Von Sündenböcken und Erlösern

Wie Corona-Krise und Anti-Rassismus-Proteste zusammenhängen

Beisetzung des Polizeigewalt-Opfers George Floyd im goldenen Sarg in Houston, Texas
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Beisetzung des Polizeigewalt-Opfers George Floyd im goldenen Sarg in Houston, Texas

Was hat die Coronakrise mit den derzeitigen Anti-Rassismus-Protesten auf der ganzen Welt zu tun? Beide Phänomene sind auf mythische Weise miteinander verknüpft - und geben dem Anthropologen René Girard recht 

Vielen mag das jetzt schon wieder gar nicht mehr so bewusst sein: Aber Corona war mehr als eine Timeline voll Infografiken und Statistiken. Für ein paar Wochen im Frühling wurden Mitmenschen nur noch als Virenschleudern und Fressfeinde am Supermarktregal wahrgenommen. Die diffuse Gereiztheit hielt lange an, etwa bei der Diskussion von Maskenpflicht, Feierverbot oder Verschwörungstheorien. Mitunter wurden Leute, die mit mehr als einem Haushalt im Park picknickten, als kaltblütig mordende "Covidioten" beschimpft und Zeitgenossen, die die Maske aus Sorge nie abnahmen, als Wegbereiter einer sinistren Gesundheitsdiktatur. In fast allen Ländern kam es zur Verfolgung von Minderheiten, die beschuldigt wurden, das Virus zu verbreiten. Eine globale Meinungsstampede, verstärkt durch soziale Netzwerke.

Interessanterweise fand die Coronakrise ihre vorläufige Auflösung in einem Ereignis, das rational gesehen nur lose mit ihr zusammenhängt: Den Protesten im Gedenken an George Floyd. Unter dem Vorzeichen einer leicht als globaler Märtyrerkult identifizierbaren Bewegung kamen Menschen wieder zusammen, physisch und psychisch, als hätte sich die Pandemie in Luft aufgelöst. Was war da los?

Eine Theorie kann helfen, diese psychosoziale Zuspitzung der Krise und ihre unerwartete Auflösung zu erklären: diejenige René Girards. Der Anthropologe und ehemalige Stanford-Professor wird seit einigen Jahren im Silicon Valley als Pionier der Erforschung viraler sozialer Dynamiken gefeiert. Paypal- und Facebook-Investor Peter Thiel unterhält eine Stiftung, die sich der Girard-Forschung verschrieben hat. Neurowissenschaftler, Ökonomen und Psychologen finden immer mehr Hinweise auf die Richtigkeit seiner Thesen.

Der Mensch ist ein mimetisches Tier

Seine wichtigste: Der Mensch ist ein "mimetisches Tier". Er ist vor allem von Nachahmung geprägt, lässt sich vom Verhalten anderer sehr leicht anstecken. Das ist die Grundlage seiner Kulturfähigkeit, hat aber auch enorme Schattenseiten. Girards Hauptwerk "Der Sündenbock" beschäftigt sich ausführlich mit den viralen sozialen Effekten von Seuchen. Ihm fiel zunächst auf, dass es im Zusammenhang mit Seuchenausbrüchen im vormodernen Europa immer wieder zu von Mobs initiierten Massakern kam: an Juden, Menschen mit Behinderung, angeblichen Hexen, Privilegierten.

Er erklärt diese irrationale Gewalt als eine Reaktion auf den "Verlust des Sozialen" und die "kulturelle Entdifferenzierung" durch die Krankheit. Vor der Seuche sind schließlich alle gleich. Ebenso zerstört die Furcht vor Ansteckung das soziale Miteinander, Stichwort: Social Distancing. In dieser Situation kann es zur "mimetischen Krise" kommen: Jeder wird sich selbst der Nächste und spiegelt die Aggressivität der Anderen. Kooperation ist nicht mehr möglich, jeder steckt jeden mit seinem Verhalten an, Gewalt schaukelt sich hoch. Laut Girard kann das zur Selbstzerstörung ganzer Zivilisationen führen.

