Leben mit Provisorien

"Es braucht eine gewisse Freiheit im Kopf"

Es gibt mehr als "heile" und "kaputt": Provisorien halten manchmal länger als intakte Dinge. Die Autorin Sandra Danicke hat sie jahrelang gesammelt. Ihr Buch, das nun erscheint, heißt "Für immer"


Sandra Danicke, wann haben Sie angefangen, sich für Provisorien zu interessieren?

Das begann vor zwölf oder 13 Jahren. Ich saß mit einem kaputten Flip-Flop ohne Mobiltelefon im Industriegebiet von Norwich, weit weg von der Innenstadt. Ich dachte, ich komme da nur mit blutiger Fußsohle wieder weg. Mein Begleiter hat den Schuh mit einem Stück Draht und einem Plastikteilchen schnell repariert. Ein Jahr später bekamen wir ein Kind, und er bastelte mir aus einem alten Drehstuhl, einer Bierkiste und einem Stück Matratzenschaum einen "Stillthron", der mir das Leben wirklich erleichtert hat. Keine Ahnung wie andere Frauen es ohne so ein Möbel hinkriegen. Damals haben sich bei mir zuhause eine Menge Provisorien in den Alltag geschlichen.

Von der privaten Beobachtung aus machten Sie dann ja fast so etwas wie ein Phänomen aus: Welche Typen gibt es da?

Es gibt den Tüftler, der so lange an einer Konstruktion feilt, bis sie einwandfrei sitzt. Ein Leser meiner Kolumne in der "Frankfurter Rundschau" hat zur Reparatur seiner Backofentür, die nicht mehr richtig schließt, einen Haltegriff für die Badewanne durchgesägt, durch den dann der Löffel seines Salatbestecks gesteckt wurde, so dass die Tür nicht mehr aufging. Dann gibt es die Pragmatikerin, die sucht nicht erst lange, sondern nimmt das Erstbeste: Wenn der Einschaltknopf der Waschmaschine nicht drinbleibt, knickt sie ein Wattestäbchen und klemmt ihn damit fest. Sehr interessant sind Menschen, die beispielsweise ein altes Stofftier als Gegengewicht für ein vor dem Fenster hängendes Vogelfuttergefäß heranziehen: das Tier baumelt innen vor dem Fenster, die Vogeltränke außen. Wer kommt auf so eine Idee? Am meisten faszinieren mich aber die Irrationalen, wie der Vater eines Freundes.

Was ist dem eingefallen?

In seinem holzvertäfelten Wochenendhäuschen rutschte ein zu kurzes, loses Brett immer wieder an der Wand herunter. Er hätte es festnageln, kleben oder durch ein passendes ersetzen können. Stattdessen rammte er ein spitzes Werkzeug in das Brett, um es bei Bedarf immer wieder hochschieben zu können. Das Provisorium existiert bis heute, obwohl der Mann schon nicht mehr lebt.

Ihr Buch ist in Kapitel wie "Tür auf", "Tür zu" eingeteilt, die schon viel darüber aussagen, wo die Knackpunkte liegen. Wie sind Sie vorgegangen?

Ich habe einfach geschaut: Was schicken mir die Leute am häufigsten, wo liegen also die größten Probleme? Dass zahlreiche Menschen mit defekten Toastern oder undichten Backöfen kämpfen, war mir vorher überhaupt nicht klar. Und offenbar hat nahezu jeder Mensch, der ein Gartenhäuschen besitzt, Probleme mit der Regenrinne.

Ist das Leben mit Provisorien Bequemlichkeit oder Triumph?

Sowohl als auch. Wenn ich einen Korken als Ersatz für einen zerbrochenen Kühlschrankfuß verwende, muss ich mich nicht mit dem Hersteller und seinen Ersatzteilen auseinandersetzen. Darüber hinaus macht es natürlich unheimlich stolz, wenn man feststellt, dass man das altgediente Radio gar nicht wegschmeißen muss, bloß weil der Sendersuchknopf abgebrochen ist. Man kann genauso gut einen 8er-Dübel dranstecken.

