Marat Guelman, gehen wir zunächst zurück ins Jahr 1990, als in Ihrer Moskauer Galerie die Ausstellung "Wenn ich ein Deutscher wäre" von Boris Mikhailov eröffnete. Erzählen Sie davon!
In den 90er-Jahren nannte man meine Galerie in Moskau die "ukrainische Mafia", weil ich Oleksandr Rojtburd, Arsen Savadov und Mikhailov ausstellte. Ich selbst komme aus Moldawien, aus Chișinău, und deshalb war mir die Ukraine sehr nah. Die Ausstellung "Wenn ich ein Deutscher wäre" war Boris Mikhailovs erste in Russland, und sie war provokant, ein echtes politisches Statement.
Inwiefern?
Wir alle stammten aus der sowjetischen Vergangenheit, und selbst wenn wir als Kinder Krieg spielten, wollte niemand der Deutsche sein. Bob, also Boris, stellte die Frage: Was bedeutet es, nicht man selbst zu sein? Oder gar jemand, über den man nicht sprechen durfte, ein Fremder? Damals waren George Soros und ich die Hauptfiguren in der ukrainischen zeitgenössischen Kunst. Soros gründete das Zentrum für zeitgenössische Kunst und ich eine Filiale meiner Galerie in Kiew. Ich kannte also fast alle Künstler in der Ukraine. Aber Bob Mikhailov stand für sich. Er war eine eigenständige Figur.
Was zeichnete ihn aus?
Bob war älter als ich, und es war spannend zu sehen, wie sich unsere Beziehung entwickelte. Man sah mich immer als eine Art "Chef", weil ich Galerist war. Es gab eine Hierarchie. Das war eine echte Herausforderung, für die ich heute sehr dankbar bin, denn daraus entwickelte sich eine gewisse Ethik. Der Künstler ist stark vom Galeristen abhängig, aber bei mir hing immer ein Schild an der Tür: "Der Künstler hat immer recht." Das war für meine Mitarbeiter gedacht, damit sie nie denken, sie seien die Direktoren und die Künstler nur Ausführer. Der Künstler hat das Recht, Vertragsklauseln zu brechen, wenn es um die Verwirklichung seines Ichs geht. Bob hat mir eine Impfung verpasst, damit ich nicht den Kontakt zur Realität verliere. Obwohl er mein Künstler war, stand er auf dem Olymp, ich war nur der Galerist.
Aber konnten Sie 1990 schon ahnen, dass er ein Weltstar werden würde? Hatten Sie ein Gespür dafür, Stars zu entdecken?
Ich bin ein sehr selbstbewusster Mensch, also bin ich eher überrascht, dass einige meiner Künstler keine Superstars geworden sind, als darüber, dass Bob einer geworden ist.
Glauben Sie, der Wunsch, nicht der zu sein, der man ist, ist etwas Postsowjetisches?
Vor der Perestroika dachte ich, mein Leben sei bis zur Rente sekundengenau vorgezeichnet. Alles war klar: Arbeit, Studium, Gehalt, Wohnung. Und ich wollte nur weg aus dieser Realität. Irgendwann 1987/88 versuchte ich mich als Künstler, als Schriftsteller, ich wollte selbst etwas schaffen. Aber meine Freunde kritisierten mich sehr direkt: Alles, was ich machte, sei schlecht, banal, ich sei unbegabt. Aber ich lernte, Talent in anderen zu erkennen. Als dann in der Perestroika talentierte Leute aus dem ganzen Land nach Moskau strömten, wusste ich, wie man anderen Talenten dient. So begann meine Karriere, und ich wurde bekannter als die Künstler selbst.
Dass ein Galerist bekannter ist als seine Künstler, kommt vor.
In den 90er-Jahren wurde Kunst weltweit "agentisch". Der Künstler musste aus seiner eigenen Identität heraus sprechen. Wenn du Feministin warst, machtest du feministische Kunst. Wenn du Frontsoldat warst, schriebst du Kriegsprosa. Nicht abstrakt, sondern konkret aus dir selbst heraus, aus eigener Erfahrung. Aber was sollte ein gewöhnlicher, weißer, sowjetischer Mann machen? Unsere Innenwelt war nicht nur uninteressant, sie war längst in der klassischen Literatur abgehandelt. Niemand fand uns interessant. So entstand ein Spiel, ein Theater in der bildenden Kunst. Man erfand eine Figur, spielte eine Rolle. Bob spielte den Deutschen, Oleg Kulik den Hund.
Ihr Wunsch, jetzt selbst Künstler zu werden – was ist das? Auch ein Spiel, eine Rolle? Eine Haltung? Oder eine neue Realität?
Das ist natürlich eine Haltung. Dem ging vieles voraus. In einem Kollektiv gibt es verschiedene Rollen. Nicht alle sind gleich, wie im Film: Es gibt Regisseur, Kameramann, Drehbuchautor ... Die Autorenrolle wird in der Kunstwelt zunehmend porös. Schon früh versuchten mich Künstler in Kollektive zu ziehen. Ich hielt das für unzulässig, auch wenn ich mitdiskutierte. Denn andere Künstler verlieren sonst das Vertrauen. Ich war Galerist. Ich war im Business. Aber manchmal nannte man mich einen "Künstler für Künstler". Das schmeichelte mir sehr. Mein kreativer Standpunkt dehnte sich aus. Und dann kamen zwei starke Anstöße: Der Krieg und die Künstliche Intelligenz. Denn im zivilen Leben spielt es keine Rolle, wer du bist. Du äußerst dich – oder du schweigst. Wenn du dich äußerst, dann aus deiner eigenen Perspektive. Und das war entscheidend. Ein Thema entstand, das ich nicht publizistisch ausdrücken konnte: Putins nukleare Erpressung. Ich wusste, er kann es tun, aber gleichzeitig darf man sich diesem Druck nicht beugen.
