Fotograf Pascal Maitre über Afghanistan

"Wir wissen längst nicht genug über die Lage im Land"

Der Fotograf Pascal Maitre reist seit den 1970er-Jahren nach Afghanistan - und hat sich oft über westliches Unwissen über das Land geärgert. Hier spricht er über die aktuelle Situation und seine Sorgen um die Menschen vor Ort

Seit 35 Jahren reist der französische Fotojournalist Pascal Maitre regelmäßig nach Afghanistan, fotografiert dort für "National Geographic", "Figaro" und "Paris Match". Kaum jemand aus dem westlichen Raum kennt das Land so gut wie er. Monopol hat ihn auf dem größten Outdoor-Fotofestival im österreichischen Baden getroffen und mit ihm über die aktuelle Lage im Land nach der Machtübernahme der Taliban gesprochen.

Herr Maitre, was dachten Sie, als Sie von der erneuten Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hörten?

Mich überraschte nicht, dass es geschah, sondern eher, dass es so schnell ging. Als ich vergangenen November dort war, befanden sich die Taliban bereits kurz vor der Stadt Maidan Shar. Was mich immer noch wundert – und darauf habe ich noch keine Antwort: Warum hat bislang keiner der afghanischen Kriegsherren den Kampf gegen die Taliban aufgenommen? Stattdessen überlassen sie ihnen einfach das Feld. Vielleicht, weil die Warlords die Nase voll haben von der sehr korrupten afghanischen Regierung. Vielleicht aber lassen sie die Taliban erst einmal gewähren und beginnen jetzt erst, einen Widerstand vorzubereiten. Ich kann mir kaum vorstellen, dass ethnische Gruppen wie die Hazara sich noch nicht bereit machen. Aber ich bin mir nicht sicher. Wir wissen längst noch nicht genug über die Lage im Land.

Der Termin für den Abzug der US-Truppen stand lange fest. Nicht nur die Taliban werden sich darauf vorbereitet haben – sondern vermutlich auch die lokalen Warlords, dass mit einer Machtübernahme der Taliban zu rechnen ist.

Davon ist auszugehen. Aber irgendetwas fühlt sich dennoch merkwürdig an. Vielleicht gab es eine geheime Abmachung zwischen ihnen und den Taliban. Das große Problem ist nun, dass die Taliban im Grunde das ganze Land kontrollieren und Leute, die sich ihnen nicht anschließen, nirgendwo einen Platz haben, um sich zu verstecken.

Ihr letzter Besuch in Afghanistan war im November 2020. Sie verbrachten etwa zwei Wochen im Land, die Situation war sehr entspannt, sehr offen, sehr demokratisch geprägt. Dennoch spürten Sie bereits, dass sich etwas verändert.

Die Menschen waren beunruhigt. Im Alltag merkte man das kaum. Ich ging zur Universität und sah dort junge Frauen, die spazieren gingen, lachten und sich amüsierten. Aber sobald man Kabul verließ, lag sofort eine Anspannung in der Luft. Als ich Maidan Shar besuchte, in der Nähe der Frontlinie mit den Taliban, hatten die Leute, die uns dorthin brachten, große Angst und sagten, wir dürften keinesfalls allzu lange bleiben. Dann hörte man die Nachricht, dass dieser Posten verloren sei, und der nächste und noch einer und noch einer. Es war nicht zu übersehen, dass die Taliban langsam einmarschieren würden.

Was hat Sie zum ersten Mal nach Afghanistan geführt?

Eine touristische Reise im Jahr 1976. Neun Jahre später war ich zusammen mit dem Historiker Michael Barry im Auftrag der französischen Fotoagentur Gamma erneut dort unterwegs. Wir dokumentieren den Abzug der Russen aus Afghanistan. Wir mussten illegal über Pakistan in das Land einreisen und dann 1500 Kilometer zu Fuß gehen, meist nachts, um nicht entdeckt zu werden. An der Grenze nahmen mir die Afghanen meine Kamera weg, verstauten sie in einem Kartoffelsack, und ich wusste nicht, ob ich sie jemals wiederbekommen würde. Ein paar Tage später bekam ich sie schließlich zurück. Zusammen mit etwa 20 Mudschahedin verbrachten wir zwei Monate in dem Land. Das war ein unglaubliches Abenteuer.

