Richard Pflaume, Sie fotografieren Personen in der Isolation via Videochat. Wie kamen Sie auf die Idee?
Ich habe so ein kleines Buch, da schreibe ich auf, was mich so an der Gesellschaft oder der Welt interessiert – als Begriff oder Denkbrücke. Ich hatte schon, als das Ganze nur in China war, ganz fett "Quarantäne" da reingeschrieben. Ich finde das Konstrukt einer Quarantäne, also temporär isoliert zu sein, als Gedanken total interessant. Und plötzlich – obwohl man das in einer globalisierten Welt natürlich auch hätte absehen können – ist der Virus auch in Deutschland eingeschlagen. Das hatte für mich zur Konsequenz, dass relativ schnell alle Jobs abgesagt wurden. Meine Freundin musste auch zu Hause bleiben, das heißt wir waren sofort auch in so einer Art Quarantäne-Situation. In Kombination mit der Absage meiner kommerziellen Arbeit, was auch ein relativ radikaler Einschnitt war, habe ich mir gedacht: Was wäre, wenn ich jetzt hier komplett isoliert wäre? Das ist ein gedankliches Experiment, das zur Zeit relativ real ist. Ich habe mich damit beschäftigt, was wäre, wenn ich nicht mehr rausgehen und fotografieren, nicht mehr meinen Job und meine Kunst machen könnte und dann relativ schnell gemerkt, dass mir dann nur das Internet bleiben würde.
Sie interviewen die Personen, die Sie fotografieren, auch vorab.
Genau. Ich fahre da immer so ein bisschen zweigleisig. Ich interviewe die Leute zunächst per Whatsapp, auch weil ich den Verlauf dann screenshotten und später einmal in einem Buch zeigen könnte. Für die Fotografie ist das Mittel meiner Wahl das, auf das jeder Zugriff hat: eine Handykamera oder eine Laptop-Webcam. Wir verabreden uns zum Videocall und dann entwickelt jede Unterhaltung ihre eigene Dynamik.
Welche dieser bisherigen Gespräche haben Sie besonders bewegt?
In einer derartigen Situation waren wir alle noch nie, deshalb beschäftigt sich jeder damit und hat etwas interessantes zu erzählen. Aber ich hatte ein Gespräch mit einer Person im Iran, den es ja besonders heftig getroffen hat. Man hat gemerkt, wie viel dramatischer die Situation dort ist. Sam hat dann auch angemerkt, dass er nichts dagegen hat, wenn ich das Gespräch veröffentliche, er aber sein Gesicht nicht zeigen kann. In solchen Situationen sitzt du hier in Berlin an deinem Schreibtisch und bist irgendwie trotzdem so nah an dieser Realität dran, dass jemand sich jemand aus Meinungsfreiheits-Gründen nicht frei äußern kann. Das war natürlich sehr intensiv.
Gab es auch beglückende Momente?
Ich hatte ein Gespräch mit Elli und Max, die sind in Italien in einem Palazzo, in dem Max gerade eine Residency macht. Da ist es natürlich wieder ein bisschen andersherum, Krisenromantik in einem wunderschönen Palazzo in Italien, da ist man fast ein Stück weit neidisch – was natürlich auch total absurd ist. Es hat immer eine eigene Dynamik, jeder nimmt die Situation anders wahr.
Nach welchen Gesichtspunkten suchen Sie sich Ihre Modelle aus?
Die Situation an sich ändert sich ja auch dauernd. Am Anfang war die Quarantäne bei mir noch ein Gedankenspiel und ich habe die Personen sozusagen interviewt, weil sie in Quarantäne waren. Das ändert sich natürlich gerade total, weil jetzt ein Großteil der Menschen in Quarantäne ist, was bedeutet, dass die Person und ihr Tun mehr in den Vordergrund tritt.
Wie fühlt sich das Fotografieren via Screenshot an?
Es ist natürlich ungewohnt. Meine Fotografie hat sich, was die Technik angeht, über Jahre hinweg entwickelt. Fotografie ist für mich ein Werkzeug, um das, was man vermitteln möchte, in Form von einem Bild nach außen zu tragen. Genauso sehe ich das jetzt auch. Ich merke natürlich, dass die Bildqualität schlecht und die Technik nicht ausgereift ist. Wenn ich meine haptische Kamera in der Hand habe, weiß ich, dass die Verzögerung beispielsweise genau ein Hundertstel ist. Beim Videochat ist aber der Delay, den das Internet verursacht, eine Herausforderung, wenn ich jemanden zum Beispiel mit einem bestimmten Gesichtsausdruck erwischen will. Letztendlich wähle ich aber trotzdem den Moment, in dem ich ein Foto mache. Ich würde also sagen, dass ein Screenshot durchaus als Fotografie durchgehen kann.
Wie genau läuft so ein digitales Shooting ab?
