Miriam Cahn in Paris

Dein Körper ist dein Gesetz

Mit ihrem feministischen Blick auf Krieg, Flucht und Vertreibung passt Miriam Cahn in unsere zerrüttete Gegenwart. Aber der Humanismus der Schweizer Malerin strahlt über das Jetzt hinaus, wie sie im Pariser Palais de Tokyo beweist

Eine Faust mitten ins Gesicht, schneebedeckte Berggipfel eingespannt zwischen Himmelblau und einem satt-giftigem Talgrün, eine Reihe monumentaler Zeichnungen in düsterem Graffitstaub neben kleinen zarten Papieren. Und immer wieder frontal uns anblickende Gesichter, maskenhaft, mehr Chiffren als Person. Ein Spalier aufrecht stehender Körper beiderlei Geschlechts. Leiber ineinander verstrickt, kämpfend, kapitulierend, kopulierend oder auch inmitten des Gebär-Aktes. So oder in Variation dieser Melange aus Formaten, Techniken und Bildgenres sehen typische Ausstellungen von Miriam Cahn aus. Wie selbstverständlich verweigert sie den Besuchern die Zelebrierung von singulären Meisterwerken.

Ihre sorgfältig komponierte Abfolge von Malerei, Zeichnung, auch Fotografie machen eines klar: Hier ist eine Denkbewegung im steten Fluss und die Kette an Werken scheint kein Ende zu nehmen, spuckt Bild für Bild aus und rhytmisiert damit den Raum, was den nicht einfachen Ausstellungshallen des Pariser Palais de Tokyo eine formale Struktur gibt ohne dabei eine lineare Narration zu bemühen.

Cahn installiert ihre Ausstellung wie einen Parcours, der in unterschiedlichen Temperaturen und Intensitäten strahlt und glüht, von frostigen Minusgraden bis hin zum explosiven Hochofen. Man kann sich nie wirklich sicher sein, wer hinter der nächsten Ecke hervorspringt. Ein erigierter Penis oder ein Panzer, die alienhaften Köpfe in fluoreszierendem Pink- oder Gelbtönen, ein Hund oder eine andere Kreatur. Das Disparate bleibt Prinzip, auch wenn im Clash der Montage immer wieder Funken sprühen und man kurz zusammenzuckt, wie sie das wieder schafft, auch bekannte Werke neu aufzuladen und sich nicht zu wiederholen in einer Dramaturgie der reinen Überforderung. Denn zu wenig gibt es hier sicher nicht an den Wänden.

Der Generalbass Cahns ist die menschliche Existenz

Die aktuelle Präsentation im Pariser Palais de Tokyo, "Ma pensée sérielle", ist die größte Einzelschau der Schweizer Künstlerin in Frankreich bislang und nach wichtigen Ausstellungen in Madrid, Warschau München, Milano, Siegen etc  ein weitere Beweis ihrer überragenden Bedeutung in der Gegenwartskunst. Das war nicht nicht immer so. Als Feministin der zweiten Generation tituliert, seit den 1970er-Jahren politisch und gesellschaftlich aktiv und nicht müde, das einzufordern, was fehlt: die Sichtbarkeit der anderen, weiblichen Hälfte der Gesellschaft. Ihr Motor war, ist und bleibt der Zorn, die Unruhe darüber, was noch nicht eingelöst ist. Das offensichtliche Fehlen bestimmter Themen und Gegenstände. Maria mit dem Jesusknaben, die stillende Maria, ja, schön und gut, so Cahn, aber wo ist die gebärende Maria?

In Paris spannt sich der Bogen von den 1980er-Jahren, mit Werken, die Krieg und Zerstörung thematisieren, bis hin zu den aktuellen Sujets von Geflüchteten und Vertriebenen. Metoo und die Ukraine sind anwesend, doch der Generalbass Cahns ist die menschliche Existenz, eine Humanität, die niemand für gegeben nehmen sollte, der von der Allpräsenz von Folter, Gewalt und Unterdrückung weiß. Die Schweizer Berge sind keine Insel der Seeligen, es gibt hier kein Entkommen in reine Landschaftsidylle.

Bei der französischen Schriftstellerin Colette Pignot, die ihre Texte unter dem Pseudonym Laure veröffentlichte, heißt es an einer Stelle, "Dein Körper ist dein Gesetz. Alles kommt DANACH." Cahns Bilder machen dies schmerzlich bewusst. Der Körper ist unser Vehikel im gesellschaftlichen wie Privaten, er trägt die Spuren unserer Existenz und lässt uns nie allein.

Ambiguität mit eingeschrieben

Die geballte Faust könnte ihr Signet sein, die Faust, die sich öffnet, um zu einer zärtlichen Geste den Körper des Anderen zu erreichen. Diese Ambiguität ist den Werken der Ausstellung eingeschrieben, ist ein Teil ihrer DNA. Der Protest, die Dissonanz der Unbequemen ist dabei nur eine Seite der Medaille. In den 1970er-Jahren verfasste Miriam Cahn einen Brief an den Direktor der Basler Gewerbeschule, um einen Zeichenkurs vorzuschlagen. Sie beschreibt, was sie an der traditionellen Künstler-Ausbildung vermisst, und warum sie es es für unzureichend empfindet, einen Würfel nur perfekt abzuzeichnen. Man müsse die Frage nach dem Körper der Zeichnenden stellen und den Studierenden erlauben, einen Würfel neu zu denken. Ihr ging es dabei schlichtweg um eine konkrete Situation, ein konstruktive Kritik. Nur wenn das verhallt, kann sie eben auch laut werden, dann zieht sie auch schon einmal ihre Arbeiten von der Documenta ab, wie im Jahre 1972 geschehen, weil sie sich vom Leiter Rudi Fuchs missverstanden und nicht wahrgenommen fühlte.

Der Katalog der Pariser Schau erweitert den politischen Resonanzraum um Stimmen der Aktualität. Da schreibt Paul B. Preciado, und die ukrainische Schriftstellerin Iryna Tsilyk kommentiert aus Kiew. Das kann man machen, muss es aber nicht, denn Cahns Statement ist die Ausstellung, sind die Bilder und ihre eigenen Texte, die in ihrer Wucht eigentlich ohne Support auskommen.

Die Künstlerin, die nun jenseits der 70 als Vorbild für eine Generation jüngerer Künstlerinnen dient, hat sich mit ihrer nonchalanten Radikalität eine Freiheit gewonnen, die im Kunstbetrieb der Gegenwart nur den wenigsten gestattet wird, weil sie mit ihrer Unkontrollierbarkeit eben auch ein Risiko darstellen könnte. Doch Betrieb und Diskurs scheinen sich hier synchronisiert zu haben, Miriam Cahns Widersprüche zum Zustand der Welt werden seltener überhört, und man kann sich nur wünschen, dass sie nicht leiser wird in ihren Werken.