Awareness-Konzepte und Trigger-Warnungen

Schlechte Zeiten für radikale Kunst

Marina Abramović lotet in in ihren Performances mentale und körperliche Grenzen aus. Doch manchen geht diese Kunst heute zu nah. Die Royal Academy of Arts in London führt deshalb gerade einige ihre Perfomances in abgeschwächten Varianten aus. Was bleibt von ihrer Intensität?

Marina Abramovićs Performances leben von einer brutalen Ausweglosigkeit. Immer wieder lotete die Künstlerin in ihren Werken mentale und körperliche Grenzen aus. Auch die Zuschauenden fühlten sich von ihren Darbietungen manchmal überfordert und bedrängt. Doch ausgerechnet die Kompromisslosigkeit, die Abramovićs Namen weltbekannt gemacht hat, wird einigen ihrer Performances heute genommen. Der Grund: Sicherheitsmaßnahmen und Awareness-Konzepte in Ausstellungshäusern.

Dass Performances von Abramović verändert werden sollen, um Sicherheits-Richtlinien zu entsprechen, ist nicht neu. Bei der Wiederaufführung ihres Stücks "Luminosity" 2010 im Museum of Modern Arts etwa sollten die Performerinnen einen Fahrradhelm tragen. Die Künstlerin führte "Luminosity" 1997 in Berlin das erste Mal auf und saß dafür selbst sechs Stunden lang nackt auf einem in die Wand montierten Fahrradsitz, die Arme und Beine gespreizt. Heute machen das meist Performerinnen und Performer für sie. Das muss sicher sehr unbequem sein. Und sicherlich wird ihnen in den sechs Stunden auch einmal schwindelig. Aber ein Fahrradhelm, ernsthaft? Das war wohl auch Abramović zu bunt. Sie stimmte damals zu, wie die "New York Times" berichtet, selbst für Kosten bis zu eine Million Dollar aufzukommen, falls den Performerinnen während der Aufführungen etwas zustoße.

2010 wurde ein Fahrradhelm noch abgewendet, dieses Mal jedoch war die Künstlerin machtlos. Einer ihrer Performances wurde nun ein Extra hinzugefügt, das den ganzen Sinn des Werks aushebelt. Der Schauplatz: Die Royal Academy of Arts in London, eine weitere Retrospektive der Künstlerin. Bis Januar 2024 werden dort ihre wichtigsten Performances ausgestellt, einige werden erneut aufgeführt. Auch "Imponderabilia" (in etwa "Unwägbarkeiten"), eine Performance von 1977. Dort performte Abramović mit ihrem damaligen (und 2020 verstorbenen) Partner Ulay: Splitternackt standen die beiden sich in einem Türrahmen gegenüber, der Weg zu den Ausstellungsräumen der Galleria d’Arte Moderna in Bologna führte unweigerlich zwischen ihnen hindurch. 

Ein Umweg als Ausweg

In der Londoner Neuauflage stehen eine nackte Frau und ein nackter Mann auf der Türschwelle zum Museum. Wer will, kann sich zwischen ihnen durchzwängen. Wer nicht will, für den gibt es jetzt eine weitere Tür. Die ist in der ursprünglichen Performance nicht vorgesehen. Sie bildet einen separaten Eingang ins Museum, einen symbolischen großen Bogen um Abramovićs Werk. Wie war das nochmal mit Ausweglosigkeit? Hier gibt es nicht nur einen Ausweg, er ist gleichzeitig auch Umweg! Die Begründung: Die Besucherinnen und Besucher der Royal Academy of Arts könnten sich bedrängt fühlen.

Das ist verständlich. Immerhin stehen die nackten Performer so nah aneinander, dass man sich wortwörtlich durch sie hindurchdrängen muss. Das kann ein Gefühl der Beklemmung hervorrufen. Aber ist nicht genau das das Ziel? Abramović sagte anlässlich dieser Änderung in einem Interview, das die "New York Times" zitiert, dass 80 Prozent ihrer Werke nie aufgeführt worden wären, wenn es früher schon die Richtlinien gegeben hätte, die Ausstellungshäuser heute aufstellen.

Eines ihrer bekanntesten Werke ist "Rythm 0". Eine Performance von 1974, bei dem die Zuschauenden ausgewählte Gegenstände an Abramović "anwenden" durften. Der Kunstkritiker Thomas McEvilley dokumentierte damals mehrere "kleinere sexuelle Übergriffe" auf die Künstlerin, Rasierklingenschnitte und, dass ihr ein geladener Revolver an den Kopf gehalten wurde. Andere Zuschauende schritten daraufhin ein und verhinderten ein mögliches Blutbad. Kaum vorstellbar, dass das heute überhaupt in einer Institution aufgeführt worden wäre. Vielleicht auch gut so?

Warnungen vor Kunst?

Heute gibt es Awareness-Konzepte und Trigger-Warnungen. Es gibt ein größeres Bewusstsein für Traumata und mentale Gesundheit. Das ist richtig. Im Stadion oder in Klubs hätte es diese Konzepte schon viel früher geben müssen. Aber in einem Kunstmuseum? Warnungen vor Kunst? Abramović sei, wie sie sagte, nicht ganz zufrieden mit den Zugeständnissen, die sie in der Royal Academy machen musste. Auf Konfrontation hatte sie aber offenbar keine Lust: "Das Klügste ist, einen Kompromiss einzugehen". Vermutlich, um ihre Kunst überhaupt zeigen zu können.

Aber ist es auch richtig, dass Ausstellungshäuser selbst bekannten Künstlerinnen und Künstlern Richtlinien auferlegen und deswegen ganze Werke geändert werden? Die zweite Tür in Abramovićs Werk scheint ziemlich symbolisch für eine Debatte zu stehen, die dringend geführt werden sollte. Denn sie wirft ernste Fragen auf: Was bedeuten diese Eingriffe für junge Kunstschaffende und deren zukünftige Arbeiten? Behindert das Museum etwa die Entstehung von radikaler, alternativloser Kunst? Möglich. Denn wo die Sorge um das Wohlbefinden des Publikums größer ist als die unangetastete Freiheit der Kunst, ist die Kunst nicht mehr unabhängig. Doch genau das brauchen wir mehr denn je.

In Zeiten, in denen Museen beliebteste Ausflugziele am Wochenende sind (was natürlich gut für die Institutionen ist) und Kunst auf Instagram Konjunktur hat, gibt es viel zu viel Kunst, die sich den Regeln anpasst, um auf der Welle des Hypes mitsurfen zu können. Es gibt Performances, die sich wunderbar in einer Instagram-Story machen, super spektakulär aussehen. Aber hinter der Handykamera niemanden berühren – oder aufwühlen. Oder KI-Kunst, die wunderbar virtuell über die Gläser der VR-Brille wabert, weil sie gerade im Trend ist. Häufig ist ihre Aussagekraft aber unterirdisch.

Kunstgeschichte entsteht nicht durch ästhetische Hypes. Sie entsteht durch Neuheiten, Unangepasstheit und eine Freiheit der Form. Wenn die nicht mal mehr Marina Abramović zugesagt wird, steht es zumindest um neue, kompromisslose Performances schlecht. Um das zu verhindern, scheint ein kritischer Diskurs zwischen Kunstschaffenden und den Institutionen also dringender als je zuvor.