Um diese Katastrophe abzuwenden, sucht die Gemeinschaft instinktiv nach Sündenböcken: Menschen, die sich deutlich vom Rest unterscheiden, häufig Minderheiten, aber auch überdurchschnittlich reiche oder mächtige. Vordergründig wird ihnen durch konstruierte "Beweise" die Schuld an der Seuche angelastet, vorgeworfen werden beispielsweise magische Rituale oder Brunnenvergiftungen. Aber eigentlich dient die Verfolgung nur der Aggressionsableitung. Sind die Sündenböcke erstmal geopfert, kann sich die Gemeinschaft sozial regenerieren. Denn Sündenböcke funktionieren wie Blitzableiter. Die frei fluktuierende Gewalt wird auf Opfer abgelenkt, die sich nicht mehr rächen können. Das hält jedenfalls bis zur nächsten mimetischen Krise.

Hamsterkäufe als Ausruck einer Krise

Girard macht etwa darauf aufmerksam, dass bereits das Ödipusdrama davon handelt, dass der Protagonist absurderweise beschuldigt wird, wegen Inzest die Pest über seine Heimatstadt gebracht zu haben und folglich verbannt wird. Noch in der Moderne zeigt sich dieser Sündenbockmechanismus in der Bezeichnung "spanische Grippe". Als neutrales Land war Spanien der ideale Sündenbock, um ihm zumindest sprachlich kontrafaktisch die Schuld an der Pandemie zuzuschieben.

Girards zutiefst pessimistische Weltsicht hat sich in der Coronakrise mehrmals als richtig erwiesen. Was waren etwa die Hamsterkäufe anderes als Ausdruck einer mimetischen Krise? Alle hamsterten und imitierten damit das Verhalten der anderen. Am Ende waren die Regale leer. Und oftmals wurden Dinge gekauft, die niemand in diesen Mengen brauchte, aber deren baldige Knappheit man annahm. Gerade die globalisierte Ökonomie mit ihren bis zum Zerreißen gespannten Lieferketten erwies sich als anfällig für diese Art konsumistischer Selbstzerfleischung. Insbesondere die Infrastruktur liberaler Staaten, die auf der Freiheit des Individuums fußen, kann von solchen mimetischen Stampeden geradezu zertrampelt werden.

Wer jetzt schmunzelnd Klopapier vor Augen hat, dem sei gesagt: Auch die Weltmärkte funktionieren nach diesem Prinzip. Letztlich stürzten die Aktienkurse ab, weil jeder dachte, der andere würde auch verkaufen. Virale Emotionen regieren die Wirtschaft, nicht Vernunft. Wegen dieser Einsicht ist Girard bei Investoren beliebt.

Das Jahr der Sündenbockpandemie

Auch zur Jagd auf Sündenböcke kam es zuhauf. Da ist zum einen die Diktatur China, der viele Menschen sowieso alles zutrauen. US-Präsident Donald Trump beispielsweise kalkulierte anfangs so: Wenn es ihm gelingt, das Coronavirus als einen vielleicht sogar in feindlicher Absicht von einen Labor aus auf den Weg gebrachten Import aus China zu verkaufen, kommt er selbst ungeschoren davon. Dieses Kalkül könnte unter dem Druck des kommenden Wahlkampfs bis zu militärischen Auseinandersetzungen führen.

Weltweit kam es im Zuge der Coronakrise immer wieder zu Verfolgung und Diskriminierung. In Indien machten Hindunationalisten Muslime zu Sündenböcken, da sie – die Gründe spielen letztlich keine Rolle – als Verantwortliche des Virus galten. In Rumänien wurden Roma verfolgt. Die Deutsche Welle sprach von einer "scapegoating pandemic", einer Sündenbockpandemie.

Während dieser Aspekt der Krise weitgehend verstanden wurde, war man bezeichnenderweise vollkommen blind dafür, dass es sich natürlich auch bei den aggressiven, im Westen stattfindenden Anfeindungen zwischen Gegnern und Befürwortern der Coronamaßnahmen um einen Sündenbockmechanismus handelte.

