Buchautor Kolja Reichert

"Ich will, dass alle am Gespräch über Kunst teilhaben"

Kolja Reichert war Kunstkritiker der FAZ und arbeitet heute als Programmkurator an der Bundeskunsthalle in Bonn
Foto: Detlef Schneider

Kolja Reichert war Kunstkritiker der FAZ und arbeitet heute als Programmkurator an der Bundeskunsthalle in Bonn

"Kann ich das auch?" ist der Titel des Buches von Kolja Reichert, das Kunst ganz einfach erklären will. Der ehemalige FAZ-Kritiker beantwortet 50 Fragen, die man auch ohne Expertenwissen an Kunstwerke haben könnte

Kolja Reichert, Sie sagen: "Ein Buch fehlt noch: ein Buch, das so einfach ist, dass bisher kein Experte darauf kam es zu schreiben." Wie versetzt man sich wieder in die Rolle von jemandem, der ganz einfache Fragen an die Kunst hat?

Ich musste mich nur erinnern: daran, wie ratlos ich war, als ich am Anfang in Galerien oder Kunstvereinen vor Dingen stand, vor denen ich nicht wusste, was ich jetzt machen soll. Wie ich noch nicht wusste, was der Unterschied zwischen einer Galerie und einem Museum ist. Diese ganz normalen Fragen, vor denen jede und jeder steht, die sich neu oder nur ab und zu für Kunst interessiert. Man kann diese grundlegenden Fragen, an denen eigentlich alles hängt, leicht vergessen, wenn man sich ständig mit neuen Werken beschäftigt, wie Sie oder ich. Aber ich hatte ein Schlüsselerlebnis, das mir klar machte: Wenn ich die grundsätzlichen Fragen nicht beantworten kann – Wozu ist Kunst gut? Worauf kommt es an? Was soll ich vor einem Kunstwerk empfinden? – dann kann ich auch von niemandem erwarten, dass sie sich automatisch für neue Kunst interessiert oder sogar noch unsere Kunstkritiken liest.

Was war dieses Schlüsselerlebnis?

Nachdem die Staatsgalerie Stuttgart ein Jahr lang Banksys Streifenbild durch ihre Sammlung hatte wandern lassen, lud ihre Direktorin Christiane Lange drei Kritiker der Aktion aufs Podium. Da saßen Isabelle Graw von "Texte zur Kunst", Yilmaz Dziewior vom Museum Ludwig und ich und versuchten 500 Stuttgartern zu erklären, dass das Museum sie an der Nase herumführt, weil Bankys Bild von nichts anderem handelt als von ihren eigenen Blicken. "Love is in the Bin" ist nicht die Kritik des Kunstmarkts, die viele in ihm sahen, sondern seine Banalisierung. Die Besucher bezahlten dafür, dass sie mit ihren Blicken das Bild aufwerteten. Tatsächlich verkaufte die Sammlerin es später mit 15 Millionen Gewinn weiter – und strich so die Investitionen der Besucher und der öffentlichen Hand ein. Unsere Argumente interessierten aber niemanden, im Gegenteil, wir standen als die Elitären da. Da wusste ich, ich muss mir Mühe geben, wenn ich zeigen will, dass das Gegenteil der Fall ist. Dass, wenn so viele Menschen die eigene Urteilskraft einem Medienhype unterwerfen, die sogenannte Elite gewinnt.

Am Anfang adressieren sie die Leserschaft direkt: "Kennen Sie das Erlebnis, dass Ihr Geld sich wertlos anfühlt, wenn jemand auf einer Auktion Millionen für ein Bild ausgibt?" Haben Sie auch so empfunden?

