Kunst aus Afghanistan

"Ein Bild zu malen, ist lebensgefährlich"

Der Nassauische Kunstverein Wiesbaden zeigt anonyme Kunst aus Afghanistan - weil die Enttarnung für die Beteiligten fatal wäre. Hier spricht Vereins-Leiterin Elke Gruhn über diese ungewöhnliche Schau und die Lage für Künstlerinnen und Künstler unter der Taliban-Herrschaft


Elke Gruhn, gerade hat der Nassauische Kunstverein Wiesbaden eine virtuelle Ausstellung eröffnet. Sie zeigt aktuelle Kunst aus Afghanistan – einem Land, in dem insbesondere Frauen und auch Kunst- und Kulturschaffende allgemein unter massiven Repressionen leben. Keine Künstlerin, kein Künstler ist hier mit echtem Namen vertreten. Wie gefährlich ist es derzeit, in Afghanistan ein Bild zu malen?

Lebensgefährlich. Wir wissen von Künstlerinnen und Künstlern, die ausgepeitscht wurden – allein für das Gerücht, dass sie Kunst gemacht haben oder Kunststudierende gewesen sein sollen. Daneben werden die Familien in Haftung genommen. Gerade bei Frauen werden so die Väter, Ehemänner, die Kinder mitverantwortlich gemacht. Das ist ja ein perfider Schachzug: Den Druck auf die Außenwelt erhöhen, sodass niemand mehr sich traut, solidarisch zu sein – dass man also, wenn man jemanden in Schutz nimmt, im Grunde noch höhere Strafen erwartet als die- oder derjenige selbst.

Was wissen Sie über die Teilnehmenden Ihrer Ausstellung?

Wir haben hier jetzt Künstlerinnen und Künstler, darunter auch Professoren, die seit zwei Jahren ihren Beruf nicht mehr ausüben können. Die ihre gesamte Wohnumgebung verlassen mussten, weil die alten Nachbarn natürlich wissen, dass sie Künstler sind. Das war ja zuvor kein Geheimnis. Sie haben de facto null Einkommen, keinerlei Ausstellungsmöglichkeit, kommen an ihre Besitztümer nicht mehr heran. Das alles ist ein Grund, warum wir den Mut, den diese Künstlerinnen und Künstler haben, sichtbar machen wollten. Denn das geht an unserer Wahrnehmung ja vollkommen vorbei.

Daher der Ausstellungsname "Hidden Statement".

Genau. Das ist ein Prozess, in dem wir alle erst einmal lernen müssen – welche Aspekte das mit sich bringt, Unsichtbares sichtbar zu machen. Deshalb das "Hidden Statement", mit dem Logo, das das Gitter einer Burka aufgreift: Im Verborgenen bleiben, aber eine Botschaft an die Welt heraussenden. Wir zeigen Künstlerinnen und Künstler, die seit zwei Jahren raus sind aus der Öffentlichkeit – aus jedem Diskurs, aus jeder Ausstellung, aus der Wahrnehmung der Welt. Ihnen geht es ja nicht anders als Künstlern hier. Es ist ja kein Hobby, Kunst zu machen, es ist eine Berufung. Eine Notwendigkeit. Wir bekommen diese Menschen derzeit nicht aus ihrer lebensgefährlichen Situation heraus. Das Aufnahmeprogramm ist gestoppt. Reisepässe sind teuer, für die ganze Familie oft unbezahlbar. Aber: für die psychische Gesundheit ist es wichtig, dass das, wofür man leidet, mindestens doch wahrgenommen wird.

Inwiefern?

Alle, mit denen wir gesprochen haben, sind extrem dankbar dafür, dass sie wieder gesehen werden. Wir haben zum Beispiel den Fotografen Jafar Image, der wirklich sagt: Ich gehe das Risiko bewusst ein. Mir ist es in letzter Konsequenz wichtiger, dass die Welt meine Bilder sieht. Das heißt konkret: Sie sitzen hier in Wiesbaden in einer Videokonferenz mit einem Künstler, der seinerseits in Afghanistan sitzt. Man kann sich unterhalten wie mit jedem anderen Künstler in New York oder anderswo auf der Welt – aber dieser Mensch befindet sich dort in Lebensgefahr.

Eine solche Ausstellung muss also radikal anders organisiert werden als jede normale Gruppenschau. Wie sind Sie vorgegangen?

