Jahresrückblick

US-Museen schlitterten 2020 in eine handfeste Krise

Die Finanzierung von US-Museen hängt vor allem an Sponsoren und Eintrittsgeldern. Deshalb bringt eine Krise wie die Corona-Pandemie einige Häuser in ernste Schwierigkeiten. Auch Proteste gegen rassistische Strukturen kratzten 2020 am Selbstverständnis vieler Institutionen

Welche Ausstellungen er in diesem Jahr am besten fand? Die Antwort des New Yorker Kritikers Jerry Saltz lautete: Alle, die er überhaupt persönlich gesehen habe. Viel Gelegenheit dazu hatte er nicht. Am 12. März mussten die Museen im von Corona hart getroffenen New York schließen, erst am 27. August öffneten die ersten Häuser wieder ihre Tore, nach 26 Wochen Schließzeit. Zurzeit sind die großen Institutionen vom Metropolitan Museum über das Museum of Modern Art bis zum Whitney bei reduzierter Besucherzahl geöffnet. Aber wer weiß, ob nicht noch ein zweiter Lockdown kommt – so wie in Kalifornien, wo seit Mitte November "nicht essenzielle Geschäfte" geschlossen sind, und mit ihnen auch die Ausstellungshäuser.

Wann immer man in diesem Jahr mit Leuten aus der Museumsszene der USA sprach, begegnete einem eine Ratlosigkeit, ja Verzweiflung, die die der europäischen Kollegen und Kolleginnen bei weitem übertraf. Denn wo die Finanzierung vor allem an privaten Sponsoren und an Eintrittsgeldern hängt, bringt eine Krise wie die Corona-Pandemie die Häuser in ernste Schwierigkeiten. Nach einer Umfrage des amerikanischen Museumsbundes haben 53 Prozent der amerikanischen Museen aufgrund der Corona-Krise Angestellte entlassen müssen. Der durchschnittliche Rückgang ihrer Budgets beträgt 35 Prozent. Allein das Metropolitan Museum in New York schätzt, dass ihm rund 150 Millionen US-Dollar in der Kasse fehlen. Das New Yorker Brooklyn Museum hat zahlreiche Werke zur Auktion freigegeben, um die Instandhaltung der restlichen Sammlung gewährleisten zu können - ein Vorgang, der die ganze Dramatik der Situation zeigt.

Doch es war nicht nur die Pandemie, die die US-amerikanischen Museen unter Druck setzte. Auch die Forderungen nach mehr Diversität und die anhaltenden Proteste gegen rassistische Strukturen kratzten am Selbstverständnis der Kunsttempel. Während die "Black Lives Matter"-Bewegung gegen Polizeigewalt auf die Straße ging und Denkmäler gestürzt wurden, beschleunigte sich in den Institutionen der Reformprozess. Seit Jahren schon verlangen Aktivistinnen, dass sowohl das Personal als auch das Ausstellungsprogramm diverser wird, und sie fordern, dass die Namen problematischer Mäzene aus den Museen verschwinden.

In diesem Jahr wurde die Rhetorik deutlich schärfer: Man werde den krassen Mangel an Respekt und die ungeheuren Akte weißer Gewalt gegen Schwarze/Braune Angestellte nicht mehr tolerieren, hieß es in einem offenen Brief von Angestellten im Kultursektor an die kulturellen Institutionen von New York City im Juni. Und ein Brief der Gruppe Boston Arts for Black Lives warnte: "Dies ist kein Aufruf, die historisch von Weißen dominierten Museen zu reformieren. Dies ist ein Aufruf, sie abzuwickeln." Die Heftigkeit dieser Diskussion manifestierte sich auch an zahlreichen Rücktritten von etablierten Museumsleutren wie den Kurator Gary Garrels oder die Kuratorin Nancy Spector.

Es reiche nicht, das Personal auszutauschen

Das Problem ist nicht neu, aber in diesem Jahr kamen die Machtstrukturen erstmals erkennbar ins Wanken. Nachdem die schwarze Gastkuratorin Chaédria LaBouvier im Guggenheim Museum rassistische Strukturen angeprangert hatte, wurde die langjährige Chefkuratorin Nancy Spector zwar in einer internen Untersuchung von den Vorwürfen freigesprochen, verließ aber trotzdem das Haus. Viele Häuser legten Programme zur Förderung nicht weißer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf. Doch den Museen ist klar, dass es nicht reicht, hier und da Personal auszutauschen: Es geht auch um die Geschichte der Sammlungen und um die Werte, die sie sich in Zukunft vertreten wollen.

Wie sehr die Ideologie einer weißen Überlegenheit in den Strukturen der Museen verankert ist, beschrieb Max Hollein, Direktor des New Yorker Metropolitan Museum, mit überraschender Offenheit: "Wenn man den Ausdruck 'weiße Vorherrschaft' hört, dann zuckt man erst mal zurück. Aber wenn man einen Schritt zurücktritt und das anschaut, was ich die Logik der Auswahl der Institution nennen würde, die jahrhundertealte Idee der Überlegenheit einer bestimmten Kultur, dann sieht man, dass in unseren Institutionen Mechanismen herrschen, die weiße Überlegenheit unterstützen und fördern", so zitierte ihn kürzlich die "Washington Post".

Kein Ende in Sicht

Wie können Museen aufhören, Instrumente der weißen Elite zu sein? Diese Frage war das Motto der Debatten des Jahres – denen es gelegentlich an Absurdität nicht mangelte. Ausdruck der allgemeinen Verwirrung war beispielsweise die Affäre um die Verschiebung der Philip-Guston-Retrospektive, die eigentlich in diesem Jahr ihre Tournee durch Washington, Boston, Houston und London hätte antreten sollen. Als Grund wurde genannt, dass man "auf eine Zeit warten müsse, in der, wie wir glauben, die kraftvolle Botschaft der sozialen und rassischen Gerechtigkeit, die im Zentrum von Philip Gustons Werk steht, klarer interpretiert werden kann". Offenbar fürchtete man Shitstorms angesichts des Spätwerk Gustons, das von zahlreichen comicartigen Ku-Klux-Klan-Figuren bevölkert wird. 

Die Verschiebung sei ein großer Fehler, man traue dem Publikum offenbar nichts zu, kritisierten zahlreiche prominente Stimmen aus der Kunstwelt. Man könne eine Schau, die auf solch offensive Art Rassismus thematisiert, nicht nur mit weißen Kuratoren und Kuratorinnen machen, konterte die Direktorin der National Gallery in Washington, Kaywin Feldman. Jetzt soll die Ausstellung 2022 eröffnen – hoffentlich dann wenigstens unbeeindruckt von Corona.

Die heftigen Diskussionen über Rassismus, "Cancel Culture", Zensur und die Neukonzeption von Museen werden bis dahin allerdings wohl kaum vorüber sein – und nicht wenige Beobachterinnen beklagen die Destruktivität der neuen Debattenkultur. So wie Helen Molesworth, frühere Chefkuratorin am Los Angeles Museum of Contemporary Art: Sowohl die Statements der Museen zu "Black Lives Matter" als auch die Forderungslisten der Aktivistinnen und Aktivisten seinen formelhafte Dokumente, die den Geist einer wirklichen Versöhnung vermissen ließen, sagte sie der "Washington Post". "Wir sind menschliche Wesen. Wir müssten eigentlich zu mehr Komplexität fähig sein, als wir gerade zeigen."