Sind wir nicht empfänglich genug für die Stadien, die zwischen "heile" und "kaputt" liegen?

Häufig ist das so, ja. Meistens ist ja nicht die Technik defekt, sodass man zwingend einen Elektriker benötigt. Dann ist es oft billiger, das Gerät auszutauschen. In der Regel ist aber bloß etwas ausgeleiert oder abgebrochen. Manchmal ist auch gar nichts kaputt, sondern es stört bloß irgendwas. Etwa die grelle LED-Leuchte einer Leselampe. Einfach eine Brötchentüte drüber stülpen, schon passt es.

Ich finde das Vorgehen teilweise sehr künstlerisch: Man blickt auf den Alltag als Materialhalde. Und man braucht eine gewisse Freiheit im Kopf, um Dinge so gnadenlos zweckzuentfremden.

Grundsätzlich entstehen die besten Provisorien in Zeiten oder an Orten des Mangels. Ich kenne einen Mann in Russland, dessen Vater hat aus billigen Gabeln eine fantastische Fernsehantenne gebastelt. Hier und heute gibt es natürlich nur selten den Zwang zur Improvisation. Höchstens auf Reisen, wenn in der Ferienwohnung kein Kaffeefilter vorhanden ist. Man kann aber schon sagen, dass Menschen, die Provisorien erfinden, Gegenstände genauer anschauen und sie deshalb flexibler einsetzen können. Sie haben einfach keine Lust, sich mit irgendetwas abzufinden, sondern tun etwas dagegen. Dafür braucht man tatsächlich eine gewisse Freiheit im Kopf, die auch das Unperfekte gelten lässt.

Was ist eigentlich mit Rollläden los?

Defekte Rollladengurte sind offenbar ein Dauerbrenner, sie haben ein eigenes Kapitel. Da kommen die kuriosesten Hilfsmittel zum Einsatz. Besonders imponiert hat mir in diesem Zusammenhang die Konstruktion einer älteren Dame, die ein Nudelholz und einen Fleischklopfer als Gewichte in die Gurtschlaufe gelegt hat, damit der Rollladen ihrer Terrassentür oben bleibt.

Ihr Blick ist bestimmt geschärft, was entdecken Sie gerade in der letzten Zeit?

Im Moment sehe ich vor allem interessante Dinge auf der Straße: Etwa kuriose Möbelaufbauten, mit denen bei Umzügen Parkplätze freigehalten werden. Oder einen Mann, der mit Hilfe von drei aus dem dritten Stock hängenden Verlängerungsschnüren sein Auto gesaugt hat. Gestern lief ich an einem Kinderschuh vorbei, der als Schutz auf einer Anhängerkupplung saß. Dafür hat man früher aufgeschnittene Tennisbälle verwendet.

Mir gefällt die politische Dimension: Die Neuanschaffung wäre gleichzusetzen mit Aufgeben. Sind Provisorien antikapitalistisch?

Definitiv. Uns wird ja immer erzählt, dass es für jedes Bedürfnis das passende Produkt gibt, von der Kiwi-to-Go-Box bis zum Bananenschneider. Aber die Menschen konstruieren sich das, was sie wirklich brauchen, oft selbst, vom Cremetubenausdrücker bis zum Bücherregal-Staubsaugeraufsatz oder dem Handyhalter fürs Auto. Ein Taxifahrer hat sich dazu eine Erdnussdose mit Beton ausgegossenen und in den Getränkehalter gestellt. Darüber hinaus ist es selbstredend sinnvoll, alte Geräte so lange zu verwenden wie möglich – aus ökologischer, finanzieller, aber auch aus praktischer Perspektive. Denn alte Dinge haben fast immer eine bessere Qualität als neue. Ich besitze zum Beispiel einen Küchenmixer aus den 1970er-Jahren, der funktioniert noch einwandfrei, während meine Eltern seitdem bestimmt zehn verschiedene Modelle in Gebrauch hatten, die alle nach und nach den Geist aufgegeben haben. Einmal ist er mir runtergefallen. Das aufgeplatzte Gehäuse ist seitdem mit drumgewickeltem Draht fixiert.