Fotos vom Rheinischen Braunkohlerevier

Geschichten des Untergangs

Der Fotograf Matthias Jung durchstreifte über ein Jahrzehnt lang das Rheinische Braunkohlerevier. Ein neuer Bildband zeigt die visuelle Wucht des Raubbaus an der Natur und den Einfluss auf den Alltag der Menschen

Dies ist die Geschichte einer Zerstörung der Gegenwart. Die Aufgabe einer Region, das Abräumen von Natur, der Abriss von Siedlungen. Der Fotograf Matthias Jung hat diese Geschichte über ein Jahrzehnt begleitet, blinde Fenster in geziegelten Wänden, hinter denen das Leben einen Umsiedlungsvertrag unterschrieben hat und ausgezogen ist. Reifenspuren, die aus einem schon fast überwachsenen Zaun durch aufgeworfene Erde ins Dunkel führen: Da ist jemand weggefahren und hat sich nicht mehr die Mühe machen müssen, das Tor zu schließen. Obstbäume treiben aus, müssten längst zurückgestutzt werden; Gebäude warten auf den Abbruch, der ihnen aus einer am Abend grell erleuchteten Loch verheißen wird.

Jung durchstreift das Rheinische Braunkohlenrevier, die Region westlich von Köln, bezeugt letzte Züge von Weilern, die darin liegen, dass sich Gemäuer noch kurz gegen Abrissbagger wehren, oder, viel später, Protestierende in Baumhäuser gezogen sind und mit Räumpanzern aus dem Hambacher Forst vertrieben werden sollen. Da stehen scheinbar ratlose Polizisten im Wald, weit über ihnen Protest-Verschläge; Jung streift durch Satteldach-Siedlungen, an Ziegelwänden vorbei, blickt auf final verhängte Schaufenster.

Das Ausgraben der Braunkohle bedeutet auch, dass die Geschichte eines Landstriches versinkt. Vielleicht haben sich darüber Trauer oder Fatalismus so tief in die Gesichter zweier Damen auf der Straße eingeschrieben, dass die müllabfuhr-orangenen Fleeceoberteile mit den Ohrenmützen es nun auch nicht mehr rausreißen können – auf dem Weg zum letzten Orts-Karneval wirken sie eher wie Menschen, die einer Pflicht beiwohnen werden. Der Verkleidungsnorm folgen sie mit geringstmöglichem Aufwand. Die Rheinische Kartoffelkönigin von 2015 hat ihre Schärpe umgelegt und trägt ein sicher kartoffelkönigliches Kleid – wenn sie an Zinntellern auf dem Nippesregal und über die Eckbank nach draußen schaut, wartet da schon eine Grube, die allen Kartoffeln den Garaus macht: Über 400 Meter tief wird in der Region der Boden abgetragen.

Fatalistische Akzeptanz versus Protestwille

All das für Kohlenabbau im Tagebau, grade sind es bis zu 115 Millionen Tonnen jährlich, die gleichzeitig mehr als das Fünffache an Abraum produzieren. Die Kohle wird verfeuert, erzeugt Wasserdampf, treibt Turbinen an. Keine andere Energiequelle setzt so viel Schadstoffe frei. Schon 1982 vermutete "Der Spiegel", dass Rekultivierung und Fatalismus rings um das größte Loch der Erde für ein stummes Akzeptieren eines gewaltigen Industrievorhabens gesorgt hätten. Damals gingen Gutachten von einer Laufzeit bis zum Jahr 2250 aus, 200.000 Einwohner würden weichen müssen: die größte binnendeutsche Umsiedlung seit 1945. Man kann noch heute die Überraschung aus dem Artikel lesen, trotz Vernichtung des wertvollsten Eichenbestandes des ganzen Bundeslandes und gigantischer Zerstörung der Landschaft: "Widerstand regt sich kaum, anders als etwa an der Frankfurter Startbahn West, die nur einen Bruchteil der Fläche verbraucht."

