Bilanz aus Venedig

Ein Festival der Abgründe

Regisseur Todd Philipps und sein Hauptdarsteller Joaquin Phoenix nehmen den Goldenen Löwen für "Joker" entgegen
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Regisseur Todd Phillips und sein Hauptdarsteller Joaquin Phoenix nehmen den Goldenen Löwen für "Joker" entgegen

Die 76. Filmfestspiele in Venedig wurden von düster-politischen Filmen geprägt. Über allem hallte das wahnsinnige Lachen des "Jokers", der den Goldenen Löwen gewann

Das zwanghafte Lachen von Joaquin Phoenix hallt lange nach. "Joker" gewinnt den Goldenen Löwen der 76. venezianischen Mostra. Mehr Psychodrama als Comic-Adaption, ist der Film typisch für einen Wettbewerb, in dem sich lauter Abgründe auftaten – soziale Risse, politische Untiefen, Löcher in der Seele. Schade, dass Noah Baumbachs "Marriage Story" leer ausging, der mit immenser Erzähldichte messerscharf und liebevoll zugleich von einer Kleinfamilie erzählte. Das Private ist Politisch – das ist keine Binse auf diesem Filmfest.

Roman Polanskis "J’Accuse", der den Großen Preis der Jury gewinnt, verbindet eine fesselnde Story mit historischer Wirklichkeit. Im Fokus steht die Dreyfus-Affäre, die im Frankreich der 1890er-Jahre Schlagzeilen machte: Blanker Antisemitismus stand hinter der Verurteilung des jüdischen Offiziers Dreyfus wegen angeblichen Landesverrats.

Jean Dujardin spielt den Offizierskollegen Picquart, dessen Nachforschungen den Inhaftierten entlasten. Dabei hat der Protagonist dieser Mischung aus Detektiv- und Gerichtsfilm durchaus etwas gegen Juden, aber eben auch gegen "alternative Fakten". Ambivalenz sorgt für Glaubwürdigkeit. Überhaupt ist "J’Accuse" ein so intensiver Film, dass die Jury ihn kaum übergehen konnte. Regisseurin und Juryvorsitzende Lucrecia Martel hat aus ihrer Skepsis gegenüber dem seit langem mit Missbrauchsvorwürfen konfrontierten Polanski keinen Hehl gemacht. Nun hat "ihr" Gremium einen großartigen Film ausgezeichnet. Die Kontroverse über seinen Regisseur wird so oder so nicht verstummen.

Nur zwei Filmemacherinnen vertreten

In die Diskussion über zuwenig Chancengleichheit von Frauen im Filmgeschäft will der Fall Polanski ohnehin nicht wirklich passen. Warum auch immer: Die Auswahl von Regisseurinnen (nicht nur) für die Hauptschiene war in diesem Jahr wieder so gering, dass ein Preis der oberen Kategorie allein statistisch nicht wahrscheinlich war.

Es waren zwei Filmemacherinnen vertreten. "The Perfect Candidate" der saudiarabischen Regisseurin Haifaa Al Mansour war ein unterhaltsames, indes nicht hervorstechendes Drama um eine Frau, die bei einer lokalen Wahl antritt und so das Patriarchat herausfordert. Im Fall von Shannon Murphys emotional facettenreichem "Babyteeth" um die Amour Fou einer krebskranken Teenagerin mit einem Junkie wären verschiedene Preiskonstellationen denkbar gewesen. Gut, dass immerhin der irrlichternde Toby Wallace (als drogenabhängiger Moses) den Marcello Mastroianni Award als Bester Junger Darsteller erhalten hat.

Es ist ohnehin so, dass Jurys mit Darstellerpreisen auf Gesamtqualitäten von Filmen hinweisen. Ohnehin muss man bedenken: Auf Festivals laufen mehr gute Werke, als Preise zu vergeben sind.

Es fehlte an formaler Experimentierfreude

Charakteristisch für den diesjährigen Wettbewerb sind Filme, die auf ungewöhnliche Art mit Genrekonventionen spielen. Es fehlte insgesamt jedoch an formaler Experimentierfreude, die im vergangenen Jahr Filmemacher wie Brady Corbet ("Vox Lux"), Carlos Reygadas ("Nuestro Tiempo") und László Nemes ("Sunset") an den Tag legten (alle drei genannten Filme sind bereits in den deutschen Kinos gelaufen). Schon mangels Alternativen kam die Jury also nicht an dem neuen Film von Roy Andersson vorbei und verlieh ihm den Silbernen Löwen als Bester Regisseur.

"Über Unendlichkeit", ein Reigen aus mal bedrückenden, mal humorvollen Tableaux vivants, ist nicht nur im Erzählton einzigartig, sondern auch künstlerisch sehr besonders. Die im Studio gebauten Szenerien verleihen den Erzählminiaturen etwas Traumverlorenes. Stilistisch orientiert sich Andersson, der 2014 schon den Goldenen Löwen gewann, an Malerei der Neuen Sachlichkeit oder an den surrealen Erfindungen eines Marc Chagall.

So schwebt in einer Filmsequenz ein Liebespaar über der vom Krieg zerstörten Stadt Köln. In einer anderen Episode wartet Hitler im Führerbunker auf seinen Untergang. Andersson mixt Historisches mit Heutigem, Katastrophen mit komischen Missgeschicken. Humor und Horror steigern sich gegenseitig.

Ausnahmewerk aus Hongkong

Nicht allein durch die computergestützte Animationstechnik ist "No.7 Cherry Lane" aus Hongkong – und in der Metropole 1967 spielend – ebenso ein Ausnahmewerk dieser Filmfestspiele. Geschaffen hat es der Filmemacher Yonfan, der mit dem Preis für das Beste Drehbuch ausgezeichnet wurde. Die melancholisch behauchten Episoden aus den späten 60er-Jahren gleiten nie ins Sentimentale ab, dafür sorgen hinreißend animierte, skurrile und surreale Details.

Ein weiterer Abweichler wurde mit dem Spezialpreis der Jury bedacht: Mit "La mafia non è più quella di una volta" hat Franco Maresco einen Dokumentarfilm über Palermo und die Mafia gedreht, der gleichermaßen zum Lachen und zum Heulen ist. Maresco zeigt, wie wenig die Bevölkerung noch über die Juristen Borsellino und Falcone weiß (oder wissen will), die 1992 durch ein Bombenattentat getötet wurden.

Der Film widmet sich unter anderem der widerborstigen Fotografin Letizia Battaglia, die gegen das Vergessen kämpft und sich von den kriminellen Clans nach wie vor nicht einschüchtern lässt. Und Maresco fokussiert auf eine dubiose "Gedenkveranstaltung" für Borsellino und Falcone, in der unbegabte Schlagersänger und ihre grässlichen Musiknummern das angebliche Projekt ad absurdum führen.

"Nein zur Mafia" will keiner sagen

Den Satz "Nein zur Mafia!" möchte keine/r der Mitwirkenden ins Mikrofon sprechen. Warum? fragt Maresco, und kriegt bloß schwachsinnige Antworten. Am Beispiel des TV-Conferenciers Ciccio Mira, der die Veranstaltung initiiert hat und sich in schöner Regelmäßigkeit um Kopf und Kragen redet, zeigt der Filmemacher die tiefe Verstrickung weiter Bevölkerungsteile in mafiose Strukturen. Blanke Angst sieht man auch. Ein wahrer Horrorfilm, zum Schreien komisch.