Boris Lurie in Venedig

Anstrengende, verstörende, große Kunst

Der Künstler und Shoah-Überlebende Boris Lurie hat seine Erlebnisse und Traumata zu drastischen Werken verarbeitet. Damit blieb er in der Kunst ein Fremder - und passt mit einer Ausstellung in Venedig nun perfekt zum Biennale-Thema

Boris Lurie, so schrieb es der spitzzüngige Autor Tom Wolfe, sei zusammen mit seinem Künstlerfreund Sam Goodman seit Jahren "damit beschäftigt, die Bourgeoisie zu schocken und gegen das Establishment zu rebellieren". Genau das sei ihr Problem – denn es werde "immer schwieriger, die Bourgeoisie zu schocken". Das war 1964. Gerade brach sich die Pop-Art Bahn, und so stellt Wolfe auch "Campbell's-Suppendosen und Liebescomics" in den Zusammenhang einer auf Schockmomente zielenden Kunst. Mit anderen Worten: auch die soeben zu Szene-Stars aufsteigenden Andy Warhol und Roy Lichtenstein waren Effekthascher. Nur wurde Boris Lurie im Gegensatz zu ihnen kein Szene-Star.

In der Galerie von Gertrude Stein – die nur so heißt wie die ältere und berühmtere Dichterin – stellte Werke aus, die Wolfe höflich mit "Dung-Skulpturen" umschrieb und in Bronze zu gießen empfahl. Mit Exkrementen als Kunst, denn darum handelte es sich, haben manche Künstler beiderseits des Atlantik experimentiert. Für Lurie war es nur eine Zwischenstation im Rahmen der von ihm und weiteren Künstlern bereits 1959 ausgerufenen "No!art"-Bewegung, die gegen den Ästhetizismus der abstrakten Kunst New Yorker Prägung auftrat und sich damit keine Freunde machte, schon gar nicht in den Museen. Boris Lurie, der seit 1946 in New York lebte und dort zum Künstler gereift war, blieb ein Außenseiter, ein Fremder.

Als solcher passen er und seine Kunst geradezu ideal nach Venedig des Jahres 2024, wo die Biennale unter dem Motto "Fremde überall" steht und zahlreiche Satellitenausstellungen den Grundgedanken des Außenstehenden aufnehmen. In der Scuola Grande San Giovanni Evangelista stellt die Boris Lurie Art Foundation in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für verfolgte Künste (Solingen) Luries Werke aus. Der Titel "Life with the Dead" verrät, dass es hier nicht um ästhetische Feinheiten geht und auch nicht um das altbekannte Schockieren des braven Bürgers, das seit dem 19. Jahrhundert den Gang der westlichen Moderne begleitet hat.

Keiner wollte es so genau wissen

Es geht vielmehr darum zu zeigen, was ein Überlebender der Shoah als Künstler geschaffen hat. Der 1924 in Leningrad geborene und bald mit der Familie nach Riga übersiedelte Lurie ging durch mehrere Konzentrationslager, nachdem alle weiblichen Mitglieder seiner Familie am 8. Dezember 1941 ermordet worden waren und er und sein Vater 1943 bei der Auflösung Rigaer Ghettos zur Zwangsarbeit verschleppt wurden. Vater und Sohn überlebten, nicht nur durch ein Wunder, sondern durch mehrere. 1946 konnten sie in die USA auswandern.

Man muss diese biografischen Daten aufzählen, nicht um Luries Kunst zu bloßen Belegstücken der Gewaltgeschichte zu stempeln, sondern weil Lurie selbst seine Geschichte, seine unsagbaren Erlebnisse und seine Traumata, zum Lebensthema gemacht hat. Das hat Tom Wolfe missverstanden; verzeihlich, da er sich auf Arbeiten bezieht, bei denen das Schockmoment im Vordergrund stand und von der Vergangenheit nicht die Rede war. Aber Lurie ließ seine Vergangenheit seinerzeit auch nicht hervorlugen, wissend, dass sie keiner so genau wissen wollte.

In Venedig nun muss der Besucher sie zur Kenntnis nehmen (vorgewarnt durch den heutzutage obligatorischen Hinweis am Eingang auf "explizite Darstellungen"). Er hat Material aus den Konzentrationslagern und Fotos von Leichenbergen zum Zeitpunkt der Befreiung durch alliierte Truppen bearbeitet und mit anderen Bildschnipseln zusammengefügt, sodass es einen buchstäblich empört: nämlich mit Pin-up Girls und Pornos, und dazu Titel wie "Railroad Collage" oder "From a Happening, 1945, by Adolf Hitler" gewählt. Darf man das? Lurie durfte. Er musste. Und dieser Schock bleibt.

Zeugnis von der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts ablegen

Die dicht gepackte Ausstellung, die die kleinen Räume der venezianischen Kongregation füllen, zeigt selbstverständlich mehr. No!art hieß für Lurie, die Behauptung, seine Arbeiten seien keine Kunst, unmittelbar anschaulich zu machen. Es hieß, roh und ungestüm zu sein - und unkünstlerisch. Und natürlich politisch, wie in der Reihe der Übermalungen einer Fotografie des damaligen US-Botschafters in Süd-Vietnam, der dort eine unrühmliche Rolle spielte. Das war 1963. 

Die erste Hälfte der 1960er-Jahre waren die große Zeit Luries, eine Phase enormer Produktivität. Immer wieder umkreist Lurie die beiden Buchstaben des Wörtchens "No", macht sie zum Thema von Buchstabenbildern und Collagen; wie später nochmals Anfang der 1970er. Jahrelang machte er allerdings auch – keine Kunst.

Boris Lurie starb 2008. Das väterliche Erbe – er war als Immobilienkaufmann zu Wohlstand gelangt – gestattete die Errichtung der Stiftung, die seinen Namen trägt. Und die jetzt in Venedig das unternimmt, wozu sich große Museen bis heute außerstande sahen: seine Kunst öffentlich zu machen, die Zeugnis ablegt von der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, ohne darauf reduziert zu sein. Anstrengende, verstörende, große Kunst.