Der Vergleich zum Frankfurter Flughafen ist interessant: Aus der Universitätsstadt, den Lagern von Umweltbewegung und politischen Linken hatten sich Menschen aufgemacht, um gegen Entwaldung, Lärm, Luftverschmutzung und die raue Gangart von Polizei und SPD/FDP-Landesregierung zu protestieren. Auf die bäuerlich geprägte Region zwischen Köln und Aachen, in der seit Ende des 18. Jahrhunderts Kohle gefunden und in zunehmend größeren Gruben abgebaut wurde, schaute kaum jemand. Als direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges begonnen wurde, Menschen umzusiedeln, um Kohle unter Dörfern und Kleinstädten auszugraben, ging das ohne Protest. Die Differenz scheint sich bis in die Bilder von Matthias Jung gehalten zu haben, bei ihm wirken die Protestierenden zugereist, die Häuser einfach aufgegeben, Bewohnern der Region hängen die Schultern und Mundwinkel herab.

Schon in der Lesart des "Spiegel" von 1982 paarten sich die Anstrengungen des Unternehmens – vormals Rheinische Braunkohlenwerke, heute RWE –, nach der Graberei eine freizeittaugliche Landschaft herzustellen, mit dem Gefühl, sowieso nichts gegen die Verschmelzung von großindustriellen und politischen Interessen tun zu können. Wer will, kann hier viel von der konservativen Zielvorgabe einer "formierten Gesellschaft" der industriellen Moderne erkennen, also der von Ludwig Erhard zum Regierungsprogramm amalgamierten Debatte, nach der soziale Gruppen "nicht mehr einander ausschließende Ziele verfolgen, sondern sich vielmehr zu einer zusammenwirkenden Gemeinschaft zusammenfinden" sollten. In NRW war es die Kohlewirtschaft, die ein Aufstiegsversprechen, einen weitgehend egalitären Lebensstandard mit kultureller Homogenität herstellte – es war die Sozialdemokratie, die dafür Regeln des Allgemeinen beschwor, die Interessen des Einzelnen hatten zurückzustecken.

Bilder voll zurückgenommener Ruhe

Solche historischen Einordnungen fehlen bei Matthias Jung, dafür begleitet er RWE-Infostände und PR-Maßnahmen, die bunte Wimpel aufbauen – hinterher wird vermutlich selbst der Boden darunter weggeschafft. Seine Aufnahmen schweifen über das zum Bauerwartungsland reduzierte Gelände vor herannahenden Schaufelbaggern. Fundstücke aus dem Hausmuseum Otzenrath, Altarreliquien, oder Scherben der Bandkeramischen Kultur, viertausende Jahre vor Christus getöpfert, wirken wie schüchterne Hinweise, dass der Boden hier nicht neutral und geräuschlos kommodifizierbar ist.

Jungs Bildsprache hat eine zurückgenommene Ruhe, selbst aus der Distanz überblickte Verfolgungsjagden von Polizei und Protest auf abgeernteten Kornfeldern vor den am Horizont aufgereihten Kraftwerken verströmen etwas Spielerisches, Ritualisiertes. Allerdings verbirgt Jung seinen Standpunkt nicht – den Porträts von Protestierenden stehen keine ähnlichen Aufnahmen von Polizistinnen und Polizisten gegenüber, verlassenen Häusern nur ein Bild aus einem Umsiedlungsdorf. Menschen, die in der Kohlenwirtschaft arbeiten, ihr Lebensumfeld, die Versprechen der industriellen Moderne fehlen ganz.

In der Konsequenz blicken wir auf ein allegorisches Tableau, das auf Elemente verzichtet, die historisch tiefer graben oder politische Entscheidungsebenen wie den Kohlekompromiss von 2019 begleitet. Dafür lässt die Distanz den Eindruck eines gewaltigen Gesellschaftsspiels zurück – da werden größte Löcher in die Landschaft gegraben, Menschen verschoben, Protest wegwischt. Genau darauf zielt der kritische Gehalt der Bilderserie.