Der erste Schritt war die Frage: Wie kann man etwas sichtbar machen und, genauso wichtig, die Künstlerinnen und Künstler zugleich bestmöglich schützen? Wir brauchen komplette Anonymität. Wir haben jeden Ort und jeden biografischen Hinweis herausgenommen. Alle Künstlerinnen und Künstler sind tatsächlich noch in Afghanistan – also nicht in Sicherheit. Die gesamte Kommunikation und die Kontakte laufen über Yama Rahimi, der selbst als Künstler vor Jahren aus Afghanistan geflohen ist. Ohne ihn wäre das alles nicht möglich, die Künstlerinnen und Künstler vertrauen ihm. Die zweite Herausforderung war natürlich: Wie bekommen wir überhaupt die Materialien an Ort und Stelle – in diesem Fall also Bilder und Texte? Das hat aber dann erstaunlich gut über soziale Messengerdienste geklappt. Texte sind enorm wichtig für das Bildverständnis. Es sind ja künstlerische Positionen, die uns hier in Deutschland in weiten Teilen gar nicht bekannt sind. Da braucht man Nachhilfe, auch als Kurator. Jenseits von dem, was man sieht, steckt ja sowohl ikonografisch als auch historisch ein völlig eigener politischer Kontext in den Bildern.

Haben Sie ein Beispiel?

Nehmen wir die Gemälde von SHE, die tatsächlich auch eine Künstlerin ist: Sie mixt die Kulturen und Einflüsse gezielt in ihren Bildern. Da sind viele Zitate aus unserer westlichen Kunstgeschichte zu sehen – van Gogh, zum Beispiel, Engelsdarstellungen, aber auch ikonische Fotografien. Man sieht das berühmte afghanische Mädchen…

Sharbat Gula, die 1984 in einem pakistanischen Flüchtlingslager am Rande des sowjetischen Krieges in Afghanistan für "National Geographic" fotografiert wurde

Genau. Und einen Raum weiter ist eine wandfüllende Reiterszene zu sehen. Diese zeigt ein typisches, afghanisches Spiel, am besten wohl mit Polo zu vergleichen. Die hellblauen Muster verweisen wiederum auf die Region Herat – auch innerhalb Afghanistans gibt es sehr unterschiedliche Kulturen und Traditionen. SHE bringt hier ganz bewusst eine Durchmischung von verschiedenen Volksgruppen in ihre Bilder. So sieht man bei ihr zum Beispiel oft Frauen mit traditioneller Kleidung, wie sie sie getragen haben, als es noch nicht die Vollverschleierung gab. Wenn man sich im Raum weiter umsieht, sieht man ein Gebäude, das zusammenbricht. Der Himmel ist voller Blumenraken … wir würden hier ohne Kontext also im besten Fall eine Moschee und einige Blumen sehen. Doch der Titel verweist auf die Shah-Du Shamshira Moschee in Kabul, vor der sich 2015 ein grauenvoller Lynchmord ereignete. Dabei wurde die 27-jährige Farkhunda Malikzada, eine Religionslehrerin, von einem Mob umringt, zu Tode geprügelt und gesteinigt, weil sie beschuldigt wurde, den Koran verbrannt zu haben.

Einige verurteilten den Mord umgehend, andere erst, nachdem bekannt wurde, dass die Anschuldigungen tatsächlich falsch waren. Ihre Mörder warfen ihr vor, eine amerikanische oder französische Spionin zu sein. Auch Yama Rahimi hat eine Arbeit über Farkhunda gemacht und im öffentlichen Raum in Kabul präsentiert.

Die Gewalttat ist hierzulande nahezu unbekannt, in Afghanistan hat sie Wellen geschlagen. Man kann in SHEs Bild nun eine zusammenbrechende Moschee erkennen.  Ein Verweis sicherlich auch auf den "bröselnden" Koran. Aber ist hier eben, im Gegensatz zu anderen Bildern der Künstlerin, keine Frau in persona zu sehen.

Neben den inhaltlich drastischen, subtil eingebrachten Motiven fällt die extrem versierte, oft geradezu fotorealistische Malerei ins Auge.

Genau, diese fotorealistische Darstellungsweise ist ein weiterer, wichtiger Aspekt. Eine solche Malweise ist vielen hierzulande heute ja ein bisschen suspekt. Man muss sich aber klarmachen, dass jede Art von figurativer Darstellung in Afghanistan absolut heikel ist – zumal von Frauen, aber nicht nur. Grundsätzlich gibt es im Islam, wie er dort interpretiert wird, keine Darstellung von Menschen. Es gibt Tiere, Blumen, Ornamente. Wenn diese Künstlerin fotorealistisch malt, dann ist das also hochbrisant.

Kunsthistorisch also gerade kein Rückgriff, sondern quasi eine Art der Avantgarde?

Tatsächlich ist so ja nie gemalt worden in Afghanistan. Das ist revolutionär, so zu malen. Diese Bilder sind gefährlich – und man muss ja auch erst einmal üben, sehr lange üben und praktizieren, so zu malen. Zumal im Geheimen. Bilder werden versteckt, zum Teil auch vergraben…manchmal gibt es nur noch Fotos auf irgendwelchen Sticks oder Drives. Was für uns so harmlos aussieht, ein Frauenporträt, das ist dort hochexplosiv.

