Bernd Koberling im Interview

"Wenn ich als Maler mit einem Kieselstein nicht das Leben ausdrücken kann, dann tauge ich nichts"

Bernd Koberling probierte als Maler viel aus, sein künstlerisches Werk hat Experimente und Brüche hinter sich. Das wird gerade in der Berliner Galerie Contemporary Fine Arts (CFA) sichtbar, die Bilder des heute 86-Jährigen aus den Jahren 1968 bis 1992 zeigt. Bei allem Wandel blieb er doch seinem Geburtsort Berlin treu. Warum er an der Stadt so hängt, es ihn gleichzeitig in die Natur treibt und wie Landschaftsmalerei politisch wird, erklärt der Künstler im Monopol-Interview

Herr Koberling, mit welchen Gefühlen schauen Sie auf Ihre alten Bilder in der CFA-Galerie? Viele Arbeiten haben Sie sicher schon länger nicht gesehen. 

In der Enge der Hängung war ich begeistert von der Intensität der Bilder, von der Dichte des Materials, des Farbklangs, vom Ausdruck, den die Bilder ausströmen nach so langer Zeit. Das Attribut "frisch" mag ich eigentlich nicht im Zusammenhang mit Kunst, es gehört eher in die Fleischerei oder den Fischhandel. Aber ich habe mich gewundert über die Direktheit, es war für mich auf die schönste Art irritierend. Ich konnte sehen, dass die Bilder aus einer Notwendigkeit entstanden sind. Ich habe bei der Arbeit die Tendenz, nicht ganz zufrieden zu sein. Sonst bräuchte man ja nicht ins nächste Bild schlittern. 

Denken Sie auch bei älteren Bildern schon mal: "An dieser Stelle hätte ich etwas anders machen sollen"? Oder sogar: "Das ist kompletter Mist"?

Es klingt vielleicht pompös, aber ein Bild ist kein gestanztes Industrieprodukt. Es ist die Anhäufung von Empfindungen, Gedanken, Gefühlen. Mit der Hand hergestellt. Es gibt nicht irgendeine Stelle im Bild, die nicht noch einer Veränderung bedürfte. Wobei ich weiß, wenn man sie alle perfektionieren und verändern würde, müsste man fast die sogenannte schlechte Stelle wieder hineinmalen, um die Spannung zu erzeugen, um auch die Widersprüche der Realität im Bild zu haben. Wenn man das Ganze nach einem tieferen Gefühl harmonisiert, ist es doch immer wieder nötig, die Spannung zu erhöhen und etwas Unperfektes in das Bild zu bringen. Aber trotzdem: Wenn ich bei einem Sammler eingeladen bin, gehe ich immer mit einem gewissen Herzklopfen daran. Hält das Bild? Wie sehe ich es heute? Doch wie sehr ich auch mit Zweifeln beladen bin, ich sehe jedem Bild an, wie weit ich es getrieben habe oder warum ich einen Prozess abgebrochen habe. Ich weiß genau, was mich an dem Bild interessierte.

Die Bilder in der Galerie umfassen einen großen Zeitraum. Trotzdem sind sie wahrscheinlich mit Erinnerungen verknüpft, die angenehm sein können oder unangenehm. 

Ich erinnere mich natürlich: Dieses Bild habe ich noch im alten Atelier in der Naunynstraße gemalt, jenes kommt aus der kurzen Kölner Zeit. Ich weiß, wer diese Bilder vor dem jetzigen Besitzer besessen hat. Auf der anderen Seite haben die Bilder sich völlig emanzipiert und aus ihrer Serie befreit. Das ist mir jetzt auch bewusst geworden.

Der Privatsammler, von dem diese Bilder stammen, hat über viele Jahre Bilder von Ihnen gekauft. Wie wichtig waren Sammler für Ihren Lebensweg?

Sie waren in einer bestimmten Zeit von unglaublicher Bedeutung. Es gab in den 1970er-Jahren so gut wie keine Galerien in Berlin. Als ich nach einer kurzen Phase in Köln wieder zurückkam, war ich kaum mehr als ein Gerücht. Ich habe keine Ausstellung gemacht, aber es gab den Freundeskreis, es gab befreundete Sammler. Wir haben von denen gelebt. Für meine Generation hat sich nur langsam ein Markt entwickelt. Bis 1968 habe ich noch mein Geld als Koch verdient. Der Tag war lang und ich war jung. Ich habe vormittags gemalt und von 16 Uhr bis Mitternacht gekocht. Danach bin ich noch einmal ins Atelier, und am nächsten Tag ging es weiter. Dass diese Doppelbelastung dann vorbei war, war natürlich sehr schön. 