Bill Gates eignet sich vorzüglich als Verschwörungs-Zielscheibe

Als mimetische Krise kann auch die zynische Konkurrenz zwischen Regierungen um das beste Management der Krise verstanden werden, vor allem angefeuert durch den direkten Vergleich im Internet durch Quellen wie die Website der omnipräsenten Johns Hopkins Universität. Die unausgesprochene Drohung: Die am schlechtesten abschneidende Nation wird mit erheblichem politischen und wirtschaftlichen Bedeutungsverlust abgestraft. Und damit zum symbolischen Sündenbock dieser globalen Krise. Als mimetischer Nebeneffekt wird die Coronakrise durch den global ausgerufenen Wettbewerb in ihrer Bedeutung unmäßig vergrößert, andere Probleme kommen dadurch möglicherweise zu kurz.

Auch Bill Gates sollte für conspiracy-mobs als Sündenbock dienen. Als einer der erfolgreichsten und etwas nerdig wirkenden Erdbewohner eignet sich der Softwareunternehmer und Philanthrop vorzüglich für diese Rolle. Andererseits trägt auch die Obsession der Presse mit den quantitativ irrelevanten Verschwörungs-"Theoretikern" irrationale Züge: Geht es hier nicht auch darum, einen Sündenbock auszumachen? Der unterprivilegierte, und daher desinformierte "Covidiot" aus dem Volk soll auf einmal für die Seuche verantwortlich sein. Höchstwahrscheinlich wurden weit mehr empörte Tweets und Artikel über Verschwörungstheorien geschrieben als diese tatsächliche Anhänger haben.

Auch Kinder und Jugendliche dienten als Letztadressat diffuser Aggressionen. Sie hatten lange unter den heftigsten Maßnahmen zu leiden, konnten ihren Interessen aber keinerlei politischen Ausdruck verliehen. Zudem waren sie von Anfang an als Sündenböcke prädestiniert. Das Virus war für sie ungefährlich, sie galten aber wegen intensiver Kontakte in Kita und Schule als Superspreader. Nicht zuletzt waren Kinder während des Lockdowns schutzlos häuslicher Gewalt ausgesetzt.

Die billige Rationalisierung traumatischer Ereignisse

Es ist schwer zu sagen, wie viel der gegen diese Sündenböcke ausgeübten körperlichen, diskursiven und institutionellen Gewalt auf die von Girard beschriebenen archaischen Reflexe zurückzuführen ist. Menschen und Zivilisationen jedenfalls bestehen nicht nur aus Infografiken und Statistiken. Es ist erschreckend, dass diese Art von rationalistischem Reduktionismus im Stil des 18. Jahrhunderts überhaupt konsensfähig ist. Vielmehr sollte das hysterisch vorgebrachte Pochen auf Rationalität während der Krise skeptisch machen. Denn es klingt ganz wie eine allzu billige Rationalisierung traumatischer Erlebnisse.

Nun hat aber Girard auch einen Ausweg aus der Dynamik von Seuche und Sündenbockmechanismus skizziert: die jüdisch-christliche Tradition. Obwohl sie selbst mit zahllosen, auch rassistischen Gewalttaten verknüpft ist, steht in ihrem Kern die Verehrung des unschuldigen Opfers und damit die Entlarvung des Sündenbockmechanismus. Girard schreibt: "Wenn es uns heute gelingt, diese Kulturmechanismen zu analysieren und zu demontieren, dann dank des unbemerkten, aber ungeheuer zwingenden Einflusses, den die jüdisch-christlichen Schriften auf uns ausüben."

