Pariser Modewoche

Rückkehr zur Ernsthaftigkeit

Natur als Zuflucht, omnipräsente Technik, eine unausweichliche Apokalypse und die erste Balenciaga-Schau nach dem großen Skandal: So lief die Pariser Modewoche

"Es ist ein Modemarathon, atmet tief durch", verkündete der Modenachrichten-Schnelldienst "Style Not Com" zum Beginn der Pariser Modewoche, der letzten dieser Saison. In 66 Laufsteg-Shows und 41 Präsentationen gab die französische Hauptstadt alles. Die Natur als Herkunft und Zufluchtsort, omnipräsente Technik und eine unausweichliche Apokalypse spielten die Hauptrollen in den Kollektionen der Designer. Gleichzeitig wurde der andauernde Konflikt zwischen Mode als purer Kleidung oder vermarktetem Entertainment auf die Spitze getrieben.

Zum Finale der Frühling-Sommer-Kollektion von Alexander McQueen im Jahr 1999 sprühten zwei Roboter das weiße Tüllkleid des Models Shalom Harlow mit Farbe ein. Mit der Fusion von Mode und Technik, gerade auf dem Laufsteg, wird so seit Jahrzehnten gespielt, immer öfter jedoch stellt sich die Frage, ob es um einen gewählten Dialog oder einen schnell zu konsumierenden Showeffekt geht. Gerade wenn die Mode hierbei in den Hintergrund gerät. So etwa geschah es in Paris bei Coperni. Die junge französische Marke hatte in der letzten Saison mit einem an den Körper des Models Bella Hadid gesprühten Kleid für den größten viralen Moment gesorgt – der während der Herbst-Winter-2023 Show durch den Einsatz von "Black Mirror"-ähnlichen Robot Dogs getoppt werden sollte.

Die "Spots" der US-Firma Boston Dynamics interagierten mit den Models auf dem Catwalk, nahmen einem den Mantel ab, einem anderen die Handtasche. Die Kleider jedoch, die zwischen den gefährlich-gruseligen Kreaturen über den Laufsteg huschten, wirkten wenig inspirierend, bestanden aus simpel um den Körper geschlungenen Pelzdecken oder dekonstruierten Minikleidern. Wird es zu einer Roboterschau mit einer Modepräsentation, fehlt die Balance.


Gefunden hatte diese Kunihiko Morinaga, Designer der japanischen Marke Anrealage. Seit mehreren Jahren arbeitet er mit lichtabhängigen, photochromen Stoffen und setzte diese auch in seiner aktuellen Herbst-Winter-Kollektion ein. In von Kopf bis Fuß weiß gehaltenen, aufwendig gefertigten Outfits traten die Models auf eine Bühne, woraufhin ein UV-Lichtstrahler von oben herab an ihnen hinunterfuhr und die Kleidung sofort in bunten Farben erstrahlen ließ.

Flauschig-gemusterte Mäntel wurden pink, koralle und blau, karierte Trenchcoats und geblümte Spitze wechselten sich ab mit ausgestellten, gestreiften Kleidern und puppenhaften Häkel-Kragen in Pastellfarben. Eine Zeremonie der Farbverwandlung, die sowohl die tragbare als auch die performative Seite wunderbar vereinte.



Nicolas di Felice ließ sich für Courrèges Herbst-Winter-Kollektion von der wohl verbreitesten Pose einer Modewoche inspirieren: über ihre Smartphones gebeugte Menschen. Das erste Model wanderte aus einem weißen Nebel, den taschengroßen Computer mit beiden Händen bedienend, die Augen starr auf das Gerät gerichtet, während der LED-Bildschirm als einzige Lichtquelle das Gesicht erstrahlte. Geöffnete Reißverschlüsse vereinfachten die angewinkelte Armhaltung. Auch ein Tweedmantel, übergroße Motorcycle-Jacken und Hoodies wiesen das handyfreundliche Feature auf.