In den 1980er-Jahren kam dann ein Kunstmarkt-Erfolg mit dem Label "Neue Wilde". Fanden Sie das gut? Sie waren ja ein Stück älter als die meisten Protagonisten dieser losen Bewegung.

Wir waren eine ganz andere Generation als die "Neuen Wilden"! Die meisten haben wir noch als Schüler erlebt. Ich habe nichts gegen den Begriff, aber er macht mich auch nicht glücklich, vor allem dann nicht, wenn ich als "Vater der 'Neuen Wilden'" bezeichnet werde. Aber es braucht wohl immer ein Label, und Vereinfachung gehört zur Kommunikation. Ich habe mich nie als Wilden, sondern immer als malerischen Maler gesehen, in den frühen 60ern mit dem Wunsch, wieder ein gegenständliches Bild zu malen nach der langen Zeit der abstrakten Malerei. Mit den "Neuen Wilden" begann überhaupt erst wieder die Wahrnehmung von Malerei. In den 1970er-Jahren war das fast noch eine verbotene Angelegenheit. Denken Sie an Jörg Immendorffs Bild "Hört auf zu malen“. Und Joseph Beuys hat gesagt, mit dem Kauf von Keilrahmen, Leinwand und Farbe beginne der Ärger bereits. Die 80er waren also aufregende Zeiten, intim und intensiv, und schon in den 90ern war das vorbei durch die stärkere Reflexion auf neue Medien. Aber man darf nicht vergessen, wir waren immer aktiv. Wenn niemand etwas für einen tut, muss man eben selbst was machen. Man muss mit allen fertig werden und sich emanzipieren, sowohl vom zu kleinen Kinderzimmer wie auch vom zu großen Kinderzimmer. Das muss bearbeitet werden. 

Das ist vielleicht eine Botschaft, die man jetzt den jüngeren Künstlern mitgeben kann, solange in Berlin und anderswo Sparen angesagt ist.

Es ist wie in der Bibel: die sieben fetten und die sieben mageren Jahre. Es ist großartig, wenn man ein Bild verkaufen, sich Material beschaffen kann und nicht nebenbei einen Job auszuüben hat. 

Sie haben lange unterrichtet. Gibt es denn irgendetwas, das Sie jüngeren Künstlern immer vermitteln wollten? 

Man kann keinen Lebensentwurf für Nachfolgende machen. Man kann in erster Linie nur über ein intensives Bild mit ihnen reden. Man hat ja auch nicht auf alle guten Ratschläge des eigenen Vaters gehört. Jeder Ratschlag beinhaltet auch das Wort "Schlag". Aber je intensiver das gegenseitige Verständnis ist, desto mehr kann man auch auf vieles aufmerksam machen. Dass das Leben zum Unterricht dazugehört, die gesellschaftliche und historische Reflexion, ist ganz selbstverständlich. 

Sollte man an Kunsthochschulen auch lehren, wie Künstlerinnen und Künstler mit dem Kunstmarkt umgehen?

Das ist eine heikle Angelegenheit. Der Kunstmarkt muss unterlaufen werden. Der Kunst-Kaufmann ist anders strukturiert als der Künstler, der authentisch mit seiner Arbeit und mit deren Verbreitung umgeht. Es ist ja bekannt, dass das Œuvre eines Künstlers in der Zeit, in der die meisten Bilder verkauft werden, auch am größten ist. Ob dann immer alle Bilder entschuldbar sind oder doch vielleicht ein wenig zu früh das Atelier verlassen? Ich will daraus kein Urteil, keine moralische Behauptung ableiten. Der Mensch ist in gewisser Weise verführbar und gewöhnt sich auch an Geld. Die geistige Hygiene ist in diesem Beruf unvermeidbar. 

Wenn ich Sie richtig verstanden habe, geht es darum, authentisch und selbstermächtigt zu bleiben. Nur kann man das niemandem beibringen: "Sei authentisch!"

Man kann auch die Kunst niemandem beibringen. Man muss sich auf sein Gefühl verlassen, es braucht Intuition, Disziplin, harte Arbeit, Selbstzweifel und Selbstkritik. Ich habe meinen Schülern immer gesagt: "Guck dir deine Arbeit genauso kritisch an, wie du über die Arbeit deiner Mitstudenten redest. Dann bist du schon ein gewaltiges Stück weiter."

Gibt es auch für Sie neue Impulse, die Sie jetzt aus den alten Bildern ziehen können? 

Diese Ausstellung hat mir gesagt: Sei mal wieder aufmerksamer, was die Oberflächen angeht. 

Sie meinen mit Oberflächen die Bildträger?

