Rückblick 2018

Hashtag-Kriege

Foto: dpa
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Ist Hashtag-Mobilisierung erfolgreich, führt sie wie hier im März 2018 in Paris zu konkreten Aktionen: Aktivisten machen im Louvre auf klimabedingte Migration aufmerksam und protestieren gegen das französische Ölunternehmen Total, einem bekannten Sponsor des Museums

2018 zeigten sich auch in der Kunstszene die Auswirkungen der neuen Debattenkultur. Ein Kommentar

Es gebe keine Manifeste mehr in der Kunst, sagte der Künstler Julian Rosefeldt vor drei Jahren, und ließ für sein  Videoarbeit "Manifesto" Cate Blanchett historische Texte der Kunstgeschichte sprechen, voll Kampfgeist und utopischer Energie.

Wirklich? In diesem Jahr scheint das Manifest zurück, lebendig und fordernd wie zu Zeiten der Avantgarde. Nur beziehen sich die Manifeste des Jahres 2018, die gern auch im Gestalt von offenen Briefen erscheinen, selten auf künstlerische Inhalte: Es geht um eine neue Machtverteilung im Kunstbetrieb. Und oft werden sie begleitet von einem schmutzigen kleinen Bruder: dem Shitstorm. Sie sind Teil einer neuen Art, Debatten zu führen, schaukelnd auf den Erregungswellen der sozialen Medien.

Vorgemacht hatte es im vergangenen Jahr die MeToo-Bewegung, die im Kunstbetrieb unter dem Hashtag #notsurprised agiert. Die Strategie ist immer gleich: Was als diffuser Aufruhr in den sozialen Medien beginnt, wird von einigen engagierten Protagonisten und Protagonistinnen in einem Forderungskatalog in Form gebracht, für den sich dann in rasender Geschwindigkeit Unterstützter und Unterstützerinnen finden. Je mehr und je gewichtiger die sind, desto größer ist die Aufmerksamkeit außerhalb der Hashtag-Welt.

Überraschend effektiv hat das beispielsweise bei der Affäre um die Ausstellung "Im Zweifel für den Zweifel: Die große Weltverschwörung" im NRW-Forum Düsseldorf funktioniert. Die Künstlerin Candice Breitz hatte auf der Facebook-Seite des NRW-Forums Kritik daran angemeldet, dass auf der Künstlerliste der Ausstellung zwölf Künstlern nur zwei Künstlerinnen gegenüber standen und, als ihr Post dort einfach gelöscht wurde, eine Debatte auf ihrer eigenen Facebook-Seite entfacht. Der Diskussion fehlte es nicht an Social-Media-typischer Rotzigkeit – die eine Seite sprach von "Pimmelsuppe", die andere von "Internet-Pranger" – aber sie mündete in einem offenen Brief, den sogar Museumsdirektoren wie Udo Kittelmann und Rein Wolfs unterschrieben: ein Manifest für mehr Diversität und Geschlechtergerechtigkeit in der Ausstellungspraxis.

Ein zweites Manifest schlug etwas weniger Wellen, dafür war die Wortwahl noch aggressiver: „Es kotzt uns an“, war das Statement überschrieben, dessen Unterzeichner und Unterzeichnerinnen sich als migrantische/Schwarze/indigene/lesbische/queere/trans Künstler*innen of Color identifizierten. Das Thema war ein Kunstbetrieb, der sich zwar eine kritische Auseinandersetzung mit Migration, Rassismus, Klassismus und Kolonialismus auf die Fahnen schreibt, gleichzeitig aber Diskriminierungen reproduziert und personell immer noch von Weißen beherrscht wird.

Anlass dieses Manifestes war ein schief gegangener Talk des Kurators Kasper König in den Münchner Kammerspielen mit der Künstlerin Cana Bilir-Meier. König konnte offenbar mit Bilir-Meiers Werk, das sich mit der Geschichte ihrer als Gastarbeiter nach Deutschland gekommenen Familie beschäftigt, nicht viel anfangen, forderte formale Stringenz ein und assoziierte dann bräsig und klischeehaft über türkische Milieus in Berlin Neukölln. Worauf Bilir-Meier ihm in einem Facebook-Post Rassismus vorwarf, was einen Shitstorm gegen den "Alten Weißen Mann" entfachte. König entschuldigte sich in einem langen Brief bei der Künstlerin. Doch wenige Tage später wurde das von ihr und anderen formulierte "Es kotzt uns an"-Manifest veröffentlicht, das noch einmal König als Auslöser benannte.

Im Kunstjahr 2018 steht der Fall Bilir-Meier gegen König für den alten Kampf jung gegen alt und auch für den neuen Kampf einer mittlerweile extrem diversen, migrantischen und internationalen Kunstszene gegen die immer noch weiß dominierten Institutionen. Er steht aber auch für die Unfähigkeit, jenseits der eigenen Blase im Austausch zu bleiben. Der eine schreibt Briefe, die andere zieht sich in den Schutz ihrer Online-Community zurück, wo ihr die zustimmenden Kommentare der anderen sicher sind. Die Kommunikation funktioniert schlechter als die zwischen Erde und Mars.

Kämpferische Manifeste zu verbreiten, ist in Zeiten des Hashtags einfacher geworden. Politisch können diese Manifeste wirksame Waffen sein im Kampf gegen ungerechte Strukturen. Doch  konstruktiver Streit zwischen Individuen und offene Gespräche face to face scheinen schwieriger denn je. 

UPDATE 31. Dezember: Cana Bilir-Meier weist uns darauf hin, dass sie den Brief von Kasper König ebenfalls handschriftlich beantwortet habe und seither zwei Mal mit ihm telefoniert habe