Übergroße Kapuzenpullover und Sweatshirts der fast ausschließlich Grau-Weiß-Schwarz gehaltenen Kollektion holten die Generation-Z ab, während kurze A-Linien-Kleider an die Hochzeit der Marke in den 1960er-Jahren erinnerte. Die futuristisch-spacigen Entwürfe von Gründer Andrè Courrèges wurden durch kurze Halsketten mit etwa handtellergroßen, verspiegelten Kreisanhängern zitiert. Der Kreis fand sich außerdem als Cut-out um einige Bauchnäbel, wurde in glitzernd-glitschigen Abendkleidern und Nadelstreifen-Anzügen eingearbeitet. Er wolle nicht verurteilen, aber hinterfragen, kommentierte di Felice die Idee hinter seiner 44-Looks umfassenden Kollektion.


Im Weltall hielt sich auch Ibrahim Kamara auf und führte die Gäste seiner ersten offiziellen Off-White Modenschau in eine von der Sonne angestrahlte Mondlandschaft. Mit rotem "Mondstaub" ausgelegt glich der Laufsteg einem fremden, glühenden Planeten und erinnerte gleichzeitig an die ungepflasterten Straßen Westafrikas, wo der in Sierra Leone geborene Kamara seine Reise begann. "Lunar Delivery" war der Titel von Ib Kamaras afro-futuristischem Debüt, das Virgil Ablohs Erbe und definierende Codes des Hauses mit space-age Elementen, punkigen Details und Kamaras eigener Herkunft verband.

Mit metallenen Ösen durchsetzte Looks in Schwarz und in den Boden widerspiegelndem Ocker enthielten klassische Anzug-Komponenten, lederne Harnesse und breite Faltenröcke. Rucksack-Gurte und Schnallen als Gürtel, Landkarten-Print und abgewandelte Tarnmuster erzählten die Geschichte einer Reise, die viel weiter geht, als man sie sich vorstellen könnte. Raumanzüge in Silber, wie aus Zeltplanen gefertigte, voluminöse Kleider, zerschlissener Strick und Batikmuster führten sie fort. "Punk, romantisch, sexy", sagte Kamara, seien die drei Worte, auf die er immer wieder zurückkomme. Und so schaffte er ein stimmiges, zukunftsweisendes Bild, dessen Hitze beinah spürbar war und dessen Mode eine neue, vielversprechende Ära für Off-White einläutete.


Harris Reed hingegen zeigte seine erste Kollektion für Nina Ricci. "Mein ganzer Designprozess besteht darin, den Menschen im Blickfeld zu stehen", sagte er. "Ich versuche nicht, jemanden zu verstecken. Ich hoffe, dass ich ihn mit großen Silhouetten, leuchtenden Farben, auf viele verschiedene Arten, mit Texturen und Materialien vergrößern kann." Sein Design-Manifesto fand auf dem schwarz-weiß gestreiften Laufsteg Ausdruck in riesigen Wagenrad-Hüten, um den Hals gebundenen Tüllrosen und halbe Gesichter verdeckenden Sonnenbrillen. Gigantische pinke Fell-Kleider, seitlich angebrachte Tüllflügel und wie Fächer aufgespreizte schwarz-weiß-gestreifte Pailletten-Kleider performten neben divenhaften Pelzmänteln, transparent-gepunktetem Tüll in Schwarz und 1970er-Jahre-Anzügen in Türkis oder grüner Spitze. Kurz gesagt: Kleider für den Auftritt auf dem roten Teppich oder dramatische Fotoshootings.

Die Meinungen über das Debüt gingen auseinander: Während einige gerade das diverse Casting und Reeds wiedererkennbaren Stil feierten, verglichen andere die Kollektion mit Zirkuskostümen, Abschlusskollektionen und konnten schlüssige Designcodes der Marke Nina Ricci in der Show nicht wiederfinden.