Naja, man muss schon ziemlich abgehärtet sein, um sich von diesen Zahlen nicht ausgeschlossen zu fühlen, oder? Und wenn man ein bisschen nachdenkt, wird einem klar, dass die Versechsfachung der Milliardäre während der letzten 20 Jahre damit zusammenhängt, dass ich kein nennenswertes Vermögen aufbauen oder mir eine Wohnung leisten kann. Wenn man sich klar macht, dass es nicht die Schuld der Kunstwerke ist, dass sie so teuer werden, sondern der Vermögensverteilung, die eine Nachfrage nach immer höheren Preisen erzeugt, dann ist der Kunstmarkt gar nicht so verrückt und abgekoppelt wie man denkt. Dann ist er das realistischste Bild der Vermögensverteilung, das es gibt. Der allergrößte Teil des Kunstmarkts kommt nie auch nur im Entferntesten in die Reichweite solcher Einnahmen. Ein winziges Hochpreis-Segment verführt breite Teile der Gesellschaft und auch der Politik dazu, Kunst für etwas elitäres zu halten. Die fatale Folge ist, dass wir auf Mitsprache verzichten und die Souveränität über die eigenen Sinne und die eigene Urteilskraft aufgeben. Kunst war immer auch "elitär". Gleichzeitig ist sie ein Bollwerk dagegen, dass die finanzielle Elite alles bestimmt. Und anders als beim Vererben kann bei ihr prinzipiell jede und jeder mitmachen.

Ich finde die Verquickung von Preis und Wert eigentlich immer hinderlich, wenn ich über Kunst sprechen will. Warum steigen Sie damit ein?

Weil Geld wie Kunst alle etwas angeht. Beides hat seinen Sinn nur, wenn es prinzipiell allen gehört und nie nur einem allein. Geld erlaubt, sich zu anderen Menschen und Dingen ins Verhältnis zu setzen, auch zu Kunst. Ich finde es verquer und anmaßend, wenn Galeristen auf Kunstmessen Journalisten davon abbringen wollen, vor der Öffentlichkeit die Preise zu nennen. Sollen die Zahlen nur für die Reichen sein, und für das Volk nur die Bilder? Die Angst, die Zahl könne das Kunsterlebnis korrumpieren, hat etwas paternalistisches. Warum sollen nicht alle am Gespräch teilhaben? Kunst hat noch nie außerhalb sozialer Tauschverhältnisse existiert. Man kann über beides sprechen, ohne dass das eins davon etwas einbüßt.

Können Sie die Leserschaft beschreiben, die sie beim Schreiben imaginiert haben? Man sollte schon ein bisschen Interesse für Kunst mitbringen, oder?

Ein My reicht. Ich will, dass alle am Gespräch über Kunst teilhaben. Dafür ist dieses Buch geschrieben. Ulrich Matthes hat bei der Premiere was Tolles gesagt: "Auf der einen Seite hatte ich das Gefühl, dieses Buch ist für mich persönlich geschrieben. Und ich hatte gleichzeitig das Gefühl, es ist ein Buch für wirklich alle."

Ein gutes Kapitel: "Worauf kommt es an?" Worauf denn?

Auf alles. Beim Busfahren, beim Fußball, selbst in der Liebe gibt es Regeln und Normen, die man ausblendet, wenn man Spaß haben will. In der Kunst steht wirklich alles zur Debatte, wie in der Philosophie. Kunst ist Philosophie mit Objekten. Jeder kleinste Eisenspan, jeder Pinselstrich, ist ein Argument, das trägt oder nicht, in seiner je eigenen, nie ganz übersetzbaren Sprache. Jedes Detail kann das Ganze ruinieren. Deshalb steht für Künstler, die sich nicht hinter Maschen verstecken, alles auf dem Spiel. Und deshalb erlaubt uns Kunst, wie auch Literatur oder Theater, die größtmögliche Geistesgegenwart. Mit dem Unterschied, dass auch wir in jedem Moment selbst entscheiden müssen, wie und wie lange wir von wo drauf schauen.

Haben Sie das Gefühl, Kunst müsse verteidigt werden?

