Sängerin Grimes als Künstlerin

Kriegsnymphen zum Ausmalen

Weil die Sängerin Grimes geläufige Kleinkind-Ästhetiken für zu profan befindet, hat sie ein eigenes Malbuch herausgebracht

In einem Jahr voller unglaublicher Ereignisse hat es die Sängerin und Künstlerin Grimes immer wieder geschafft, zu überraschen. Anfang 2020 etwa, als sie ihre Schwangerschaft in einem Instagram-Post verkündete, der sie als Android mit Babybauch zeigte. Oder im Sommer, als sie auf Twitter verriet, dass ihr gemeinsames Kind mit Tesla-Gründer Elon Musk "X AE A-XII" heißen werde. Spätestens da war abzusehen, dass dem Sohn der Avant-Pop-Musikerin und des angehenden Mars-Kolonisators eine außergewöhnliche Kindheit bevorsteht.

Und tatsächlich bietet Grimes, mit bürgerlichem Namen Claire Boucher, ihrem mittlerweile sechs Monate alten Säugling ein ausgefallenes Unterhaltungsprogramm. "Ich habe mit ihm 'Apocalypse Now' geschaut", erzählte sie kürzlich in einem Interview mit der "New York Times". Aus einem Medienkonsum-Ratgeber für junge Eltern hat sie diese Idee wohl nicht. Doch sie ist überzeugt: "Er steht auf radikale Kunst. Das tut er einfach, und ich finde es nicht problematisch, mich auf diesem Level mit ihm auseinanderzusetzen."


Babys haben Geschmack und Meinungen, da ist sich Grimes sicher. Nur böten die meisten Baby-Produkte mit ihrer einheitlich niedlichen Ästhetik voller Tierkinder und Pastellfarben der frühkindlichen Geschmacksdistinktion wenig Raum. Folglich entschloss sich die Sängerin, die ihre Tracks selbst produziert und die Cover-Art ihrer fünf bisherigen Alben selbst gestaltete, auch im Bereich Kindermedien persönlich tätig werden. Seit Freitag gibt es ein von Grimes gestaltetes Ausmalbuch zu kaufen, das sich an Posthumanist*innen aller Altersgruppen richtet.

Hinter einem mit rosanen Delfinen, Radioaktivitäts-Symbolen und Warrior-Elfen verzierten Einband verbergen sich sowohl zahlreiche digitale Zeichnungen der Künstlerin als auch ein von einer Künstlichen Intelligenz (KI) generiertes Gedicht. Kleine und große Fans dürfen Farbe in die von Krieger-Nymphen, Schwerter schwingenden Cyborgs und der Klimawandel-Göttin Miss Anthropocene bevölkerte Manga-Bildwelt bringen. 

Für die passende Audio-Kulisse ist ebenfalls gesorgt: Gemeinsam mit der KI-Sound-App Edel veröffentlichte Grimes Ende Oktober ein Schlaflied, das nach Transzendenz und weitem Kosmos klingt. Dabei spielte der kleine X AE A-XII eine wichtige Rolle: "In der ersten Version gab es zu viele scharfe Glocken und das verursachte Tränen und generelles Chaos!", erzählt Grimes der "New York Times". Je mehr sie den Mix adaptierte, desto häufiger kassierte sie ein Lächeln von ihrem Baby.


Boucher wurde als DIY-Musikerin bekannt, die aus ihren feministischen und antikapitalistischen Ansichten sowie ihrer fabelartig entrückten Weltanschauung kein Geheimnis machte. Dass sie mittlerweile mit einem akzelerationistischen, superreichen und medial dauerpräsenten Großunternehmer liiert ist, hat an diesem Image gerüttelt. So warf ihr beispielsweise Musikerkollegin Zola Jesus Silicon-Valley-Privilegiertheit vor, weil Boucher KI immer wieder als Zukunft der Kunst anpreist.

Auch das Erziehungskonzept des Elternpaares Boucher-Musk wird an vielen Stellen kritisch betrachtet. Ob Babys amerikanische Kriegsdramen schauen und Namen tragen sollten, die wie Seriennummern klingen? Vermutlich eher nicht. Dass Grimes ihr Baby zum Referenzpunkt ihres kreativen Schaffens macht und so den Tabuthemen Kind und Mutterschaft künstlerischen Raum gibt, ist allerdings trotzdem begrüßenswert. Mit ihrem Ausmalbuch regt sie zum Nachdenken an. Während man Engelsflügel und Exoskelette koloriert, könnte man beispielsweise darüber sinnieren, wie Elternschaft wohl im Cyberfeminismus aussehen könnte – und ob es eigentlich Cyborgs mit Babybäuchen gibt.