Die meisten Menschen in der westlichen Welt wissen – abseits von Taliban und al-Qaida – kaum etwas über Afghanistan.

Ja, und manchmal macht mich das wütend. Ich habe viele Interviews mit anderen Fotojournalisten gelesen: Ihr Erzählung über das Land beginnt immer dann, wenn die Amerikaner einmarschierten. Das ist doch Blödsinn.

Sie hingegen verbrachten während der amerikanischen Besatzung kaum Zeit in Afghanistan. Warum?

Ich war kurz während der amerikanischen Invasion dort und sah sofort, dass es nicht mehr das echte Afghanistan war. In Kabul sah ich ständig Leute aus 30 verschiedenen Ländern. Italiener, Franzosen, Amerikaner und so viele andere. Die afghanische Bevölkerung war verunsichert und fühlte sich nicht wohl. Deshalb kehrte ich erst mit meiner Kamera zurück, als die meisten dieser internationalen Truppen abgezogen waren.

Was fasziniert Sie an Afghanistan und hat Sie deshalb veranlasst, so oft wiederzukommen?

Das Land und seine Menschen sind wunderbar. Die Geografie ist unglaublich. Für einen Fotografen ist der Basar von Kabul so, als würde man drei Jahrhunderte in der Zeit zurückversetzt. So muss der Orient ausgesehen haben... Afghanistan ist ein starkes Land mit einem starken Charakter, aber auch mit seinen Problemen. Etwa die Unterdrückung der Frauen, die schon vor dem Aufstieg der Taliban bestand. Ich traf hin und wieder Frauen, die zu mir sagten: "Als die Taliban kamen, mussten wir uns hinter einem Schleier verbergen. Aber weißt du, was noch schlimmer ist, als einen Schleier zu tragen? Vergewaltigt zu werden." Sie spielten damit auf die Herrschaft der Mudschaheddin vor den Taliban an. Und das ist auch der Grund, warum es für die Taliban anfangs so einfach war, die Kontrolle zu übernehmen: weil das Land bereits in einem großen Chaos versunken war und die Bevölkerung froh war, dass jemand versuchte, die Strukturen wieder aufzubauen, Gesetze zu erlassen und so weiter. Der große Fehler der Taliban war es dann, Osama bin Laden willkommen zu heißen.

Sie haben das Land und seine Menschen so oft besucht. Was kommt Ihnen zuerst in den Sinn, wenn Sie an das heutige Afghanistan denken?

Eine große Traurigkeit. In den letzten drei Jahren reiste ich sechs Mal nach Afghanistan und wurde dabei von einem jungen Fotografen begleitet. Ein sehr intelligenter Mensch. Sehr klug, lustig und freundlich. Voller Leben. Angesichts der aktuellen Situation habe ich keine Ahnung, was Menschen wie er, was seine Generation tun kann. Einer dieser Jungs erzählte mir auch, dass es in jeder Familie eine Menge Trauer gibt, weil fast alle ein Familienmitglied verloren haben. Wenn man die Dinge in einem größeren Kontext betrachtet, wird deutlich, wie es jede Familie betrifft. Das ist nicht normal. Das ist nicht fair. Denn der Westen hat zweimal in Afghanistan eingemischt, um seine Probleme zu lösen. Zuerst gegen die Kommunisten und dann, um bin Laden zu töten. Die Menschen, die am meisten leiden, sind aber die Afghanen.

Was erwarten Sie, was in den nächsten Monaten in dem Land passieren wird?

Das ist schwer zu sagen. Ich weiß es wirklich nicht. Ich hoffe, dass das Chaos und das Leid irgendwann aufhören werden, aber ich habe Angst, dass der sogenannte Islamische Staat seine Position in Afghanistan festigen wird. Und dass sich so etwas wie der 11. September wiederholen könnte.

Werden Sie wieder nach Afghanistan reisen, um dort zu fotografieren?

Ja, sobald es wieder möglich ist und sich die derzeitigen Unruhen ein wenig gelegt haben. Vielleicht in drei bis fünf Monaten.


Ein Interview mit dem in Deutschland lebenden afghanischen Künstler Yama Rahimi lesen Sie hier