Schon. Wir leben ja in einer Übergangszeit, in der wir neue Medien haben, die wir noch nicht gelernt haben zu beherrschen, wie nach der Einführung des Buchdrucks. Die Schnappatmung der Sozialen Medien wirft uns immer wieder auf Projektionen unserer selbst und unseres Status zurück und hält uns davon ab, uns in echtem Material zu verlieren: in Gedanken, in Texten, in Musik, in Kunstwerken. Alles, was etwas mehr Aufwand erfordert, ist eine Extra-Zumutung, die sich auszahlen soll. Das führt dazu, dass, wenn etwas absurd oder unverständlich wirkt, man nicht mehr die Beweislast bei sich selbst sieht, sondern beim Kunstwerk. Kunst wird immer weniger als Gespräch zwischen allen Werken wahrgenommen, die es je gab und geben wird. Sondern als Äußerung einzelner Leute, wie ein Posting. Und das sorgt für den Verlust an konkreter Erfahrung und ästhetischer Urteilskraft. Wenn aber der Sinn dafür verloren geht, was Dinge jeweils im Raum im Verhältnis zueinander sind, sehen bald alle Städte so aus wie die tumben Neubausiedlungen, die nur noch abstrakten Normen von Effizienz gehorchen. Viele denken, Kunst sei abstrakt. Das Gegenteil ist der Fall: Nichts schafft eine solche Konkretion wie Kunstwerke. Mit Kunst fängt alles an, und ohne Kunst löst sich alles auf. Es muss sich nicht jeder mit Kunst beschäftigen, aber alle hören und sehen ihre Echos in dem, was Architekten, Designer, Journalisten machen. Ohne sie verlieren wir jede gemeinsame Sprache. Aus dieser Sorge entstand auch der Kongress "Die Zukunft der Kritik" im November, den ich in der Bundeskunsthalle gemeinsam mit der Akademie der Künste Berlin organisiere.

Es ist viel leichter, Kunst anzugreifen, als genau zu sagen, warum man sie braucht. "Nur wenn sich die Frage, worum es geht, nicht eindeutig beantworten lässt, geht es um Kunst", schreiben Sie. Wer eindeutige Antworten will, wird enttäuscht?

Für eine eindeutige Antwort braucht man ja erstmal eine eindeutige Frage. Bei Kunstwerken hängt beides in der Luft. Und dafür brauchen wir die Kunst: Sie erlaubt uns, neben unsere Gewohnheiten zu treten und sie im Ganzen erkennen zu können. Wie ich im Buch schreibe: "Eine Welt, in der man immer zweifelsfrei wüsste, wozu etwas gut ist, wäre eine völlig mechanische, totalitäre Welt, in der alles seine festgelegte Rolle hätte." Kunstwerke sind Antworten auf Fragen, die noch nicht gestellt sind.

Sie beziehen relativ wenig Erfahrungen aus Ateliers oder aus Gesprächen mit Künstlerinnen und Künstlern in Ihr Buch ein. Warum?

Weil diese Erfahrungen zwar für mich total prägend waren, aber dass ich das Glück hatte sie zu machen, lag am Privileg, Kunstkritiker zu sein. Die meisten Leute begegnen Kunst im Museum oder in den Medien, und da möchte ich sie treffen.

Stand es für Sie je selbst irgendwann einmal im Raum, Künstler zu werden?

Nein. Ich wollte immer die Freiheit und Beweglichkeit des Kritikers, der sich ständig in neue Themen einarbeiten kann, neue Fragen stellen kann, und aus den Werken gemeinsame Horizonte ableiten kann, vor die sich dann wieder die Werke halten lassen.

Muss Kunst allen Menschen einleuchten? Sie wollen Sammler von Sportwagen überzeugen, doch lieber in Kunstwerke zu investieren …

Naja, ich rate ihnen jedenfalls, den Kauf eines Sportwagens gegenüber Galeristen oder Künstlern zu verschweigen, zumal wenn die Ihnen stattdessen gerne ein Bild verkauft hätten. Kunst muss nicht allen Menschen einleuchten, aber jeder sollte wissen, dass Unverständlichkeit zwei völlig gegensätzliche Gründe haben kann. Erstens: Das Kunstwerk ist schlecht. Das kommt ja vor. Zweitens: Man hat sich zu wenig mit ihm beschäftigt. Im Heuhafen der Fragwürdigkeiten gibt es immer Stecknadeln zu finden, die allem Sinn verleihen.