Neben Malerei zeigt "Hidden Statement" Fotografie, Zeichnung, aber auch digitale Bildformate im virtuellen White Cube. Wie wird sich die Ausstellung weiter entwickeln?

Derzeit sind wir noch im Prototyp-Modus. Wir haben mit acht Künstlerinnen und Künstlern angefangen. So können wir sehen, was es noch zu verbessern gibt. Nach und nach werden dann insgesamt etwa 200 Künstlerinnen und Künstler in eigenen Ausstellungsräumen zu sehen sein. Das Schöne ist, dass sie alle ihre Ausstellung genau so sehen können wie wir hier. Theoretisch wäre es also möglich, sich im virtuellen White Cube zu treffen. Aktuell überlegen wir noch, ob und wie man sie kenntlich machen kann und zugleich ihre Anonymität bewahren. Vielleicht begegnet man sich dann als Avatar, wie auch andere Besucherinnen und Besucher als Avatare zu sehen sein werden.

Ungewöhnlich an dieser Ausstellung ist auch ihre Dauer: Die ist nämlich noch nicht festgelegt. Sie soll erst dann zu Ende sein, wenn alle vertretenen Künstlerinnen und Künstler in Sicherheit sind.

Ja, das ist der Plan. Selbst wenn die ein- oder andere rauskommt, werden wir das vielleicht nicht kenntlich machen. Es soll keine Rückverfolgung möglich sein. Wir haben am 16. August 2021 angefangen zu listen. Das ist bald zwei Jahre her. Wir haben viele Künstlerinnen und Künstler herausbekommen. Aber längst nicht alle: Viele hängen heute in Iran fest, der damals als sicherer Ort galt. Für Afghanen ironischerweise bis heute. Einige hängen in Pakistan fest, und viele im totalen Untergrund. Sie leben irgendwo in einem Bergdorf versteckt.

Wie wird es mit den Künstlerinnen und Künstlern, die eine Aufnahmezusage haben, weitergehen?

Derzeit sind diverse Beratungen und Besprechungen in Planung. Am 8. Juni gibt es eine weitere Konferenz vom Auswärtigen Amt. Dort werden wir dann darüber informiert, wie es weitergeht. Derzeit herrscht ein kompletter Aufnahmestopp. Im Übrigen auch für solche Menschen, die ein Anrecht auf Schutz haben. Weil sie teils seit zwei Jahren die Zusage haben, aufgenommen zu werden. Einer von ihnen ist zum Beispiel der ehemalige Kulturminister von Afghanistan. Wir gehen davon aus, dass er aktuell gefoltert wird. Er macht plötzlich sehr merkwürdige Aussagen … mit der Konsequenz, dass er nun in den USA auf einer Schwarzen Liste steht, weil er als Überläufer eingeschätzt wird. Auch das ist eine perfide Strategie: Politische Gegner unglaubwürdig zu machen. Misstrauen zu säen. Wir haben alle das Gefühl, bei den Taliban handle es sich um irgendwelche "Wilden" – dabei unterschätzt der Westen sie meiner Ansicht nach sehr. Sie handeln alles andere als dumm, sondern sehr durchdacht und, so muss man es wohl leider sagen, professionell.

Sie haben "Hidden Statement" lange vorbereitet, mit vielen hochkarätigen Partnern wie der Villa Massimo in Rom, diversen Hochschulen und ihren Studierenden, aber nur wenigen Mitarbeitenden, die in alle Aspekte eingeweiht sind. Jetzt ist die Schau eröffnet. Wie fühlt sich das an?

Es ist ein komischer Zustand. Einerseits fühlt man sich, als ob man feiert – und gleichzeitig ist es ein extrem trauriger Zusammenhang. Wir bekommen aber sehr positive Rückmeldung von den Künstlerinnen und Künstlern. Der Rest muss nun wachsen und geschehen. Das ist ein komplett neues Projekt für uns alle, aus einer Region, die vollständig aus dem Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist. Aber wir haben tolle Partnerinstitutionen international, die dem Projekt sicherlich Aufmerksamkeit verschaffen werden. Richtig groß raus kommen wir dann am 15. August, wenn sich die Machtübernahme der Taliban zum zweiten Mal jährt. Jetzt müssen internationale Kuratorinnen und Kuratoren kommen – und wir hoffen natürlich, dass viele von ihnen sehen werden: Afghanische Künstlerinnen und Künstler, die hatte ich gar nicht im Blick. Da eröffnet sich eine Welt, die gesehen werden sollte.