Kommentar zu Venedig-Löwen

Große Namen, große Nationen

Die Goldenen Löwen von Venedig gehen an Simone Leigh und Sonia Boyce für den britischen Pavillon. Damit werden großartige Künstlerinnen ausgezeichnet. Trotzdem fühlt sich die Wahl nach "Business as usual" in der Krise an

Simone Leigh hat Venedig, der Stadt der Heiligen, neue Schutzpatroninnen geschenkt. Wenn man sich in den vergangenen Tagen über das Biennale-Gelände in den Giardini und im Arsenale bewegt hat, schienen die monumentalen Skulpturen der Künstlerin in ihrer stoischen Ruhe über die aufgeregte Kunst-Menge zu wachen.

Vor dem US-Pavillon, den Leigh bespielt, und im Garten des Arsenale sind schon von Weitem ihre mattschwarzen oder goldglänzenden Figuren zu sehen, deren Formen zwischen weiblichen Körpern und architektonischen Elementen balancieren. Am Eingang der Hauptausstellung "The Milk of Dreams“ von Kuratorin Cecilia Alemani werden Besucherinnen und Besucher von Leighs Arbeit „Brick House“ begrüßt, einem bronzenen Hybriden aus Frau und Haus, der 2019 bereits den High-Line-Park in New York regierte. 

Nun wurde die materiell präsenteste Künstlerin dieser Biennale auch mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet - offiziell nicht für ihren Pavillon, in dem sie neue Skulpturen und eine Videoarbeit zeigt, sondern für den besten Beitrag zur Hauptausstellung. Nach Arthur Jafa 2019 geht die begehrte geflügelte Trophäe also erneut in die USA. Und es ist anzunehmen, dass der Preis durchaus als Anerkennung für Leighs "Gesamtleistung" auf der Biennale gemeint ist. 

Wertschätzung für die Arbeit Schwarzer Frauen

Zusammen mit dem Goldenen Pavillon-Löwen für die Britin Sonia Boyce kann man die Wahl der Jury (unter anderem MMK-Direktorin Susanne Pfeffer und der designierte HKW-Chef Bonaventure Ndikung) als Wertschätzung der oft übersehenen und ausgebeuteten Arbeit von Schwarzen Frauen interpretieren. Nicht nur, weil die beiden Gewinnerinnen einen afroamerikanischen beziehungsweise afrokaribischen Hintergrund haben, sondern weil beide in verschiedenen Medien den Beitrag Schwarzer Frauen zur Geschichte sichtbar machen. 

In ihrer Video- und Klanginstallation "Feeling Her Way" inszeniert Sonia Boyce im britischen Pavillon ein glitzerndes Disco-Interieur mit Pop-Memorabilia an den Wänden. Dazwischen sind Bildschirme montiert, auf denen fünf Schwarze Sängerinnen bei A-Capella-Improvisationen gezeigt werden. Während es sonst in der Musik (wie in der Kunst) oft um große Egos und Starkult geht, entsteht hier ein vielstimmiger Gemeinschaftsklangteppich - die Protagonistinnen reagieren aufeinander und teilen sich die große Biennale-Bühne offenbar mit Freude. 

Als Sonia Boyce 2018 ein potenziell sexistisches Gemälde von John William Waterhouse in der Manchester Art Gallery temporär abhängte, war weit über Großbritannien hinaus heftiges „Cancel-Culture“-Geschrei zu vernehmen. Ihr farb- und stimmgewaltiger Biennale-Beitrag hat dagegen wenig Provokations- und großes Einigkeitspotenzial – und funktioniert auch ohne den politischen Hintergrund der Schwarzen Sichtbarkeit als funkelnder Erlebnisraum.

Mit beiden Beinen in der Realität

Simone Leighs Arbeit ist dagegen strenger und formal reduzierter, doch auch die Chicagoer Künstlerin speist ihre bildhauerischen Werke aus einer nicht-weißen Kulturgeschichte und bedient sich präkolonialer Motive. Im Herbst soll es zusätzlich zu ihrem Pavillon ein Symposium in Venedig geben, das der ehemaligen Sklavin Harriet Jacobs gewidmet ist und die körperliche und intellektuelle Arbeit Schwarzer Frauen würdigen soll. In einer Hauptausstellung, die sich oft in surrealistische Traumwelten zurückzieht, hat also ein Beitrag gewonnen, der fest auf dem Boden politischer Realitäten steht. Sowohl Leigh als auch Boyce machen konzeptuelle, aber gleichzeitig sinnliche Kunst. Sie kann zweifellos im Kontext der Identitätspolitik betrachtet werden, sie lässt sich aber nicht unmittelbar aktivistisch vereinnahmen.

In diesem Jahr hatte es in der Stillen Post der Biennale-Blase keine eindeutigen Favoriten auf die goldenen Raubtiere gegeben. Gerade bei den Pavillons taten sich die Hobby-Jurorinnen und Juroren aus der Kunstwelt schwer, was nicht unbedingt für die Qualität des Jahrgangs spricht.

Obwohl die Mega-Ausstellung in einer Ausnahmesituation von Pandemie und Krieg in Europa stattfindet, fühlen sich die Löwen an zwei doch schon sehr etablierte Positionen im Kunstbetrieb nun überraschend nach "Business as usual" an. Auch, wenn in der weiß und männlich dominierten Geschichte der Biennale die Vergabe der wichtigsten Preise an Schwarze Frauen alles andere als eine Selbstverständlichkeit darstellt. "Wir sind hier. Wir gehen nicht mehr weg", sagte Sonia Boyce treffend nach der Preisverleihung. Insofern ist die Entscheidung natürlich ein Meilenstein.

Die Kunstwelt ist in ihre Routinen zurückgekehrt

Trotzdem fällt auf, dass wie so oft institutionell gut vertretene Namen aus großen Kunstnationen geehrt werden. Und auch die Preisträgerinnen sind mit ihren unaufgeregten, auf langen Recherchen basierenden Beiträgen eher indirekt Kommentatorinnen der Gegenwart. Die Biennale hat auf eine große symbolische Geste verzichtet, wie es beispielsweise ein Löwe an den ukrainischen Pavillon gewesen wäre. Doch da gerade deutlich wird, wie wenig solche künstlerischen Solidaritätsbekundungen in einem Krieg letztlich ausrichten können und wie selbstgefällig die Kultur zuweilen wirkt, ist das wohl die richtige Entscheidung.

Die Kunstwelt ist trotz großer Ankündigungen eines "Neuen Normals" nach der Pandemie in ihre Routinen zurückgekehrt, und auch der Wettbewerbsgedanke der Biennale ist unangetastet. Die Goldenen Löwen, die an zwei zweifellos großartige Künstlerinnen gehen, sind so etwas wie der künstlerische Fels in der Brandung des Jahres 2022. Und Simone Leighs Heilige wachen weiter über Venedig.