Documenta-Podiumsdiskussion

Ende offen

Die Documenta Fifteen ist eine Geschichte von verpassten Gesprächen. Nun wurde in Kassel über Antisemitismus in der Kunst diskutiert - und trotz aller Dialogbereitschaft blieben viele Fragen unbeantwortet 

Die Diskussion, die vorab hätte stattfinden sollen, wurde verschoben, ausgesetzt, abgesagt – je nach Interpretation des offiziellen Schreibens vom 7. Mai, in dem das Kuratorenkollektiv der Documenta Fifteen beklagte, die Antisemitismus-Anschuldigungen seitens des Zentralrats der Juden in Deutschland würden jedes Gespräch unmöglich machen. Das war einen Monat vor der Eröffnung, bevor das Banner der Gruppe Taring Padi enthüllt wurde. Vor dem Moment also, von dem an es nicht mehr nur um die zahlreichen Verbindungen der Kuratorinnen und Kuratoren zur Israel-Boykott-Bewegung BDS ging, sondern um eindeutig antisemitische Bilder.

Ein Skandal mit Ansage, sagten manche, ein Missverständnis, verteidigten sich andere. Aber eines ist klar: Die Lage ist kompliziert, und sie bleibt es unter anderem, weil in der Debatte der Postkolonialismus und die Warnung vor Antisemitismus gegeneinander ausgespielt werden. Die Bildungsstätte Anne Frank initiierte nun am Mittwochabend gemeinsam mit der Documenta und Fridericianum gGmbH eine Diskussion. Titel: "Antisemitismus in der Kunst".

Nach einem Grußwort von Angela Dorn, der hessischen Ministerin für Wissenschaft und Kunst, geht es los in der kühl-grauen Eventlocation unweit vom Fridericianum. Aus dem Publikum meldet sich vorab ein Vertreter von Ruangrupa, um zu sagen, dass das kuratorische Kollektiv auch hier ist, und zwar um zu lernen und zuzuhören. Die künstlerische Leitung  bleibt ansonsten stumm. Beinahe versöhnlich geht es dann weiter in der Diskussion um Kunstfreiheit und Universalismus, Postkolonialismus und Erinnerungskultur.

Einigkeit und Solidarität - wenn es so einfach wäre 

Nikita Dhawan, Professorin für Politische Theorie in Dresden, beginnt maximal abstrakt und maximal weit weg, mit der Aufklärung – dem Verdienst der europäischen Philosophie, die uns das beschert hat, was der Philosoph Jürgen Habermas den öffentlichen Raum nennt. Den Raum eben, wo solche Diskussionen möglich sind. Die in Indien geborene Politikwissenschaftlerin ist bewandert in den Klassikern der postkolonialen Theorie, und sie führt Franz Fanon und Edward Said an, die die Gemeinsamkeiten von Rassismus und Antisemitismus betont haben. Es geht Dhawan um Einigkeit und Solidarität – wenn es doch nur so einfach wäre.

Der Documenta-Streit ist in einem anderen, spezifisch bundesrepublikanischen Debattenklima gelandet, das als Historikerstreit 2.0 durch die Feuilletons geisterte. Bei diesem Streit, der in Zeitungskommentaren und Sammelbänden ausgetragen wird, geht es um die Einzigartigkeit der Shoah, und um eine Art Wettbewerb des Erinnerns, zwischen Holocaust und Kolonialismus, aber dabei spielt eben auch Israel eine Rolle, und wie der jüdische Staat in postkolonialer Theorie gesehen wird.

Versäumte Übersetzung

Im Sammelband "Ein Verbrechen ohne Namen" zum Beispiel, vor wenigen Monaten erschienen, weist der israelische Historiker Saul Friedländer darauf hin, dass die Gründung Israels als kolonialer Akt gesehen werde – und dabei gern vergessen werde, dass der junge Staat Menschen Zuflucht vor Antisemitismus gewährte. Kurz zuvor gerieten die Postcolonial Studies in die Kritik, nicht zuletzt dadurch, dass der kamerunische Historiker Achille Mbembe zum Boykott Israels aufrief, während er die Ruhrtriennale 2020 eröffnen sollte. Fragen zum antisemitischen Gehalt des Postkolonialismus wurden laut, während konservative Beobachter den Skandal zum Anlass nahmen, dekolonialen Aktivismus pauschal zu verurteilen.

Hito Steyerl schrieb in einem Beitrag, der eigentlich für die Vorabdiskussion um die Documenta gedacht war, dass die Kunstschau sich vielleicht überlebt hat. Denn es gelänge diesem Modell der Weltkunstausstellung nicht mehr, die Spezifika der deutschen Geschichte mit einem sich weitenden, Universalismus-kritischen Diskurs zu vereinbaren. Die Künstlerin und Autorin schreibt aber auch, dass postkoloniale Theorie in der deutschen Kunstwelt als exotisches Importprodukt behandelt wurde, als etwas, das über die Ungerechtigkeiten in fernen Ländern spricht. Beruhigend sei das, sagt Steyerl, so lange das nichts mit Deutschland zu tun hat. Das ungute Erwachen komme spätestens mit den Debatten um Raubkunst aus Deutschen Kolonien und mit der Erkenntnis, dass es kaum spezifisch deutsche postkoloniale Theorie gibt. Ein Übersetzung, die lange versäumt wurde.

