Biennale Gherdëina in Südtirol

Die Berg-Inseln werden uns ewig betrauern

Etwas Besseres als das Anthropozän finden wir überall: Die Gherdëina-Biennale stellt in den Dolomiten die Frage nach den Rechten von Bergen, Tieren und Pflanzen

"Der Berg ruft!" – 1938 wurde Luis Trenker mit diesem legendären Film über die Eroberung des Matterhorns berühmt. Und wer in diesen Tagen in St. Ulrich steht, dem Geburtsort des legendären Filmemachers im Südtiroler Grödner-Tal, 40 Kilometer hinter Bozen, meint diesen Ruf tatsächlich zu spüren. Die mächtigen Dolomit-Monolithen mit ihren scharf ausgezackten Kämmen, erodierte Restriffe eines prähistorischen Ozeans, erinnern an einsame Wächter der Erdgeschichte, vor denen die Menschen zu Statisten schrumpfen. 2009 erklärte die Unesco große Teile des Gebirges zum Weltnaturerbe. Diese markante Kulisse mit ihrer einzigartigen Flora und Fauna ist der ideale Ort, die Frage nach den Rechten von Bergen, Tieren und Pflanzen zu stellen. "Persones – Persons" haben die Macherinnen der Gherdëina-Biennale die jüngste Ausgabe der winzigen Kunstschau genannt, die vergangenes Wochenende in St. Ulrich eröffnete, das italienisch Ortisei heißt und mitten im idyllischen Grödnertal liegt.

Die alpine Zweijahresausstellung gehört zu den jüngsten Ablegern des mittlerweile ubiquitären Formats. 2008 gegründet, ging sie aus einem Ableger der Manifesta 7 in Trient hervor. Gherdëina – ihr Name, klingt geheimnisvoll, ist aber nur die ladinische Bezeichnung für das Grödnertal, in dem der romanische Dialekt gesprochen wird. Galeristin Doris Ghetta, die Gründerin und Direktorin der Biennale, wollte den "Manifesta-Effekt" auf ihre traditionsselige Heimat lenken: "Mir ging es darum, aus dem Provinzialismus herauszukommen", erklärt die Kunstliebhaberin ihren Antrieb. Mit der 8. Ausgabe der Biennale ist nun auch die Tiroler Kunstwelt in deren Leitdiskurs angekommen.

Dass die zwei Kuratorinnen Filipa Ramos und Lucia Pietroiusti, zwei junge Expertinnen rund um das Thema Kunst und Ökologie aus London, eine Künstlerin wie die vergangenen Herbst verstorbene Etel Adnan zur Schirmfrau ihrer Schau erkoren haben, ist wenig verwunderlich. Seit ihrem Roman "Journey to Mount Tamalpais" von 1986, einen Berg, den sie in ihrer Zeit in Kalifornien während Hunderter Besuche wie eine Persönlichkeit zu behandeln begann, gilt die gebürtige Beiruterin als weltweit hymnisch verehrte Vordenkerin der Idee des Posthumanen. Zwei ihrer abstrakten Landschaftsbilder im Luis-Trenker-Saal des St. Ulricher Kulturzentrums eröffnen den Parcours.

Mit der Welt aus Pflanzen-Perspektive in Verbindung treten

Absolut zeitgenössisch wird es dann bei Kyriaki Goni. Die avancierte Athener Medien-Künstlerin hat mit ihrer eigens für die Biennale geschaffenen Arbeit "The mountain islands will mourn us eternally" das Narrativ eines Data-Gardens erfunden: eine über den ganzen Planeten verteilte, techno-schamanistische Gemeinschaft, die ihr alternatives Wissen in der DNA von Pflanzen speichern. In einem Video schildert ein Orakel seine Kenntnisse darüber, wie die Dolomiten früher Inseln in einem Ozean waren, über das durch den Temperaturanstieg bewirkte Aussterben der Pflanzen in der Region und es wirbt für "speziesübergreifende Solidarität". Ein in der Tradition der Holzschnitzer des Grödnertals gefertigtes Holzmodell einer Hybridpflanze, einer Mischung aus einem 260 Millionen Jahre alten Nadelbaum Ortiseia leonardii und Saxifraga depressa hat Goni unter einen Glassturz gestellt. Ihr vielschichtige Multimedia-Arbeit ist eines der absoluten Highlights der Biennale.

Ihre besondere Qualität bezieht die Biennale aber im direkten Dialog mit ihrem grandiosen Kontext. Der argentinische Künstler Eduardo Navarro hat seine Skulptur "Spathiphyllum Auris" mitten in das malerische Langental gesetzt, neben dem majestätisch die Dolomiten aufragen. Der obere Teil der riesigen, grün-weißen Skulptur einer Friedenslilie mit goldenen Blütenstempeln fängt Wasser für die Vögel auf. In dem höhlenartigen Refugium am Boden können die Besuchenden ausruhen und mit der Welt aus Pflanzen-Perspektive in Verbindung treten.

