Frau Mields, im Februar sind Sie 90 Jahre alt geworden. In dem Alter sind die meisten schon lange im Ruhestand. Sind Sie noch am Arbeiten?
Mir geht es wie Gerhard Richter: Ich kann zwar nicht mehr großformatig malen, aber zeichnen kann ich immer noch. Und deshalb zeichne ich auch jeden Tag, meist von frühmorgens bis zehn Uhr abends. Geistig bin ich noch nicht in Rente gegangen.
Anlässlich Ihres Geburtstags zeigten und zeigen das Ludwig Forum Aachen und das Kunstmuseum Bonn jeweils eine Ausstellung mit Ihren Arbeiten. Besonders im Fokus waren dort Ihre Röhrenbilder. Sind diese fotorealistischen Zeichnungen von Rohren rückblickend die wichtigsten Werke Ihrer Karriere?
Das Komische ist, dass die Röhrenbilder erst seit der Ausstellung in Aachen so präsent sind. Vorher hat nie jemand über diese Bilder geredet. Dabei waren die Röhren für mich tatsächlich eine Zeit lang sehr wichtig. Sie symbolisieren für mich Kraft, Technik und Aggression und die geometrische Form des Kreises. Die Öffnung des Rohres hat mich sehr interessiert. Als ich aber in den 1970-er Jahren nach Köln gezogen bin, habe ich die Röhrenbilder weiterentwickelt. Ich habe das Objekt weggelassen und mich auf die Grundprinzipien konzentriert.
Welche sind das?
Na, die Zentralperspektive. Die Welt, unsere Geschichte, der Ursprung des Lebens – alles entwickelt sich aus der Mathematik. Die Zentralperspektive ist daher grundlegend.
Sicherlich kann nicht jede oder jeder etwas mit Ihrer mathematischen Kunst anfangen. Wie reagieren Sie auf Unverständnis oder Ablehnung?
Ganz einfach: Leute, die meine Arbeit nicht interessiert, interessieren mich nicht. Das ist eine Form der Gegenseitigkeit. Solch ein Unverständnis ist nicht neu. Zu meinem Lieblingsmaler aus der Renaissance, Paolo Uccello, hat schon Vasari gesagt: "Wenn der sich nicht so viel mit Perspektive und Mathematik beschäftigen würde, dann würde er ein wichtiger Künstler werden." Heute wissen wir: Vasari hatte Unrecht. Uccello ist trotz oder gerade wegen seiner Beschäftigung mit Mathematik ein wichtiger Künstler geworden.
Und bei Ihnen war es ähnlich?
Mir wurde in der Vergangenheit auch vieles gesagt, auf das ich nicht gehört habe. Als ich angefangen habe, meine Beschäftigungen mit der Mathematik in Bildern festzuhalten, haben alle gesagt: "Gemalt wird nicht mehr. Arbeite doch lieber plastisch". Das fand ich aber uninteressant. Zentralperspektive kann man nicht plastisch darstellen. Also habe ich sie gemalt.
Ähnlich wie die Künstler der Renaissance beschäftigen Sie sich mit Systemen, etwa Planeten, Noten oder dem Leben an sich. Um sie zu ergründen, benutzen Sie Mathematik. Warum?
Was diese Systeme miteinander verbindet, ist das Unendliche. Die Frage nach der Unendlichkeit hat in der Mathematik schon immer eine große Rolle gespielt. Außerdem kann man Prinzipien und Abläufe gut mit Zahlen oder geometrischen Formen beschreiben. Beispielsweise Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Diesen Verlauf der Jahreszeiten kann man auch mit "1,2,3,4" bezeichnen. Oder die Himmelsrichtungen: Nord, Süd, Ost und West kann man als Kreuz verbildlichen. Bereits in der Steinzeit hat man so Prinzipien unserer Welt in einfacher Form definiert. Ich nenne es Steinzeitgeometrie.
Was ändert sich denn, wenn man Dinge mit Zahlen und Formen anstatt mit Worten bezeichnet?
