Zum Tode Hermann Nitschs

Liebe schmeckt nach Brot und Wein

Hermann Nitsch war der formal strengste Künstler der Wiener Aktionisten. Dennoch erregte er mit Tierkadavern und Blut immer wieder Protest. Am Ostermontag ist der Maler, Aktionskünstler und Bildhauer mit 83 Jahren gestorben

Es muss für Künstler eine schöne Zeit gewesen sein, als der Staat ihnen noch zutraute, die öffentliche Ordnung zu gefährden. 1973 stellte der Wiener Aktionskünstler Hermann Nitsch erstmals in der neapolitanischen Galerie Guiseppe Morra aus – und wurde prompt des Landes verwiesen. Seine Kunst aus Fleisch und die mit Blut gemalten Bilder erregten das Publikum bis zum Skandal. Eine kunstgeschichtliche Einsortierung solcher Derbheiten stand damals noch aus.

Der Blasphemie, Sittenwidrigkeit und Tierquälerei wurde Nitsch sein ganzes Leben lang bezichtigt – nur kam der Protest in den letzten Jahrzehnten längst nicht mehr von Behördenseite. Stattdessen feierten öffentliche Stellen einen etablierten Künstler, der Glanz und Sensationen und Touristen bringen sollte. Als 2008 etwa das vom treuen Freund Morra privat finanzierte Nitsch-Museum wiederum in Neapel eröffnete, hatte die Stadtverwaltung den Anfahrtsweg bereits vorbildlich ausgeschildert.

Der Aufschrei kam indes vermehrt von anderen Seiten. 2016 forderten 70.000 Unterzeichner einer Petition auf Change.org, dass eine Retrospektive in Palermo abgesagt werde. Schon wenige Monate zuvor nutzten Aktivistinnen und Aktivisten diese Plattform, um gegen eine geplante Schau im Museo Jumex in Mexiko-Stadt zu protestieren. Mit Erfolg: Die Ausstellung wurde tatsächlich verworfen. Ein Jahr später haben sich 14.000 Menschen in einer Petition gegen eine geplante Performance mit einem frisch geschlachteten Bullen auf der zu Australien gehörenden Insel Tasmanien gewandt.

Fast biedere Sehnsucht nach Ritualen

Man sieht hingegen mehr, wenn man die vermeintliche Provokation, die in der Darstellung von Gewalt unter Einbeziehung realen Bluts und echter Körper liegt, für einen Moment ausblendet. Man sieht, wie weihevoll und opernhaft die zahlreichen Vorstellungen des "Orgien Mysterien Theaters" waren, bei denen Darsteller Tierkadaver und -blut für quasireligiöse Rituale nutzen. Man sieht darin die schon fast biedere Sehnsucht nach Ritualen, Tradition und Religion. Und man sieht, wie der Künstler transzendent und abstrakt vorgestellte Grundbedingungen des Menschlichen auf Sinnlichkeit und Welthaltigkeit trimmte. Der Tod schmeckt in der Nitsch-Lehre nach gezuckertem Ziegenblut und heißer Tinte, die Liebe nach Brot und Wein.

Der in Wien geborene Nitsch begann Ende der 1950er-Jahre in der österreichischen Hauptstadt als Gebrauchsgrafiker zu arbeiten, doch schon wenige Jahre später begründete er mit Künstlern wie Günther Brus, Otto Muehl  und dem früh verstorbenen Rudolf Schwarzkogler den sogenannten Wiener Aktionismus. Ihre von Blut, Kot, Urin und anderen Körperflüssigkeiten geprägte Performancekunst löste heftige Reaktionen aus, versteht sich allerdings auch nur aus der Nachkriegszeit in Österreich: Wien war alles andere als entnazifiziert, sah sich aber offiziell als Opfer von NS-Deutschland. Nitschs Vater war im Krieg gestorben. Die Akte der Selbstverletzungen und Entgrenzung, die tabubrechende "Materialien" waren Katharsis und Auflehnung gegen die Verdrängung.

Keiner der Weiner Aktionisten hat seine Kunst so formalisiert und ritualisiert wie Hermann Nitsch mit immer aufwendigeren und andauernden Bacchanalien. Ein "Sechs-Tage-Spiel" auf seinem Schloss Prinzendorf nördlich von Wien bildete 1998 den Höhepunkt seines Schaffens. Nach seiner selbst verfassten, 1700 Seiten starken Idealpartitur feierte Nitsch mit seinen "Jüngern" ein sechstägiges orgiastisches Happening mit Musikbegleitung und 13.000 Litern Wein. Hunderte Liter Blut wurden verschüttet, kiloweise Trauben und Tomaten zerquetscht und zahlreiche Tierkadaver ausgeweidet.

Bewusstmachung von Gewalt

Auch das sieht man nach "Überwindung der Ekelschranke", wie Nitsch selbst die Unterdrückung der ersten instinktiven Abscheu nannte: Auch wenn seiner Kunst diese Intention fehlt, ist sie doch eine gar nicht so üble Bewusstmachung der Gewalt, die wir permanent und rechtlich abgesichert in der Massentierhaltung gegen andere Spezies ausüben. Ein gekreuzigter Schweinekörper, die Schüttbilder aus Tierblut? Gibt es ein stärkeres Bild für die ethische Fragwürdigkeit übermäßigen Fleischkonsums und den aufopferrungsreichen Dienst der Tiere am Menschen?

Im altehrwürdigen Wiener Burgtheater durfte Nitsch 2005 bei einer Aktion mit Blut planschen, wenn auch Sitze und Wände vorher mit Plastik abgedeckt wurden. Im vergangenen Jahr folgte eine Malaktion auf offener Bühne bei den Bayreuther Festspielen, als Teil einer halbszenischen Produktion von Richard Wagners "Walküre". Nitsch verfasste selbst unzählige eigene Kompositionen für sein "Orgien Mysterien Theater".

Obwohl er vom Theater und Oper gefeiert wurde, blieb sein Einfluss auf nachfolgende Generationen bildender Künstler  unterbelichtet. Dabei sind John Bock, Christoph Schlingensief und Jonathan Meese nur einige, die ihm zu Dank verpflichtet sind. Wie gleichen doch Nitschs Regale mit Reagenzgläsern den Apotheken Damien Hirsts, seine Penislverstümmelungsangstbilder den Unverschämtheiten Paul McCarthys. Der US-Künstler ging in seiner Bewunderung gar so weit, sich Ende der 1960er-Jahre schriftlich um eine Mitgliedschaft im Kreis der Wiener Aktionisten zu bewerben – ein Gesuch, das einstimmig abgelehnt wurde.

Am Ostermontag starb Hermann Nitsch im Alter von 83 Jahren in einem Krankenhaus in Mistelbach. Das "Orgien Mysterien Theater" haben immer an Passionsspiele erinnert, vielleicht hätte dem Künstler dieses Sterbedatum ja gefallen. Am Tag seines Todes eröffnete der Wiener Mäzen Helmut Essl gemeinsam mit der Pace Gallery in einer alten historischen Lagerhalle auf der venezianischen Giudecca eine große Ausstellung seiner 1987 geschaffenen Bilder. Und trotz oder gerade wegen seines Todes soll im Juli ein lange geplantes "Sechs-Tage-Spiel" zumindest teilweise aufgeführt werden. "Das haben wir ihm versprochen", sagte seine Frau Rita Nitsch der österreichischen Presseagentur APA.

(Mit dpa-Quellmaterial)