In "Sentiero", einem zweistündigen Waldspaziergang, den der Künstler Alex Cecchetti konzipiert hat, führen "Waldgeister" in mit Blätterfarben bedruckten Gewändern die Besucher auf geheimen Wegen durch die Berge, um sie für das Leben der Tiere und Pflanzen zu sensibilisieren. "Wir laufen jetzt auf dem Weg der Ameisen. Riechst Du ihren essigsauren Duft", fragt eine der Guides ihren am frühen Morgen noch etwas begriffsstutzigen Gast, als sie einen der mit tausenden wuselnden Hautflüglern bedeckten Hügel passieren.

Waldspaziergang mit dem Künstler Alex Cecchetti
Courtesy Biennale Gherdëina, Foto: Luca Meneghel

Waldspaziergang mit dem Künstler Alex Cecchetti

Natürlich laviert bei dem Biennale-Thema manches an der Grenze von Mystik und Esoterik. Der kreisförmige Kräutergarten des nach der von Hildegard von Bingen erfundenen Sprache "Ignota" benannten Künstlerduos von Saraj Shin und Ben Vickers beschwört die Heilkräfte der Gemeinschaft und der Erinnerung. Bei Chiara Chamonis sechsarmiger Ton-Skulptur "Sister" geht es einem dann wie bei vielen Werken von Cecilia Alemanis "Milk of Dreams"-Biennale in Venedig: Das aus Blütenketten aus Dolomitstaub und Kiefernasche geformte, ockerfarbene Wesen in der verrotteten Kammer einer Schlossruine, changierend zwischen Frau, Gottheit, Zauberin und Mumie, ist von bezwingender Schönheit.

Die Gherdëina-Biennale ist nicht nur ein Beleg dafür, wie Biennalen immer mehr in den Naturraum ausgreifen. Sie ist auch ein wunderbares Beispiel für die Vorzüge kleiner Biennalen: konzentriert, auf die Region bezogen. Gleichzeitig öffnet sie den geistigen Horizont hin zu einem größeren Zusammenhang.

Gherdëina funktioniert noch nicht wie die gut geölten Routine-Rituale des globalen Kunstbetriebs von Sao Paulo bis Basel. Sie wird von Menschen getragen, die mit Kunst wirklich etwas bewirken wollen. Ihre bescheidenen Ressourcen werden zum Standortvorteil: Manchmal sind 24 Kunstwerke, wie sie jetzt auf der Schau zu sehen sind, mehr als über 200 Werke in Venedig.

Gleichzeitig wirkt die Biennale als Katalysator eines Bewusstseinswandels, gerade weil sie auf eine Öffentlichkeit trifft, die mit zeitgenössischer Kunst noch nicht so vertraut ist wie in den urbanen Zentren. Der Tiroler Bildhauer Lois Anvidalfarei löste bei der ersten Gherdëina-Biennale 2008 einen Skandal aus, als er die biblischen Figuren Kain und Abel als nackte Skulpturen mit übergroßen Genitalien in St. Ulrich verteilte. In Deutschland hätte das vor zwölf Jahren niemanden gestört, in dem kleinen Tiroler Ort kam es darob zum Kulturkampf.

Etwas Besseres als das Anthropozän finden wir überall!

Doch das nashornähnliche, melancholische Monster namens Leonardo, das der Künstler Giles Round aus der Sagenwelt des Grödner-Tals destilliert hat, oder die große Porphyr-Skulptur, die Anvidalfareis Kollege Thaddäus Salcher in diesem Jahr in die pittoreske, von Boutiquen gesäumte Fußgängerzone der kleinen Touristenstadt gestellt hat, dürfte heute eher Schmunzeln hervorrufen. Mit einem minimalistischen Eingriff hat er ihr ein Gesicht eingemeißelt, welches das massive Mineral plötzlich wie ein Gesicht aussehen lässt. Es sind Werke wie diese, die der zu Beginn nur auf Tirol bezogenen Biennale inzwischen einen Ruf für unkonventionelle Positionen und anspruchsvolle Themen verschafft haben.

Auch wenn es in dem Ort Stimmen gibt, die fragen, ob sich eine 4600-Seelen-Gemeinde alle zwei Jahre rund 400.000 Euro für ein Avantgardefestival leisten kann. Nicht alle der rund eine Million Touristen, die jedes Jahr in das kleine Tal finden, lassen sich umstandslos als Biennale-Besucher verbuchen. Doch Ortisei-Bürgermeister Tobia Moroder, promovierter Archäologe, Buchautor und einer der vielen Abkömmlinge der Jahrhunderte alten Künstlerinnen- und Intellektuellenfamilie der Stadt, der auch der Disco-Halbgott Giorgio Moroder entstammt (im Heimatmuseum der Stadt hängen 13 seiner Platin-Schallplatten, die er für seinen Soundtrack für den Film "Flashdance" erhielt), bekräftigte zur Eröffnung sein Engagement für die Schau.

In Lina Lapelytes Zeitraffer-Trickfilm "they stole my soul" verlässt eine Armee von 500 von lokalen Holzschnitzern geschaffenen Tierfiguren das Grödner-Tal fluchtartig auf der Suche nach einer jenseits der allein vom Menschen bestimmten Zukunft. So als wollten sie demonstrieren: Etwas Besseres als das Anthropozän werden wir überall finden! Für die Kunstwelt dagegen heißt es neuerdings alle zwei Jahre: Gherdëina ruft!