"Mir hat schon immer der Kontrast zwischen Stadtleben und Natur gefallen, die Vorstellung, dass ein unendlicher Wald gleich um die Ecke ist", sagte Jonny Johansson, Kreativdirektor von Acne Studios. Diesen Gegensatz erlebe er in Schweden täglich und habe sich daher für die Herbst-Winter-Kollektion mit ihm auseinandergesetzt. Das Setting glich einem avantgardistischen Zauberwald mit Lianen-Vorhängen aus glitzernden Bändern und schwarz-sandigem Boden. Die Kreaturen, die aus ihm heraustraten, erinnerten an 1990er-Jahre-Nymphen und Computerspiel-Figuren mit apokalyptischem Touch.

Moosgrüne, fransige Stoffe waren durch strategische Bindungen zu einem Kleidungsstück kreiert worden, grasgrüner Strick mit gehäkelten Rosenblüten besetzt, Kleider aus vielen stoffernen Blättern geformt. Eine giftgrüne, bodenlange Robe machte Platz für tarzan-und-jane-artige Fell-Fetzen-Kostüme und um die Körper drapierte, schlammfarbene Kleider, deren Säume in Flicken aufgingen. Wie Baumrinde eingefärbte Leder-Overalls und aus Jutedecken notdürftig konstruierte Ensembles verbanden den Ausbruch aus der Zivilisation mit dem Leben in der Wildnis. "

Eine Kollektion, die man sich interessiert anschaut, die aber auch tragbar ist. Also, da sind tatsächlich Kleider, die getragen werden können auf dem Laufsteg und kein Performance-Kunst-Teil, der die Kleidung vernachlässigt. Bahnbrechend (nicht sarkastisch)", kommentierte Modekritikerin Kim Russel die Show und daran angelehnt das ganze Prozedere der zur bloßen Bühne werdenden Laufstege.


Mit Vivienne Westwood und Paco Rabanne waren zwei große Modeschöpfende im Winter verstorben, denen nun während den Präsentationen ihres jeweiligen Hauses ein letzter großer Tribut gezollt wurde. Julien Dossena ließ nicht nur sechs klirrende Rabanne-Originale aus den 1960er-Jahren das Finale seiner Kollektion “Chasing Dreams” bilden, für seine eigenen Designs fand er Inspiration in der Verbindung und Freundschaft der beiden Spanier Rabanne und Salvador Dalì. Fünf surrealistische Gemälde des Künstlers verwandelte er zu bodenlangen Abendroben und setzte von Dalì entworfene Schmuckstücke als Accessoires ein.

Rabanne-typische, exzentrisch-metallene, aus aneinander geketteten Plastikscheiben und silbernen Plättchen gefertigte Kleid-Kunstwerke folgten auf fuzzy Hosenanzüge und flauschige Einteiler.


Die Herbst-Winter-Kollektion von Andreas Kronthaler for Vivienne Westwood begann mit einem Top mit einem Westwood-Porträt. Den letzen Look, ein Korsett-Brautkleid aus weißer Spitze, präsentierte Westwoods Enkeltochter Cora Corré. Dazwischen wurde das Archiv der britischen Modedesignerin neu erlebt: Mini-Krinolinen, Tweed, turmhohe Plateau-Stiefel, unendlich viele Muster, wilde Drapierungen und Jogging-Couture trafen aufeinander. "Diese Arbeit war irgendwie hilfreich, ja. Aber manchmal nimmt man etwas auf, und dann trifft es einen. Aber dies ist meine persönliche Hommage an sie", erklärte Kronthaler, Westwoods Wittwer und Kollaborateur, im Backstage-Bereich.


"Ich mache Kleidung, um alle willkommen zu heißen." Ester Manas' Laufsteg ist einer der inklusivsten der altehrwürdigen Pariser Modewoche, bei der Body Positivity meist sehr klein geschrieben wird. "For Better or For Worse" hieß die von Manas und ihrem Partner Balthazar Delepierre gezeigte Kollektion, mit der sie direkt ein privates Problem lösten: ein Brautkleid finden. Im Sommer wird das Paar heiraten und adaptierte seine Vorbereitungen auf die in einer Kirche und zu Liedern wie "Take My Breath Away" und "No Ordinary Love" präsentierten Looks, die von den Hochzeitskleidern archetypischer Bräute aus US-Rom-Coms inspiriert waren. "Wir machen die Art von Hochzeit, die wir selbst nicht haben wollen", erzählten sie Backstage.

