkeit, dass Menschen über ihre Sorgen sprechen, dass es jemanden gibt, der ihnen zuhört.

Kann Kunst gegen Sorgen helfen? Welchen Mehrwert kann sie dem Thema geben? 

Ich bin nicht sicher, ob Kunst wirklich Sorgen vertreiben kann, aber ich glaube, im besten Sinne kann Kunst etwas in einem bewegen, einen Moment schaffen, in dem man sich im Anderen erkennt oder verbunden mit der Welt fühlt. Oder auch das Gegenteil: dass man durch Kunst etwas spürt, das einem fremd ist, ganz weit weg - und so zum Nachdenken anregt, Sicherheiten in Frage stellt, den Horizont erweitert.

Wurde das Thema "Sorgen" in der Kunst schon ausreichend aufgegriffen?

Ängste und Sorgen sind als Aspekte sicher in vielen Arbeiten enthalten, wie das ganze Spektrum menschlicher Empfindungen. Christoph Schlingensief hat 2003 beispielsweise die "Church of Fear" gegründet, die sich kritisch mit der Verbreitung von Angst auseinandersetzte. Ansatzpunkt war das Bekenntnis zur eigenen Angst - vor dem Alter, vor dem Tod, vor Terror oder Verrat. Da Ängste und Sorgen uns immer umgeben, werden sie auch in der Kunst immer eine Rolle spielen.

Wie haben Sie das "Archiv der Sorgen" in der Installation umgesetzt? 

Dort sitzen fünf Raben auf einem Haufen schwarzer Müllsäcke und tun ihre Sorgen kund, mal im Monolog, mal im Dialog, mal sich ins Wort fallend, mal synchron im Chor. Wir hatten die Arbeit ursprünglich mit zwei Raben geplant und haben dies auf fünf Raben erweitert, weil die Sorgen sehr heterogen waren und wir ihnen unterschiedliche Stimmen geben wollten. Die Schauspielerinnen und Schauspieler Hassan Akkouch, Sophie Rois, Lars Rudolph, Lilith Stangenberg und Oskar Tonke Luzoro haben dafür die Texte in der Akademie der Künste eingesprochen. Was den Ausstellungsort angeht, haben wir uns für das Rathaus entschieden, also einen Ort, der symbolisch für die Bürgerinnen der Stadt steht. 

Warum die Raben und die Müllsäcke?

Es war uns wichtig, dass es eine Abstraktion gibt, die frei von den Vorstellungen und Projektionen ist, die wir uns aufgrund von Kleidung, Hautfarbe, Attraktivität oder Alter von Menschen machen. Die Figur des Raben hat uns fasziniert, weil sie sowohl positiv als auch negativ konnotiert ist. Der Rabe steht für Unglück, nicht umsonst sagt man "Unglücksrabe" oder "Pechvogel". Gleichzeitig sind Raben hochintelligente Tiere, die die menschliche Sprache nachahmen können. Auch in Märchen und Mythologie spielen Raben eine wichtige Rolle. Beim nordischen Gott Odin saßen beispielsweise die Raben Hugin und Munin auf seinen Schultern und haben ihm von der Welt erzählt. Auf die Müllsäcke sind wir gekommen, weil wir eine Erhöhung für die Raben brauchten und sie nicht auf den weißen Sockel setzen wollten. Müllsäcke waren ein naheliegendes Motiv, Raben und Müll sind in der Stadt eng miteinander verbunden, weil Müll den Vögeln als Nahrungsquelle dient. Zudem sind die Müllsäcke, genau wie die Sorgen, eine Art Archiv. Eine Sammlung, von der man nicht weiß, was drinsteckt. 

Was unterscheidet Sorgen von Angst? 

Sorgen sind konkreter, Angst ist diffuser. Sorgen lassen sich klarer formulieren und konkret benennen. Angst lässt sich dagegen schwerer in Worte fassen, sie ist eher etwas Körperliches.

Gerade im politischen Kontext werden Sorgen teilweise instrumentalisiert - eben mit der Argumentation, dass alle Sorgen ernst genommen werden müssen. Dabei können auch rassistische Ressentiments als "Sorgen" verharmlost werden. Rechtspopulisten geben gern vor, die Stimme "besorgter Bürger" zu sein ... 

Das ist ein komplexes Thema. Ich denke schon, dass alle Sorgen ernst genommen werden müssen. Denn wenn man einfach weghört oder diesen Sorgen keine Aufmerksamkeit schenkt, dann manifestieren sie sich und werden größer. Es gibt viele Menschen in Deutschland, die sich nicht gesehen oder repräsentiert fühlen, die unzufrieden sind. Dann hat die AfD plötzlich 25, 35 oder sogar 50 Prozent. Diese Entwicklung setzt sich jetzt im Westen fort. In Hessen, wo ich geboren bin, ist die AfD zweitstärkste Kraft, und diese Entwicklung macht mir große Angst. Das Thema der Angst vor Zuwanderung spielt dabei natürlich die größte Rolle, dabei braucht Deutschland Zuwanderung, um als Wirtschaftsmacht bestehen zu bleiben. Wenn die Debatte in der Öffentlichkeit positiver geführt werden würde, wäre dem Problem wahrscheinlich schon ein Stück weit geholfen. Denn nicht jeder, der die AfD wählt, ist ein Nazi. Aber das Thema ist komplex und ist auch nicht der Fokus unserer Arbeit. Wir haben allerdings nicht gefiltert und alle Sorgen in die Arbeit aufgenommen. Es waren glücklicherweise keine fremdenfeindliche Sorgen dabei, dafür aber beispielsweise viele religiöse Sorgen. 

Haben Sie auch eigene Sorgen bei den Menschen wiederentdeckt?

Die Sorgen haben manchmal schon sehr berührt. Einmal kam ein alter Mann, der mir erzählte, er müsse sich nun von vielen Dingen trennen, aber es falle ihm schwer, sich von seinen Büchern zu trennen, denn er betrachte die Bücher als seine Freunde. Ich denke auch noch oft an einen etwa zehnjährigen Jungen aus Syrien, der hatte seine Mutter seit vier Jahren nicht gesehen, und die Geschwister waren gestorben. Oder eine ältere Frau, die erzählte, dass sie Krankenschwester sei und ihre Mutter von zu Hause pflegen wolle, die Krankenkasse ihr aber nur Steine in den Weg lege, weil es für die praktischer sei, wenn die Mutter ins Heim käme. Die hatte wahnsinnige Power und Liebe in sich, dafür zu kämpfen, dass ihre Mutter bei ihr bleiben darf. Es hat mich aber auch berührt, dass jemand schrieb: "Ich habe Angst, dass ich meine Gefühle nicht kenne". Oder: "Ich habe Angst, dass ich das Monster bin, das ich vermute.“ Ich könnte das ewig fortsetzen, aber am besten schaut man sich die Installation selbst an.