Dann kommt das Leben dazu.
Für Sie besteht das Leben also aus Zahlen?
So ist es. Um das Leben verstehen zu können, muss man Mathematik verstehen. Sie bezeichnet die Grundprinzipien der Welt.
Sie bringen also die Prinzipien dieser Welt mithilfe von geometrischen Formen und Zahlen auf die Leinwand. Sind Sie deshalb Künstlerin geworden?
Natürlich. Durch meine Malereien fange ich an, die Dinge zu verstehen. Ich verbildliche meine Denkprozesse. Das ist wie gesagt nicht neu, in der Steinzeit wurde es genauso gemacht. Es gibt Höhlenmalereien in Frankreich, die nur aus geometrischen Formen bestehen, etwa nur aus Strichen. So haben sich die Menschen damals schon die Welt erschlossen.
Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie sich bisher von der Welt erschlossen haben?
Nein. Das ist auch der Grund, warum ich weiterarbeite. Ich möchte manches noch vertiefen und besser verstehen. Ich begreife das Wissen der Welt als einen großen, runden Ball. Wie ein Wollknäuel mit lauter angefangenen Enden. Man kann aber nicht allem nachgehen, was man gerne noch verstehen würde. Denn irgendwann wird der Faden abgeschnitten, durch das Lebensende.
Sie haben in den 1970er-Jahren angefangen, als Künstlerin zu arbeiten. Zuvor hatten Sie eine Ausbildung zur Buchhändlerin gemacht, aber keine Kunsthochschule besucht. War es schwer, sich als Frau durchzusetzen?
Die Kunsthochschulen konnte man sich schenken. Da wurde man als Künstlerin von den Professoren sowieso nicht ernst genommen. Auch später wurde mir immer wieder aufgezeigt, dass Frauen in der Kunst keine Rolle spielten. Ich bin einmal einem wichtigen Kunstkritiker begegnet, der mich fragte, was ich mache. Ich antwortete ihm, dass ich Malerin sei. Da meinte er: "Frauen können nicht malen." Ich sagte nur: "Wenn Sie meinen". Davon darf man sich nicht beirren lassen. Man muss sich durchsetzen.
Wie sieht es heute für Frauen in der Kunstwelt aus?
Es gibt positive Entwicklungen. Aber bereits in den 1970er-Jahren habe ich gesagt: Gleichberechtigung haben wir erst dann, wenn in den Museen genauso viele schlechte Frauen ausgestellt werden wie schlechte Männer. Denn meistens ist es so, dass viele schlechte Künstler mit wenigen guten Künstlerinnen gezeigt werden. Bis heute. Deshalb bin ich für eine Quotenregelung.
Wo es hingegen eindeutige Fortschritte gab, ist die technische Entwicklung. In den 1970er-Jahren haben Sie Rohre als Symbol der Zeit gemalt. Heute gilt Künstliche Intelligenz als Technologie der Zukunft. Wie halten Sie es mit KI?
Ich glaube nicht an eine Weltherrschaft der KI. Denn Künstliche Intelligenz ist sehr begrenzt. Sie ist nicht unendlich. Primzahlen sind es hingegen schon. Oder die Möglichkeiten, Buchstaben aneinanderzureihen. Bei diesen Grundprinzipien kommt man nie zu einem richtigen Schluss, sie werden einer KI immer überlegen sein. Ich habe in den 1970ern einmal ein Schild gemacht mit der Aufschrift "Der unendliche Raum dehnt sich aus". Das stimmt immer noch, KI hin oder her.
Sie arbeiten also weiterhin mit Bleistift und Papier, um die Fragen des Lebens zu ergründen?
So ist es! Momentan arbeite ich an einer Serie über die fünf platonischen Körper. Besonders interessiert mich der Dodekaeder, der für das fünfte platonische Element steht: das Universum. Die Unendlichkeit bleibt logischerweise eine lebenslange Beschäftigung.