Künstlerin Zoya Cherkassky

"Es ist ein Requiem"

Die israelische Künstlerin Zoya Cherkassky verarbeitet den Hamas-Terror zu ergreifenden Bildern. Ein Gespräch über Trauer, Kunst und Hoffnung


Zoya Cherkassky, die Angriffe der Hamas auf Israel am 7. Oktober waren ein Moment, an dem man gleich wusste: Das ist einschneidend. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

Ich war zu Hause in Tel Aviv und hatte Freunde aus Sankt Petersburg zu Besuch, wir wachten alle von den Alarmsirenen auf, und meine Tochter, die bei ihrer Großmutter übernachtet hatte, rief mich an. Meine Freunde sagten dann, Terroristen gehen von Haus zu Haus und ermorden Menschen, und ich sagte: Ach, das sind eure russischen Fake-News-Seiten. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas passieren könnte. Und dann öffne ich die israelischen Nachrichtenseiten und sehe: Es stimmt. Was genau passiert war, erfuhr man erst nach und nach. Aber dass es etwas war, das es so noch nicht gegeben hatte, war gleich klar.

Wie haben Sie reagiert?

Ich habe lange gebraucht, um wirklich zu realisieren, was passiert war. Es wurde größer und größer. Noch heute kommen neue Details heraus. Ich habe mich dann sehr schnell entschlossen, mit meiner Tochter erst mal nach Deutschland zu gehen, gemeinsam mit meiner Nichte und ihrer kleinen Tochter. Meine Nichte ist vor zwei Jahren erst aus der Ukraine nach Israel geflohen, als dort der Krieg begann. Und jetzt ging es wieder los. Sie konnte nicht glauben, dass das passiert.

Wann haben Sie begonnen, das Geschehen in Bildern zu verarbeiten?

Ungefähr vier Tage nachdem es losging, als ich in Berlin angekommen war. Das erste Bild bezieht sich auf "Guernica". Alle Bilder sind auf den 7. Oktober datiert. Es geht nicht um eine Analyse, es geht auch nicht darum, was seitdem alles in Gaza passiert ist, sondern es geht um diese bestimmte Tragödie am 7. Oktober.

Warum?

Ich glaube, ich bin immer noch nicht fähig, diese Ereignisse zu reflektieren, ich habe noch keine Distanz. Was ich mache, ist so etwas wie ein Requiem, es geht um die Emotion. Ich habe eine Szene von dem Musikfestival gemalt, die gekidnappten Kinder – dieses Bild wurde jetzt in Israel als Poster produziert und aufgehängt. Ich beziehe mich dabei auf die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts – das Bild der verbrannten Familie zitiert Munch, ein anderes zitiert das "Massaker der Unschuldigen" von Giotto. Ich habe auch die weinenden Soldatinnen gemalt – es waren junge Soldatinnen, die an der Grenze als Erste gestorben sind. Und ich habe eine Szene aus einem Kibbuz gemalt, wo ein Mädchen die Thora trägt und die Leute Waffen haben. Viele weisen darauf hin, dass es der größte Massenmord an Juden seit dem Holocaust war. Aber die Situation ist heute anders. Die Geschichte des modernen Staates Israel handelt von der Selbstverteidigung.

Sie sind in Kiew geboren. Als der Ukrainekrieg begann, haben Sie ebenfalls die Ereignisse in Bildern verarbeitet.

Ich habe mich immer über die Idee von Kunst als Therapie lustig gemacht. Das fand ich unprofessionell. Jetzt mache ich es selbst. Als ich die Bilder von den Panzern in Kiew gesehen habe, genau dort, wo ich aufgewachsen bin, habe ich mich erst darum gekümmert, dass meine Familie ausreisen konnte. Und dann dachte ich: Was kann ich tun? Ich habe dann begonnen, Bilder vom Krieg zu malen, die zugunsten von ukrainischen Hilfsorganisationen verkauft wurden. Die Frage war: Wie zeigt man das Leid? Oft ist so viel Pathos in den Bildern, die menschliche Katastrophen zeigen. Mir haben die Referenzen auf die Kunst des 20. Jahrhunderts geholfen, auf Picasso oder den Expressionismus. Es ist die Kunst aus dem 20. Jahrhundert – so wie auch diese Grausamkeit der terroristischen Attacken aus dem 20. Jahrhundert zu stammen scheint. Ich poste diese Bilder auf Instagram und bekomme sehr viele Reaktionen darauf. Das ist mir wichtiger als die Anerkennung der Kunstblase.

Ihre Bilder waren auch vorher schon sehr erzählerisch.

Ich bin mit dem sozialistischen Realismus aufgewachsen. Man kann auch noch weiter zurückgehen in der russischen Kunst. Die Linie führt direkt von der Ikone zum Realismus.