Es kam dem 46-jährigen Afroamerikaner George Floyd zu, das unschuldige Opfer zu werden, das den jüdisch-christlichen Kulturreflex der Kritik des Sündenbockmechanismus weckte. Nichts deutete darauf hin, dass ausgerechnet dieser Fall Menschen auf der ganzen Welt auf die Straße bringen würde. Floyd war kein politischer Aktivist, sondern ein Türsteher mit krimineller Vergangenheit, der aufgrund der Corona-Ausgangssperre seinen Job verlor und sich auch selbst mit dem Virus infiziert hatte. Am 25. Mai 2020 wurde er in Minnesota von Polizisten festgesetzt, da ihm vorgeworfen wurde, mit einem gefälschten 20-Dollar-Schein eingekauft zu haben. Dabei wurde unmäßig Gewalt angewendet und Floyd wurde am helllichten Tag von der Staatsgewalt langsam erdrosselt.

Das Begehren nach Gemeinschaft triumphierte über staatliches Kalkül

Die 17-jährige Darnella Frazier und andere filmten den Täter wie Opfer gleichermaßen entmenschlichenden Vorgang. Das Video verbreitete sich auf sozialen Medien um die Welt. Es kam zu friedlichen Protesten, aber in den USA auch zu apokalyptischen Szenen marodierender Plünderer. Angestaute Wut auf rassistische Polizeigewalt brach sich Bahn. Sie wurde verstärkt durch die Corona-Maßnahmen und ihre wirtschaftlichen Folgen. Ein wichtiger Beschleuniger für die Massenmobilisierung war auch, dass Demonstrationen in Demokratien eben größtenteils von den Corona-Beschränkungen ausgenommen sind – wenn nicht explizit, so doch zumindest aufgrund ihres Legitimitätsverständnisses. Das Begehren nach Gemeinschaft und Solidarität triumphierte über das staatliche Kalkül.

Vor allem vollzog sich innerhalb dieser Proteste ein verblüffender, von lediglich auf die medizinischen Aspekte der Pandemie fokussierten Zeitgenossen auch kritisierter Wandel. Plötzlich galt es wieder als ethisch vertretbar, Abstandsgebote zu missachten. Alle Angst schien verflogen. Im Protest gegen die ungerechte Gewalt wurde die Reduktion auf die Biologie überwunden, die eine der schlimmsten Folgen der Pandemie war. Der Nächste wurde wieder zum Nächsten – und nicht mehr nur zum Klopapierkonkurrenten und Virusträger.

Bei seiner Trauerfeier wurde Floyds Martyrium in seiner gemeinschaftsstiftenden Funktion mit demjenigen Jesu verglichen und er in einem vergoldeten Sarg beigesetzt. Die Kreuzung, auf der er stranguliert wurde, dient einigen amerikanischen Christen als Pilgerstätte, wo sogar Taufen stattfinden. Unschwer lassen sich die Züge eines Märtyrerkults erkennen, wie er für die judäo-christliche Zivilisation typisch ist. Der mythische Leib der Kultur triumphierte über das sterbliche Fleisch und den Leviathan, dessen schiere Rationalität während der Coronazeit abermals außer Kontrolle zu geraten drohte.

Die Krise konnte nur auf mythische Weise gelöst werden

Bislang wurde die zutiefst mythische Dimension der Proteste im Gedenken an das Staatsopfer George Floyd vor allem angeführt, um diese lächerlich zu machen oder zu delegitimieren. Das ist ebenso pietätslos wie realitätsfremd. Man wird keinen politischen Massenprotest ohne emotionale und auch irrationale Elemente finden. Mit Girard lässt sich darüber hinaus schließen, dass die Coronakrise, da sie eben kein rein rationales, in Statistiken erschöpflich behandelbares Problem ist, auch nur auf mythische Weise gelöst werden konnte.

Man kann nur hoffen, dass die jüngste Erneuerung des judäo-christlichen Erbes ausreicht, um den durch die Seuche ausgelösten Kreislauf der mimetischen Gewalt zu stoppen. Am 14. Juni wurde erneut ein Afroamerikaner von der Polizei erschossen, China ließ Teile von Peking wegen einer zweiten Viruswelle abriegeln, die Spannungen zwischen China und den USA sind noch nicht ausgestanden, schwere wirtschaftliche Erschütterungen stehen noch aus.