Es war für mich immer wichtig, auf welchem Untergrund ich gemalt habe, ob das Nessel, Jute, Leinwand, später sogar Aluminium und Holz und dann wieder Leinwand war. Der Bildträger ist von großer Bedeutung, aber ich meine auch, was dann auf diesem Bildträger an die Oberfläche kommt. Bei den "Überspannungen" habe ich den Duktus weggedrückt ... 

Das war eine von Ihnen in den 60er-Jahren entwickelte Maltechnik, bei der Sie mehrere Bahnen Nessel und Plastikfolie übereinander gespannt haben. 

Genau, und danach kamen die Jutebilder, und mit diesen rauen Oberflächen hatte ich wieder eine Dichte. Das klingt widersprüchlich, ist für mich aber wie ein linker und ein rechter Schuh.

Diese Experimente, diese Suche haben Sie in der Malerei an viele Orte geführt. Deshalb finde ich es bemerkenswert, dass Sie ihr ganzes Leben in Berlin geblieben sind. Was bedeutet Ihnen die Stadt? 

Ich bin in dieser Straße geboren – hier, wo wir jetzt gerade sitzen, in der Grolmanstraße. Ich habe meine ersten Gehversuche auf dem Savignyplatz gemacht. Ich kann mich heute noch daran erinnern, wie entsetzt meine Mutter war, dass mich Granatsplitter so faszinierten. Berlin war eine ganz besondere Stadt. Um ein richtiger Deutscher zu sein, hätte ich in der BRD geboren sein müssen. Wenn ich in Lappland in einer kleinen Hütte mit Skandinaviern zusammensaß, habe ich nie gesagt, dass ich aus Deutschland bin. Ich habe gesagt: "Ich komme aus Berlin". Ich habe versucht, in Köln zu leben, bin aber nach vier Jahren wieder weg. Ich bin eine alte, ruinierte Metropole des 19. Jahrhunderts gewohnt, mir hat alles andere nicht gefallen. Natürlich, von der Insel Westberlin musste man auch immer wieder weg. Denn die Gefahr, dass man hier einen Mauerschatten bekommt, war groß. Aber ansonsten lasse ich auf die Stadt nichts kommen. 

Sie haben Ihr Atelier in der Friedelstraße in Neukölln, eine Ecke, die gerade besonders angesagt ist bei jungen Menschen. Ist Berlin eigentlich eine gute Stadt für Künstler? 

Ich fürchte, kein junger Künstler, der nicht gerade eine reiche Großmutter hat, kann sich ein Atelier in der Friedelstraße leisten. Als ich dieses Atelier bezogen habe und so von Kreuzberg über den Landwehrkanal nach Neukölln gegangen bin, war es hier öde und leer. Da gab es keinen Kaffee, da saßen keine jungen Leute im Sonnenschein. Warum war Berlin damals so großartig? Viele sind nach Berlin gegangen, weil sie dem Wehrdienst entkommen wollten, weil es in Berlin preiswerte Ateliers gab, teilweise auch subventioniert. Der Berliner Senat hat sich gerne damit gerühmt. Die Zeiten sind vorbei. Anderseits: Früher gab es fünf Galerien in Berlin, jetzt sind es Hunderte. 

In Ihrer Malerei sieht man, wie hingezogen Sie zu Landschaften und Natur sind. Wie geht das zusammen mit der Liebe zur Großstadt? 

Ich war in meiner Kindheit sehr viel in der Natur. Durch kriegsbedingte Evakuierung zur Verwandtschaft ins Wartheland, und dann, Gott sei Dank, als Berlin zusammenbrach, im Fränkischen. Im Wald zu sein, war für mich immer das Wunderbarste. Als man mich mit einer Zuckertüte zur Einschulung überreden wollte, hatte ich keine große Lust darauf, denn ich wusste, das bedeutet weniger See und Wald. Eine erste Reise 1959 ins schwedische Lappland war wie die Verlängerung der eigenen Kindheit. Und doch würde ich sagen, Berlin war mein Zuhause. Ich reise einfach auch nicht gerne. Entweder bin ich in Berlin gewesen oder den ganzen Sommer in Island, und dort auch immer an den gleichen Stellen. Wenn man Natur sehen will, die so gut wie unberührt ist, muss man an die nördliche Peripherie von Europa gehen. Wenn ich dort ankomme, muss ich erst Kondition entwickeln. Am Anfang bin ich fast depressiv, es ist eine Katharsis. Da muss ich das alles von hier loswerden, ich fange an, die toten Fliegen im Fensterbrett zu zählen und weiß eigentlich gar nicht, wo ich bin. Bis ich dann meinen Blick verändere. Die Einheit der Gegensätze StadtNatur ist ein Leitmotiv.

Klingt als Lebensmodell einleuchtend. Sie sprachen vom Inseldasein in Westberlin. Haben Sie den Fall der Mauer als Befreiung erlebt? 