Am Anfang screenshotte ich die Leute erstmal beim Gespräch. Wie bei einem normalen Shooting auch mache ich dann ein kleines Location-Scouting, ich lasse mich in der Wohnung herumführen und die Kamera mal hier und mal dort platzieren. Auch das ist eine fast schon philosophische Frage der Fotografie: Mache ich das Foto noch selbst? Inwieweit wirkt die andere Person auf das Foto ein? Die Kamera ist ja vielleicht nicht exakt in dem Winkel positioniert, in dem ich sie sonst halten würde. Aber ich denke, dass das auch in der normalen Fotografie immer eine Rolle spielt, weil je nachdem wie sich jemand positioniert, bist du fast gezwungen, dein Bild auf eine bestimmte Weise zu machen, sofern du nicht du alles komplett diktieren willst.
Welche Bedeutung hat der digitale Raum für Sie momentan?
Momentan ist er natürlich relativ wichtig, er ist die Arbeitsgrundlage für das Projekt und mein Medium der Kommunikation. Ganz grundsätzlich glaube ich, dass er vielen Leute momentan die Chance bietet, sich abzulenken, sich zu bilden, Sport zu machen, Kunst anzuschauen. Aber ich glaube auch, dass man sich über die Zeit hinweg bewusster wird, was Online und Offline ist. Von Digital Detox redet ja momentan fast keiner mehr, wir sind angewiesen aufs Internet, weil wir nicht in die Galerien und Museen kommen und es immer schwieriger wird, an Magazine zu kommen. Aber wenn sich die Situation irgendwann wieder normalisiert – was auch immer das bedeutet – hoffe und denke ich, dass wir uns wieder bewusster in Galerien begeben, weil wir es wertschätzen können, ein metergroßes Bild vor uns zu haben, statt alles immer nur auf einem Screen zu sehen. Der digitale Raum ist wichtig, aber ich glaube, dass uns auch bewusst werden wird, wie gut es tut, sich außerhalb davon zu bewegen.
Wie verbringen Sie selbst Ihre Zeit in Isolation?
Ich bleibe zu Hause und arbeite Dinge ab, die schon länger liegen geblieben sind – Stichwort Steuererklärung. Ich gehe sonst gern in die Staatsbibliothek, arbeite sonst aber auch viel von zu Hause, weshalb sich das ganze gerade fast noch nach Alltag anfühlt. Aber ich glaube, das wird sich mit der Zeit ändern. Die Zeit wird einen selbst ändern und auch verändern, was man innerhalb der Isolation macht.
Gerade in einer Zeit der Isolation suchen Sie den Kontakt mit fremden Personen überall auf der Welt. Ist das auch eine Art Gegenreaktion?
Sicherlich, ja. Natürlich interessiert mich, wie es Menschen überall mit dieser Situation geht – nicht nur in Bayern oder Italien, sondern auch in China oder Afrika. Wir leben in einer globalisierten Welt. Nicht nur in dieser Krise, sondern in jeder Krise stecken wir alle zusammen, das sieht man ja auch am Klimawandel. Es ist ja auch so, dass ich momentan einige dieser Leute gar nicht physisch fotografieren könnte. Ich könnte einfach nicht über die Grenze nach Italien. Mit Leuten zu sprechen, die aus einer anderen Ecke der Erde kommen, ist immer hilfreich. Auch wenn wir uns gerade persönlich isolieren müssen, sollten wir uns erst recht für eine offene Gesellschaft einsetzen. Ich glaube, die Isolation birgt auch eine Art Gefahr. Das passiert ja auch schon auf staatlicher Ebene: America First und so weiter. Es wird sicherlich Leute geben, die nach der ganzen Situation sagen: "Lassen wir die Grenzen doch einfach zu!" Ich glaube dagegen sollte man werben – durch die Freiheit des Internets, wo es keine wirklichen Grenzen gibt. Und auch ganz grundsätzlich glaube ich, dass man als Gegenreaktion auf schlechte Nachrichten positiv und produktiv bleiben sollte.
Kann die Krise kann auch Chancen bieten, Dinge anders anzugehen und nach neuen künstlerische Verbindungswegen zu suchen?
Ich mag das Wort Chancen. Das Wort Krise steht für den Höhepunkt oder Wendepunkt einer Situation und ich glaube, gesamtmenschheitlich sind wir gerade sowieso an so einem Punkt. Je mehr ich mich damit beschäftige, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass diese Krise grundsätzlich etwas ändern wird – für die Gesellschaft, für die Menschen und natürlich auch für die Kunst. Wir sehen ja jetzt schon, was die Eindämmung der Produktion und des Konsums mit dem Klima macht. Das liefert Kraft und Argumente, zum Beispiel für die Senkung des CO2-Ausstoßes weiterzukämpfen. Und diese neuen Argumente zählen natürlich auch in der Kunst. Es gibt jetzt einfach andere Wege, künstlerisch oder fotografisch aktiv zu werden und einen davon versuche ich zu gehen. Ich beschäftige mich natürlich vor allem mit dem Thema Fotografie und Film via Videochat. Solche Situationen, in denen ich als Fotograf nicht anwesend sein kann oder möchte, gab auch schon vorher, zum Beispiel in Krisengebieten wie Fukushima. Da könnten dann zum Beispiel Drohnen oder ferngesteuerte Kamera-Roboter zum Einsatz kommen. Es gibt also genug Ansätze, physische Anwesenheit in der Fotografie zu ersetzen, egal was man davon halten mag. Natürlich bevorzuge ich es als Fotograf, physisch vor Ort zu sein. Aber warum nicht mal alles weiterdenken?