Ukrainische Kunst in Wien

Ein Land taucht aus dem Nebel der Geschichte auf

Der russische Angriffskrieg hat dazu geführt, dass ukrainische Kunst in europäischen Museen endlich Beachtung findet. Einen wichtigen Beitrag zur Würdigung dieser speziellen Modernismen leistet nun eine Ausstellung in Wien

Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine stellte sich wohl für die meisten Westler erstmals die Frage, was denn eigentlich eine ukrainische Kultur ausmache. Ein Dreivierteljahr nach Kriegsbeginn war dann in Madrid eine Ausstellung von Kunst aus der Ukraine zu sehen, begrenzt auf den "Modernismus" der Zeit zwischen 1900 und der Russifizierung im Stalinismus.

Unter Beibehaltung des Titels "In the Eye of the Storm" ("Im Auge des Sturms"), aber mit einem von "Modernismus" auf den Plural "Modernismen in der Ukraine" abgewandelten Untertitel, ist nun eine Art Fortsetzung im Unteren Belvedere in Wien zu sehen. Sie führt zwar etliche der schon in Madrid gezeigten Werke vor, fällt jedoch deutlich umfangreicher aus. 

Vor allem wird die enorm reiche Kunstszene um 1900 gänzlich neu präsentiert. Auch ist die ursprüngliche Gliederung nach den Kunstzentren des Landes zugunsten einer vorsichtig chronologischen Abfolge verändert worden. Beides erweist sich als enorm hilfreich, um die Entstehung der ukrainischen Moderne aus der Volkskunst, doch zugleich unter dem Einfluss auswärtiger Akademien nachzuvollziehen. Eine landeseigene Kunstakademie eröffnete erst Ende November 1917 in Kiew (ukrainisch: Kyjiw), unmittelbar nach Ausrufung der Ukrainischen Volksrepublik und so aufs Engste mit der Gewinnung der eigenen Staatlichkeit verbunden. Doch die Wurzeln reichen bis zur Jahrhundertwende zurück.

Ein weiterer Schub zur Anerkennung

Seit dem Paukenschlag der Madrider Ausstellung, deren Werke immerhin aus dem kriegsbelagerten Land und den Museen vor allem in Kiew herausgebracht werden mussten, ist die Erforschung der zuvor verallgemeinernd der "russischen Avantgarde" zugerechneten ukrainische Moderne, so scheint es, nicht wirklich vorangekommen. Die umfangreiche und sehr sorgfältig nach den vielgestaltigen künstlerischen Strömungen aufgebaute Wiener Ausstellung vermag womöglich einen weiteren Schub zu geben. Interessanterweise sind nun auch Leihgaben aus westlichem, meist privatem Besitz dabei, als Anzeichen, dass sich ein Bewusstsein für die Eigenart der Ukraine bei Museen und Sammlern herausbildet.

Der starke Bezug auf die Volkskunst und damit auf das "Eigene" begleitet die ganze Epoche der ukrainischen Kunst bis zu ihrer gewaltsamen Unterdrückung nach 1930. Damit gleicht die Ukraine anderen Nationen aus dem vormaligen russischen Zarenreich, die ihre Eigenart suchten, wie Finnland oder die baltischen Länder. Umgekehrt öffneten sich die ukrainischen Künstler bereitwillig den Einflüssen aus Paris oder München, wohin es vor 1914 zahlreiche Künstler zum Studium zog. Sehr eigenständig sind etwa die Großformate des frühvollendeten Wsewolod Maksymowytsch, der seinem Leben mit nur 19 Jahren ein Ende setzte, oder die floralen Bildtafeln von Mychajlo Schuk, wie auch die lyrischen Landschaften von Abram Manewytsch.

Das alles geschah noch vor Gründung des kurzlebigen ersten ukrainischen Staates. Auch die Avantgarde im engeren Sinne entstand bereits vor und im Ersten Weltkrieg, mit so kraftvollen Bildern wie jenen von Oleksandr Bohomasow oder Sarah Schor. Die Zeit danach war von Bürgerkrieg und Hungersnöten erneut verdüstert, und auch der 1921 vollendete Sieg der Bolschewiki änderte daran wenig. Umso eindrucksvoller ist die ukrainische Avantgarde - mag man ihr nun, wie in dieser Ausstellung, auch El Lissitzky oder – in ukrainischer Schreibweise – Kasymyr Malewytsch zurechnen, die eine Weile lang an ukrainischen Institutionen tätig waren. Ein Hauptgebiet der Avantgarde muss das Theater gewesen sein, wovon in der Ausstellung zahlreiche Bühnenbildentwürfe zeugen.

Historische Kenntnis ist unabdingbar

1928 gab es im nunmehr sowjetischen Pavillon bei der Biennale von Venedig eine eigene ukrainische Abteilung, in der gegenständliche Werke wie Manujil Schechtmans "Pogrom" gezeigt wurden. Die gegenständliche Malweise schützte übrigens vor Repressionen nicht, wie die Schicksale etwa des künstlerisch enorm einflussreichen Mychajlo Bojtschuk oder von Mykola Kasperowytsch zeigen – beide wurden nach 1936 als "ukrainische Nationalisten" hingerichtet, andere verschwanden im Gulag. Und ein Wassyl Jermilow, von dem das Kölner Museum Ludwig ein Hauptwerk zur Wiener Ausstellung beisteuert, überlebte nur dank völliger Vergessenheit.

Die historische Kenntnis ist unabdingbar, um Eigenart und Eigenwert der ukrainischen Kunst zu erkennen. Dazu bedarf es der originalen Werke. In Wien sind sie vorbildlich präsentiert und warten darauf, dass sich die kunsthistorische Forschung mit Nachdruck ihrer bemächtigt, in der unverzichtbaren Anschauung und Untersuchung der Bilder selbst. Denn in Wien taucht nichts weniger als ein neues Kunst-Land aus dem Nebel der Geschichte auf.