Haben Sie eine klare sozial-politische Identität?
Heute klingt das scherzhaft so: Berliner Galerist, lebt in Montenegro, stammt aus Moldawien, ist Jude, gilt in Russland als ausländischer Agent. Sicherlich, in Russland gibt es noch den Guelman, und der wird dort wohl ewig bleiben.
Warum Berlin?
Jede Stadt entspricht ihrer Zeit. Berlin passt zur heutigen Zeit. Hier kann jeder Künstler sein. Hier gibt es keinen Markt – das ist Nachteil und Vorteil zugleich. Keine Agenten der Vergangenheit, die sich gegen Neues wehren. Berlin war kein Zufall.
Haben Sie Angst vor Statusverlust? In Russland waren Sie ein Großer, jetzt sind Sie in einer Stadt mit vielen Künstlern.
Man beginnt Neues nicht, wenn man will, sondern wenn man das Alte nicht mehr tun kann. Ein etablierter Künstler in Berlin wird nichts Neues tun, weil der Markt das Alte verlangt. Ja, mir wurde alles genommen, was ich aufgebaut hatte. Jetzt, wo es in Berlin 250 Galerien gibt, gründe ich die 251. Unter 8000 Künstlern bin ich der 8001. Heute bin ich ein junger Künstler in Berlin, aber ein sehr erfahrener Kunstmanager. Manchmal stört das eine das andere.
Und wollen Sie sich selbst verkaufen?
Ich will mich nicht selbst vermarkten. Umgekehrt gab es viele Beispiele, bei denen Künstler zu Kunsthändlern wurden, wie Gagosian. Ich bin nicht enttäuscht von meiner bisherigen Tätigkeit, das ist wichtig. Aber mein früheres Leben ist vorbei. Nicht durch meine Schuld. Jetzt beginne ich neu: Ich bin finanziell abgesichert, fürchte nichts – außer ein schlechter Künstler zu sein.
Sie wurden angegriffen, verprügelt, Ausstellungen wurden verwüstet. Werden Sie als Künstler genauso viel riskieren, wie als Galerist?
Ich bin nicht nur ausländischer Agent, sondern in Russland auch als Terrorist gelistet. Ich rechne mit Verfolgung durch russische Geheimdienste. Wenn mich jemand fragt, ob ich Angst habe, sage ich ehrlich: Nein. Ich habe mich damals gefürchtet, als noch niemand Angst hatte. Mut ist eine berufliche Eigenschaft für Menschen in der Kunst. Es ist ein öffentlicher Beruf, man darf nicht schweigen. Risiken sind in gesunden Gesellschaften geringer als in kranken. Die Künstler verhalten sich gleich, aber die Risiken ändern sich. Hier in Berlin liegen die Risiken nicht in der Kunst, sondern in Putins Versuch, seine Gegner zu erreichen. Aber die Schärfe meiner Aussagen möchte ich mir bewahren. Mein erstes Projekt ist aus meiner Bürgerhaltung heraus entstanden. Ich suche eine genaue, zutreffende und zugleich scharfe Aussage zu einem Thema, mit dem ich mich besser auskenne als andere. Ich kenne Putin, ich verstehe das System.
Wie war es eigentlich, Galerist in einem totalitären Staat zu sein und sich mit politischer, kritischer, oppositioneller Kunst zu beschäftigen? In einem totalitären Staat sind Sammler oft um die Macht herum versammelt, zumindest halten sie sich häufig raus.
Paradoxerweise gab es in Moskau, trotz mikroskopischem Kunstmarkt, genug demokratisch gesinnte Reiche für fünf Galerien und 20-30 erfolgreiche Künstler. Das war eine Besonderheit, aber ähnlich sah es in Venezuela aus. Außerhalb Moskaus war es so: Ein Gouverneur hatte einen Lieblingskünstler. Also schenkte man ihm dessen Bild zu Weihnachten.
Auch in Deutschland sind Museen durch Kürzungen unter Druck, in den USA werden sie von der Trump-Regierung gegängelt.
Der Rechtsruck ist eine gute Situation für Künstler. Je weniger mutige Politiker, desto lauter hört man mutige Künstler. Die Übergangsphase ist spannend. Ich kenne viele Künstler, die von New York nach Europa wollen.
Wird es den neuen Rock'n'Roll in Europa geben?
Es wird alles gleichzeitig geben. 90 Prozent eher leise, zehn Prozent laut. So ist Kunst: Niemand interessiert sich für 8000 Künstler. Du willst, dass drei etwas Lautes sagen, das alle hören. Ich glaube, gerade entsteht Raum für solche Aussagen. Vielleicht bin ich auch deshalb Künstler geworden. Mich interessiert weniger die Analyse des Gesellschaftskörpers, sondern ich will die Nadel finden, die diesen Körper stechen lässt: Damit er aufschreit.