Künstlerin Firenze Lai über Hongkong-Proteste

"Wir schwitzen und schreien und weinen zusammen"

Die Malerin Firenze Lai war von Anfang an bei den Hongkonger Protesten dabei. Im Interview erzählt sie von ihren eindrücklichsten Erfahrungen und Strategien gegen Polizeigewalt - und erklärt, warum Busfahrer wichtiger als Künstler sind

Alles fing mit einem Gesetz an, das die Auslieferung von Hongkonger Bürgern an China ermöglichen würde. Seit dem öffentlichen Aufschrei, der auf die Pläne der Regierung in der chinesischen Sonderverwaltungszone folgte, gehen seit gut zwei Monaten immer wieder Hunderttausende Menschen auf die Straße. Inzwischen fordern die Demonstranten nicht mehr nur, das umstrittene Gesetz zurückzunehmen (die Hongkonger Regierung hat es als "tot" bezeichnet, doch viele fürchten eine Wiederauferstehung), sondern weitergehende demokratische Freiheiten. Die Proteste sind von großer Solidarität unter den Teilnehmern geprägt, immer wieder kommt es jedoch auch zu Übergriffen durch die Polizei. Die Malerin Firenze Lai war von Beginn an bei den Protesten dabei. Wir haben mit ihr über ihre Eindrücke und die Rolle der Kunstszene gesprochen.  

Firenze Lai, seit Monaten gehen Sie mit den anderen Demonstranten in Hongkong gegen den Einfluss der chinesischen Regierung auf die Straße. Wann hatten Sie das Gefühl: Hier passiert etwas Historisches?

Das war am 1. Juli, als die Demonstranten das " Legco", also das Regierungsgebäude, gestürmt haben. Das war ein Wendepunkt für die Bewegung.

Gibt es Szenen, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind? 

Ja, natürlich die erste Person, die sich selbst für die Bewegung umgebracht hat. Inzwischen soll es sechs Personen geben, die dasselbe getan haben, und unsere Regierung antwortet noch immer nicht auf die fünf Forderungen: Die Rücknahme des Auslieferungsgesetzes, den Rücktritt von Regierungschefin Carrie Lam, unabhängige Ermittlungen zu Polizeigewalt, Freilassung der inhaftierten Demonstranten und mehr demokratische Freiheit. 

Fühlen Sie sich selbst als Beobachterin oder Teilnehmerin der Proteste?

Unter uns Hongkongern gibt es das Sprichwort: Wir nehmen nicht nur an den Protesten teil, sie gehören uns. Wir finanzieren sie, wir sind zusammen auf der Straße, wir schwitzen und schreien und weinen zusammen. Und am wichtigsten: Wir lernen, unsere eigene neue Rolle in den Protesten zu finden. Manche entscheiden, von Angesicht zu Angesicht mit der Polizei zu kämpfen - ganz normale Menschen wie Sie und ich, die verhaftet und wegen Randale angezeigt wurden: Piloten, Krankenpfleger, Sozialarbeiter, Lehrerinnen, Verkäuferinnen und so weiter. Andere helfen dabei, die "Lennon Walls" mit den Notizzetteln zu betreuen, wieder andere konzentrieren sich darauf, internationale Aufmerksamkeit zu erregen. Manche fangen sogar an, Selbstverteidigungstechniken zu lehren, mit denen man sich vor den Schlagstöcken der Polizei oder den Messern der Triaden-Gangs schützen kann. Es gibt eine Szene, die ich nicht vergessen kann: Ich sah eine Frau in einer besetzten Zone, vom Aussehen her eine Hausfrau in ihren 50ern, die ganz allein Barrikaden aufbaute - sehr schwere Schienen aus Metall. Diese Sache geht uns alle an. Ich würde sagen, ganz Hongkong steckt zusammen dort drin, egal ob man für oder gegen die Proteste ist.

Sie haben gesagt, dass Sie nur als Bürgerin, nicht als Künstlerin sprechen wollen. Was ist für Sie der Unterschied?

Ich habe das gesagt, weil ich fühle, dass ich auf die Straße gehen sollte wie alle anderen auch. Als Künstlerin male ich vor allem, und ich finde nicht, dass Malerei ein effektives Medium ist, dass diese gegenwärtigen Ereignisse reflektieren kann. Malerei braucht Zeit. Ich gaube, dass jeder Beruf seinen eigenen Platz in der Gesellschaft hat, und gerade jetzt ist ein streikender Busfahrer viel wichtiger als ein Künstler, der dasselbe tut, oder? Aber es kommt auf die Situation an: Dieses Interview gebe ich als Künstlerin. 

Die Regierung in Hongkong und China betont immer wieder, dass die Protestbewegung eben nicht in der breiten Gesellschaft verankert ist. Wer protestiert eigentlich?

Unsere Regierung hat behauptet, dass die Demonstranten keinen Rückhalt in der Gesellschaft haben, die von anderen aufgebaut wurde. Die Polizei hat die Protestteilnehmer in einem offenen Brief als "Kakerlaken" bezeichnet. Sie wolle den Eindruck erwecken, dass die Demonstranten vor allem aus der Unterschicht kommen, sie sind entweder zu jung oder zu arm, um etwa zu sagen zu haben. Sie weigern sich anzuerkennen, dass es zahllose Anwälte, Akademikerinnen, Ärztinnen, Pfleger und Luftfahrtbeschäftigte auf der Sraße gibt. Sogar Angestellte der Regierung schließen sich den Protesten und Streiks an. Können wir weiter in einem System leben, das Gerechtigkeit und Demokatie nicht respektiert? Wer kann sich selbst noch schützen, wenn man unter einem Regime leben muss, dass seine eigenen Bürger als Kakerlaken bezeichnet, wenn sie ihre Stimme erheben, und behauptet, diese Stimmen hätten keinen Anteil an der Gesellschaft? 