Kuratorinnen und Kuratoren stehen unter enormen Druck, sagte am Mittwochabend nun einer, der es wissen muss. Adam Szymczyk, der 2017 die Documenta 14 geleitet hat, spricht über die Übersetzungsleistung, die zwischen den kulturellen Kontexten nötig ist, aber auch er zeigt sich optimistisch: Man müsse diese sperrige Debatte nur intersektional denken, er erinnert an das Konzept der multidirektionalen Erinnerung, das Michael Rothberg einst prägte. Der US-Literaturwissenschaftler plädierte für eine Erinnerungskultur, in der Holocaustforschung und postkoloniale Perspektiven koexistieren, ohne Relativierung und ohne Konkurrenz im Gedenken.

Künstlerische Freiheit als Paradox

Alle haben hier eine eigene Perspektive, allein schon berufsbedingt. Hortensia Völckers, künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes, bleibt pragmatisch. Ihr gehe es um die Förderung von Kulturveranstaltungen, und um die künstlerische Freiheit. Antisemitische Vorfälle würden sich nicht vermeiden lassen, sagte sie, und Szymcyk ergänzte, die Formulierung von den Grenzen der (künstlerischen) Freiheit sei an sich schon paradox.

Auch Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, sagt, es werde nie einen safe space in der Kultur geben. Aber er sagte auch, wenn es nur um das Banner auf dem Friedrichsplatz ginge, dann gäbe es gar keinen Skandal. Der bestehe nämlich darin, dass es seit Januar, als die ersten Bedenken seitens des Zentralrats der Juden in Deutschland laut wurden, als die Verbindungen der Documenta-Kuratorinnen und -Kuratoren und vieler eingeladener Kollektive zur BDS-Bewegungen offengelegt wurden, keinen Dialog gab. Er schließt an Hito Steyerls Argument an, indem er feststellt, dass Ruangrupa es versäumt habe, eine zentrale Fragen postkolonialer Kritik einzubeziehen: Wer spricht und in welchem Kontext?

Das Umfeld mitten in der Bundesrepublik ist eben ein spezifisches, daran erinnerte Doron Kiesel, Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland. Er sprach von der Kontinuität und der Universalität des Antisemitismus seit dem Mittelalter – abzulesen an der sogenannten "Judensau" in Wittenberg. Und er beklagte, dass Judenfeindlichkeit ohne Konsequenzen bleibe, besonders, wenn Israel fälschlicherweise als Überrest einer kolonialen Weltordnung gesehen werde, was sich, so Kiesel, in einem bequemen Ressentiment gegen Juden entlade. Ob ein Dialog hilft? "Schön wär’s", sagte Kiesel, "es gab die Option", nur sei die Documenta Fifteen stumm geblieben.

Der Konflikt bleibt relevant

Und irgendwie stimmt es ja auch, wenn Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, sagt, dass auf der Documenta Fifteen eine ziemlich wichtige Perspektive fehlt, zumindest im Blick auf den Nahostkonflikt. Sie fehlt, weil keine jüdischen Künstlerinnen oder Künstler aus Israel vertreten sind, als gäbe es einen stillen, unerklärten Boykott. Deren Sicht sei, so Mendel, wahrscheinlich gar nicht unvereinbar mit den palästinensischen Kollektiven in Kassel: der israelischen Politik kritisch gegenüber stehend.

Auf einer abstrakten Ebene sind sich die Diskutierenden einig, denn die Grundstimmung ist, dass Kunstausstellungen frei von Zensur sein sollten. Der aufklärerische Traum von der Verbesserung des Menschen durch Ästhetik sei zwar gescheitert, sagt Dhawan. Doch der Kunstkontext, so Szymczyk, könne immerhin alles transformieren und dekontextualisieren. Von dieser Anything-goes-Position weicht Mendel ab, schließlich gehe es hier immer noch um ein organisatorisches Problem. Denn durch die Entmachtung der Kuratoren zugunsten der Kollektive ist die Verantwortung so diffus geworden, dass die Kommunikation nahezu unmöglich war.

Die Geschichte der Documenta Fifteen ist eine von verpassten Gesprächen. Doch der Konflikt, der sich im Zentrum der Weltkunstschau kristallisiert, bleibt darüber hinaus relevant. Und wenn die Veranstaltung der Bildungsstätte Anne Frank eine Sache gezeigt hat, dann die: Es gibt noch viele offene Enden.