Vor dem 7. Oktober haben Sie an einer ganz anderen Werkgruppe gearbeitet, die sich mit afrikanischen Menschen in der Diaspora beschäftigt.

Ich male immer, was ich sehe. Mein Mann stammt aus Nigeria, ich reise oft mit ihm dorthin. In meiner Familie mischen sich viele Nationalitäten und Herkünfte: Juden, Ukrainer, Araber, Igbo.

Besonders eindrücklich ist das Bild einer Schwarzen Pflegerin, die sich um eine Holocaust-Überlebende kümmert – man sieht nur die Arme mit den eintätowierten Nummern.

Eines meiner Lieblingsbücher stammt von dem nigerianischen Schriftsteller Chinua Achebe und heißt "Alles zerfällt". Bei ihm bezieht sich das auf die nigerianische Gesellschaft in Zeiten der Kolonisierung. Aber diese Erfahrung, dass alles zerfällt, machen so viele Menschen. Die Menschen in Afrika, die Menschen in der Ukraine, in Israel, in Gaza. Jeder Mensch kann zum Geflüchteten werden. Das Bild zeigt im Übrigen eine Freundin, die wirklich in der Pflege arbeitet. Ich arbeite die kulturellen Clashs bewusst heraus, aber die Szene ist trotzdem realistisch.

Seit dem Beginn des Krieges zwischen Israel und der Hamas hat es erbitterten Streit in der Kunstszene gegeben. Ein offener Brief, der in der US-amerikanischen Kunstzeitschrift "Artforum" veröffentlicht und von vielen Künstlerinnen und Künstlern unterzeichnet wurde, forderte einen Waffenstillstand, aber erwähnte in seiner ersten Version die Angriffe der Hamas auf israelische Zivilisten nicht. Sie gehörten zu den Unterzeichnern eines Briefes israelischer Kulturschaffender, der darauf entsetzt reagierte. Es müsse möglich sein, die israelische Besatzung und die Verbrechen in Gaza und die brutalen Akte von Gewalt gegen israelische Zivilisten gleichermaßen zu verurteilen, heißt es da. Wie haben Sie die Reaktion der internationalen Kunstszene wahrgenommen?

Die überwältigende Mehrheit der Künstlerinnen und Künstler in Israel ist links. Und viele von ihnen fühlen sich betrogen von der Linken in der westlichen Welt, die sich reflexartig auf die Seite der Unterdrückten stellt, und das sind in diesem Fall die Palästinenser. Ich und auch andere Künstlerinnen und Künstler kritisieren die israelische Siedlungspolitik und die aktuelle Regierung scharf. Aber die Angriffe der Hamas können durch nichts gerechtfertigt werden. Das sind Terroristen, keine Befreiungskämpfer. Die Leute, die jetzt rufen, dass Palästina frei sein soll vom Fluss bis zum Meer, wissen wahrscheinlich gar nicht, welcher Fluss gemeint ist. Es ist der Jordan, und der Spruch bedeutet, dass Israel auf der Landkarte nicht existiert. Warum verdient eine junge Israelin, die vergewaltigt wurde, kein Mitgefühl? Wir haben immer gesagt, dass es nicht antisemitisch ist, den Staat Israel zu kritisieren. Man möchte ja auch nicht glauben, dass Leute in der Kunstwelt antisemitisch denken. Aber dann waren wir doch sehr geschockt.

Vor dem Krieg hat die israelische Linke scharf gegen die Regierung protestiert. Wie ist die Stimmung jetzt?

Alle haben sich zusammengetan, um zu helfen, wo sie können. Wo die Regierung versagt, springt die israelische Zivilgesellschaft ein. Die Leute engagieren sich für Geflüchtete, organisieren Essensversorgung, Kleider, alle nehmen Leute bei sich auf.

Und nach dem Krieg?

Ich hoffe, die Hamas wird zerstört sein, die Geiseln befreit. Und die Regierung wird gekreuzigt! Die Leute sind wütend. Israel kann sich keine unprofessionelle, destruktive Regierung voller eigennütziger, gieriger Leute leisten.

Und die Kunst? Was kann sie leisten in diesen Krisenzeiten?

Ich hatte nie den naiven Glauben, dass Kunst die Welt ändern kann. Aber sie ist trotzdem wichtig. Unser Weltbild wurde erschüttert, und die Bilder aus Gaza sind ebenfalls verstörend und schrecklich. Nichts ist mehr wie vorher. Irgendwie muss man das verarbeiten. Ich tue das malend und zeichnend, ich kann nicht anders.


Dieses Interview ist zuerst in der Monopol-Ausgabe 12/2023 erschienen