Welche Rolle spielt die Kunst- und Kulturszene in Hongkong? Viele Einrichtungen haben sich früh den Protesten angeschlossen oder sich mit ihnen solidarisiert.

Soweit ich weiß, sind die meisten Künstler hier sehr demütig und unterstützend gegenüber der Bewegung. Wir treffen uns immer wieder mal zufällig bei den Protesten und teilen Gedanken und Ideen auf Social Media wie alle anderen auch. Keiner hat Zeit oder Muße, jetzt schon eine Ausstellung oder Performance zu machen. Wir sind gerade mitten in einer turbulenten Situation. Die Kulturszene war schon immer besonders sensibel gegenüber Gesetzen, die die freie Rede gefährden, also bekommt man den Eindruck, dass sie vom Auslieferungsgesetz besonders betroffen und besorgt ist. Aber ich muss dazu sagen, dass auch die Upper und Middle Class aus dem Handel, Banken- und dem Finanzsektor sehr früh ihre Bedenken geäußert hat. 

Ist es wichtig, dass die Demonstranten mit ihren Kostümen, Regenschirmen und grafischen Plakaten auch etwas Bildgewaltiges erzeugen? 

Wir nennen die Kostüme hier "Ausrüstung". Sie mögen cool aussehen, aber sie sind sehr zerbrechlich. Verglichen mit der Panzerung der Polizei ist das Spielzeug. Die Ausrüstung der Demonstranten ist sehr praktisch, nichts daran ist performativ.  Sie kleiden sich alle taktisch in Schwarz, die Helme, Schutzbrillen und Gesichtsmasken tragen sie wegen des Tränengases und der Schlagstöcke und Gummigeschosse der Polizei. Die UV-Ärmel sind natürlich nicht gegen UV-Strahlen, sondern gegen Tränengas. Klarsichtfolie ist am effektivsten gegen Pfefferspray. Manche Ausstattung mag wie Theaterrequisiten aussehen: Schilde aus Karton oder Bratpfannendeckeln oder ein Spielzeugschild aus dem Halloween-Shop. Aber gerade junge Demonstranten haben oft kein Geld und müssen eben improvisieren.   

Sie haben auf Ihren Social Media Accounts ziemlich brutale Bilder gezeigt, die Polizeigewalt belegen sollen. Muss man die sehen?

Die Bilder zeigen die Wunden von Demonstranten, die von der Polizei oder den "Triad"-Gangs attackiert wurden, die laut glaubwürdiger Quellen mit der Polizei kooperieren. Viele, die die Bilder geteilt haben, haben sie verpixelt, weil der Inhalt zu grausam ist, um ihn anzuschauen. Aber ich sage wir sollten sie nicht verpixeln. Die Menschen auf den Fotos ertragen den Schmerz und die Verzweiflung allein, wir müssen die Empathie und den Mut aufbringen, direkt in ihren Schmerz zu schauen und ihnen beizustehen. Es ist so gewalttätig wie es ist, niemand sollte dem entkommen. Ich sehe diese Foto als Beweise, die verbreitet werden müssen. Manche der Mainstream-Medien in Hongkong wie der regierungstreue Sender TVB berichten nicht über diese Gewalt und Informieren die Öffentlichkeit nicht. Sie harmonisieren alles. Sie lügen.

Haben Sie Angst?

Ja, sehr sogar.  

Glauben Sie trotzdem noch an einen Erfolg der Proteste?

Ja, ich habe immer noch Hoffnung für ein besseres Hongkong. Das mag naiv sein, aber ich habe Hoffnung.

Man hört immer wieder die Befürchtung, in Hongkong könnte ein zweites Tian'anmen werden, wenn China die Proteste niederschlägt. Teilen Sie diese Sorge?

Ja, alle reden hier über Tian'anmen, und genau deshalb müssen wir weiter protestieren. Die Hongkonger Regierung behauptet, dass sich China seit 1989 geändert und verbessert hat, also lasst uns sehen, wie sie heute die Menschen aus Hongkong behandeln. Man darf nicht vergessen, dass sie die fünf Forderungen bisher unbeantwortet gelassen haben, obwohl das der einfachste Weg wäre, um die Proteste zu beenden. Gab es nicht schon genug Blutvergießen? Ich hoffe, sie werden die richtige Entscheidung treffen. 

Gibt es genug Solidarität aus dem Ausland? 

Ja und nein. Ich persönlich bekomme sehr viele unterstützende Nachrichten von meinen Freunden außerhalb Hongkongs und ich weiß, dass es viel Berichterstattung im Ausland gegeben hat. Dafür bin ich dankbar. Aber ich hoffe, dass es konkrete Maßnahmen von anderen Ländern geben wird, die die Regierung Hongkongs unter Druck setzen. Es muss eine vernünftige Lösung geben.