Während wir uns unterhalten, ebbt gerade der aufsehenerregendste Streit über Kunst seit langem ab. Sie haben die Documenta aufgenommen in ihr Buch. Waren Sie jetzt eigentlich für oder gegen das Abhängen von "The People’s Justice" von Taring Padi?

Dafür. Taring Padi haben ja im Nachhinein viel erklärt, aber die Frage, wie diese Opfer-Täter-Umkehrung mit der SS-Rune auf dem Hut eines orthodoxen Juden entstehen konnte, ist für mich noch offen. Das ist eine Grobheit und Gedankenlosigkeit, wie auch die rassistische Darstellung der Schwarzen Figur daneben, die kaum erwähnt wurde. Man kann sich die hippieske Stimmung vorstellen, aus der das entsteht, diese Hassbilder von Regierungen, die die eben gestürzte Militärdiktatur unterstützt hatten. Aber warum das zwanzig Jahre später ungeprüft und unkommentiert in Kassel aufstellen? Durch das Netz des Misstrauens, das sich über Monate auf die Documenta gelegt hatte, wirkte das Propagandagemälde "People's Justice" als nachgereichter Beweis, als schlagartige Erhärtung des Antisemitismus-Verdachts. Man muss aber auch sagen, dass das massenhafte Abdrucken von aus dem Kontext gerissenen Bild-Details eine ganz andere Evidenz suggeriert als das freie Bewegen vor einem Werk im Stadt- oder im Ausstellungsraum. Ich war am letzten Tag noch mal in Kassel. Die Darstellung der israelischen Soldaten in der historischen Broschüre beim Archiv der algerischen Frauen ist ganz klar antisemitisch. Sie ist aber auch ganz klar Teil eines historischen Dokuments in einer historisierenden Ausstellung und öffnet dadurch überhaupt erst einen Raum, der erlaubt über das Verhältnis von Antisemitismus und antikolonialen Kämpfen nachzudenken. Dieses Mitdenken der konkreten Realität vor Ort hat mir in der Debatte gefehlt. Kunstwerke wurden auf ihre medialen Abbilder verflacht, und Betrachter auf entflammbares Material, das es abzuschirmen gilt. Das macht Ambiguität unmöglich und ruft ein Gefühl des Mundtotmachens hervor. Alle möglichen Leute hatten plötzlich eine Meinung, ohne in Kassel gewesen zu sein. Es war eine Kunstdebatte ohne Kunst. Würden Gerichte so arbeiten, wären wir eine Bananenrepublik.

Sie finden die schöne Formulierung, Kunst sei "die Laufmasche unserer Illusionen". Wann wurde bei Ihnen zuletzt etwas aufgeribbelt?

Wenn ich nachdenke, tatsächlich auf der Documenta. Die Wand der Documenta-Halle voller südasiatischer Popstars, die ich nicht kannte, in der Mitte Skater auf der Halfpipe, und durch einen Tunnel landete ich auf Beanbags vor einem dieser fantastischen ugandischen Splatter-Filme. Darin irrte ein Deutscher namens Rummenigge durch ein fremdes, fragmentiertes Kampala wie ich durch die Documenta. Und als ich wieder rauskam, stand da der Filmproduzent, der den Filmproduzent gespielt hatte, in echt an der Druckerpresse und druckte neue Plakate. So eine Form hatte ich noch nie gesehen. Die Documenta hat tatsächlich den souveränen Betrachterraum aufgeribbelt, den wir seit den Menschenzoos und Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts mit uns herumtragen.

Auf welches Kunst-Erlebnis freuen Sie sich gerade?

Die über Berlin verteilten Ausstellungen des Berlin Art Prize. Die Ed-Atkins-Ausstellung in der Berliner Galerie Bortolozzi. Und auf die vielen Gespräche und neuen Begegnungen, die hoffentlich das Buch anstößt.