Alles hat gejubelt. Ich fand diesen historischen Schritt großartig. Aber mir war absolut bewusst (ironisch rezitierend): "Meine Herrschaften, das wird eine harte Reise." Und da die Menschen nicht mit allen Talenten bewaffnet sind, ist sie das noch immer. Ich habe die Widersprüche gesehen, im Osten wie im Westen, dazu bin ich zu leidenschaftlicher Dialektiker.

Wie politisch ist Ihre Kunst? 

Berlin war politischer als der westdeutsche Raum, und die 60er-Jahre sind dann doch nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Meine "Überspannungen" wollte ich nicht bis zum Lebensende machen. Ich hatte die gemalt, um die Atmosphäre zu steigern, aber nicht, um sie als Formel endlos auszudehnen. Eigentlich habe ich aufgehört, als die Bilder sich gut verkauften. Plötzlich hieß es: "Wir wollen noch mal drei Birken und noch mal vier Flussläufe". Das hat mich aus der Küche rausgebracht, aber ich wusste, damit allein kann ich mein malerisches Lebenswerk nicht schaffen. Und dann habe ich mit den Rombildern in der Villa Massimo Tabula Rasa gemalt. 

Diese Sprachbilder aus den Jahren 1969/70 sind dann ganz schön düster geraten. 

So wie die "Überspannung" auf der ersten Schicht! Wenn die nicht so krass wären, wären sie nicht mit Nessel überspannt gewesen. Der Himmel hinter den Bergen und den Bäumen ist dann auf der zweiten Schicht gemalt. Doch die Häuserwände in Rom, die Parolen, ich konnte keine "Überspannung" mehr machen. Ich hab einfach die Konzentration nicht gehabt und das Umfeld. Der Schriftsteller Manfred Esser hatte in dem großen Atelier der Villa eine schwarze Fahne, auf der mit weißer Schrift in Druckbuchstaben "ROTE FAHNE" stand. Solche Umdrehung habe ich dann in meiner Malerei versucht: der schwarze Schnee, der weiße Schnee, der rote Schnee, ganz schnell  gemalt. Das ist das Großartige an der Malerei: Plötzlich kann man Zeichen setzen, Spontanität, dass der Stein zermahlen ist. Wenn die Farbtube eintrocknet, hat man eigentlich die Skulptur, der zermahlene Stein und das Liquide, ob das Casein, Eitempera, Öl, Emulsion zwischen Wasser und Öl oder Öl und Terpentin ist. In Rom malte ich motivierende Bilder, um wieder zu sehen: Was ist Malerei? Wie kann ich weitermalen? Danach entstanden die Chinabilder, das große Terror-Bild, ein Auftrag für ein Kaufhaus in München zur Olympiade. Mein Mitbewohner war in der Aufbauorganisation der Maoisten, und nach den beiden China-Bildern wollte er mich zur Mitarbeit überreden. Da ist bei mir der Zorn groß geworden: "Weißt du, ich werde nur noch Kieselsteine bis zum Lebensende malen. Und wenn ich mit dem Kieselstein kein Weltbild schaffe und nicht das Leben ausdrücken kann, dann tauge ich als Maler sowieso nichts". Und dann kamen die Sumpflöcher, die Geröllfelder und der Klatschmohn. In dieser Ausstellung sehe ich das alles, und ich laufe fast wie mein eigener Besucher in meiner Vergangenheit herum.

Ganz frei von Politik sind die Bilder also nicht, höre ich da raus.

Ich glaube, gerade im Augenblick ist es unglaublich wichtig, das Weltgeschehen ruhig und mit viel Abstand zu sehen. Wir gehören einem Land an, das das größte Verbrechen im 20. Jahrhundert begangen hat. Dass wir keine Freude an Waffen haben, wird man verstehen. Man kann doch von uns nicht erwarten, dass wir plötzlich vorneweg marschieren. Und die Befriedung kam für uns mit Amerika. Ich habe das ja alles erlebt: der erste Kaugummi, Jazz und Blues gegen das ganze Schlagerzeug. Das Gleiche in der Malerei: Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte eine französische Grammatik, die zweite eine amerikanische, und das habe ich noch in meinen Knochen mitten im 21. Jahrhundert. Aber ich bin nicht so verknöchert, dass ich nicht spüre, was wir im Augenblick in der Politik erleben. Diese ganzen Fragen beschäftigen mich, auch wenn ich das arktische Weidenröschen male. Und wenn mir jemand Eskapismus vorwerfen möchte, antworte ich: Moment mal, ist Fahnenflucht bei einem falschen Angriffskrieg nicht doch ein tapferer Akt?