Weiße, zwischen Lingerie und Spitzenschleier tendierende Rüschendesigns ließen den Blick auf Slips frei, spielten mit traditionellen Brautkleid-Elementen, auf eine zeitgemäße Art und Weise, die es tatsächlich zulassen würde, die Entwürfe auch für den alltäglichen Kleiderschrank zu recyceln. Schwarze transparente Raffungen, beige, mit Borten besetzte Röcke und gewickelte Jersey-Kleider feierten Asymmetrie und die Körper der Models, die sie durch die heiligen Hallen trugen.

Auf einem schwarzen Crop-Top las sich "I Said No", was den zeitgemäßen Blickwinkel der Marke unterstrich: Heiraten muss gar nicht sein. Trag die Kleider doch einfach so. Ein weiteres Highlight bildeten die wie aus Knete-Würsten geformten Handtaschen und drei feuerrote Designs, die, aus Material-Resten zusammengesetzt, den nachhaltigen Ansatz der Marke zeigten.

 

"Ja, aber ...", wollte man nach der Balenciaga-Schau sagen. Nach einem Skandal um BDSM-Teddybären und dem Vorwurf, Sexualisierung von Kindern zu fördern, war es sehr still um das französische Modehaus geworden. Bescheiden, zurückhaltend, fast kleinlaut war das Label um Creative Director Demna Gvasalia nun zurück im Rampenlicht der Pariser Modewoche, mit einer unmissverständlichen Ankündigung: "In den letzten Monaten brauchte ich einen Zufluchtsort für meine Liebe zur Mode und fand ihn instinktiv im Prozess der Herstellung von Kleidung. […] Deshalb ist Mode für mich nicht mehr als Unterhaltung zu sehen, sondern als die Kunst, Kleidung herzustellen", hieß es in Demnas Shownotes. In drei Teilen – "Schneiderei", "Erkundung von Silhouette und Form" und "Moderne Eleganz" – präsentierte er in der old school Location Carrousel de Louvre eine ungewöhnlich stille Kollektion.

17 nüchterne, geradlinige, schwarze Oversized-Anzüge mit teilweise doppelten Hosenbeinen eröffneten die Show. Es folgten hautenge Jersey-Anzügen mit kugeligen Schultern – eine Hommage an Christóbal Balenciaga – und avantgardistischen Moto-Boots. Schließlich aus Perlen, Pailletten oder Spitze gefertigte, ebenfalls rund-schultrige Abendkleider. Sneaker, Slogan-T-Shirts und Kapuzenpullover fehlten, Schlüsselstücke, denen Balenciaga seinen kommerziellen Erfolg der letzten Jahre zu verdanken hatte.

Viele der Entwürfe schienen aus Demnas Design-Archiv wiederbelebt worden, doch es fehlte eine entscheidende Zutat, die gerade er, der aus Geogien geflüchtete Designer, so gekonnt beherrscht hatte: die kritische Interaktion mit der Welt außerhalb der Modebubble. Wie es Modekritikerin Alexandra Hildreth in einem TikTok-Video erklärte: Seine Mode öffnete die Konversation zwischen Kleidung und der Welt, in der sie gezeigt wurde. Mode müsse mit ihrer Umwelt interagieren, was bei der aktuellen Kollektion nicht möglich war, da ihr eine klare Message fehlte.

Demna selbst hatte erklärt, er wolle seine Designs nicht mehr von einem 15-minütigen "buzzy concept" überschatten lassen. Den Starauflauf und ausufernde Kulissen würde vermutlich auch niemand vermissen, die Rückkehr zum Erbe des Hauses und einer Ernsthaftigkeit der Mode gegenüber sind lobenswerte Konzepte, doch die Abkapselung der Mode lässt sie öde und emotionslos wirken. Entertainment? Nein. Interaktion? Ja. Dialog? Ja. Mode als Medium, das sich mit dem Weltgeschehen auseinandersetzt? Ja!