Theater als Spa-Oase

Schwitzende Menschen sagen Ja zum Zeitgeist

Wellness ist schon länger ein Trend in der Kunst. Ein Zürcher Theater ging nun einen Schritt weiter und verwandelte sich in einen Spa-Tempel mit Sauna, Trinkkur und Liegewiese. Unsere Autorin wollte herausfinden, was das soll. Ein Selbstversuch

Mitten in der Zürcher Altstadt, zwischen den spätmittelalterlichen Wohntürmen, den herrschaftlichen Zunfthäusern und kopfsteingepflasterten Gässchen, befand sich einst ein Sanatorium mit eigener Heilquelle. Im Gebäude, das heute das Theater Neumarkt beherbergt, wurde kürzlich bei einer archäologischen Spurensuche die Bilgeri-Quelle ausgegraben und nun wieder zugänglich gemacht. Das Ergebnis: Ein Theaterabend im Bademantel mit Sauna, Wellness und Spa, bei dem die Besucherin in die Tiefen der Entspannung abtauchen kann. Klingt wie ein Märchen? Ist es auch.

Eröffnung Anfang Februar, kurz nach 18 Uhr: Anders als in den meisten Wellness-Empfangsbereichen ist es im Treppenhaus des Theater Neumarkt eher eng. Hinter der gläsernen Schwingtür ist ein Holztisch, hinter ihm eine Frau und hinter ihr ein weißer Berg aus Frottee. Mehr Platz gibt es nicht. Der weiße Berg sind die eingepackten Bademäntel, Handtücher und Schlappen, die man für diesen eigentümlichen Besuch im Theater ausgehändigt bekommt. "Wellness Retrotopia", ein zehntägiges immersives Erlebnis zu den Themen Wellness, Erholung und Spa.

Die Geschichte mit der ehemaligen Heilquelle ist natürlich frei erfunden. Beziehungsweise "spekulative Fabulation", wie es das Theater selbst bezeichnet. Gutes Storytelling könnte man auch sagen, denn so ergibt die Absurdität im Theatersaal eine Wellness-Landschaft aufzubauen, fast schon wieder Sinn. Und Sinnhaftigkeit scheint der Mensch heute dringender zu brauchen denn je. Selbst wenn es um den Ausflug zum Neumarkt geht, das in der (Stadt-) Theaterlandschaft Zürichs die Position Enfant Terrible institutionalisiert hat.

Diffuses Lächeln mit Fahrstuhl-Gefühl

Wir sind zu viert, als wir auf unseren Guide warten, der uns vom Fuß der Treppe abholen und in die Welt der Entspannung führen soll. Der braucht allerdings noch ein wenig und so genießen wir einträchtig eine Stimmung wie im Fahrstuhl: Blicken weicht man diffus lächelnd aus, Gespräche werden tunlichst vermieden und alle verteilen sich gleichmäßig in den Ecken des engen Raums. Der Vorhof der Entspannung ist getränkt von sozialer Anspannung.

Doch genau die gilt es loszuwerden. Sowieso alle schädlichen Stoffe und Gedanken, erklärt der Guide, als er uns durch verschiedene Phasen der Lichtdusche führt. Rot, blau, weiß. Wir steigen langsam die alten Holztreppen hinauf und machen vor den Boxen halt, aus denen sphärische Passagen zur Wirkung der verschiedenen Lichtfarben und andere bedeutsame Dinge gesprochen werden. Kein Schlaf ist erholsamer als der Theaterschlaf. Unser Guide drückt jeweils feierlich den Play-Button auf einem kleinen MP3-Player, der hilflos an einem Kabel aus der Box hängt. Die Schauspieler sind an diesem Abend Saaltöchter und -söhne und in übergroße Frottee-Kostüme gehüllt, die optisch zwischen Pfleger und Insasse einer Nervenklinik changieren. Auch sein Verhalten liegt irgendwo dazwischen.

Doch sich über etwas lustig zu machen, darum geht es nicht. Ganz unironisch verwandelt sich das Neumarkt in einen anderen Ort. "Mimikry" nennt sich das Format und bezieht sich auf die Funktion des Nachahmens. Es wird jährlich wiederkehren und das Haus umkrempeln. Diesmal ist es eben ein Spa geworden, denn "Mimikry sagt ja zum Zeitgeist". Und zu dem gehören Selfcare, Entspannung, Achtsamkeit für das Innere und die ständige Suche danach mit einem Jahresabo der Mediations-App einfach dazu.

Die Gedanken klammern sich noch an den üblichen Theaterabend

Uns kommen andere Besucher in Bademänteln entgegen und man drückt sich immer noch diffus lächelnd aneinander vorbei, die einen tiefenentspannt, die anderen noch im Prozess der Immersion. Der Kopf ist noch zu sehr in Habachtstellung, die Gedanken klammern sich noch an den üblichen Theaterabend, bei dem die Rollen klar verteilt sind und der Besucherin in irgendeiner Form etwas geboten wird. Doch man gibt uns einige Grundregeln an die Hand, bevor wir in die freie Wellness-Landschaft entlassen werden. Die prägendste unter ihnen lautet: Bei Wellness Retrotopia kannst du nichts falsch machen. Du kannst aber auch nichts richtig machen.

Retrotopia ist so etwas ähnliches wie Utopia, nur speist es sich anders als Utopien nicht aus der Zukunft, sondern der Vergangenheit. Eine nostalgische Sehnsucht, ein rückwärtsgerichteter, verklärter Blick, der Sinn darin erkennt, dass das hübsche Neumarkt-Gebäude in der Zürcher Altstadt mal ein Sanatorium war. Auch wenn das nur ein Bluff ist.

Eine freundliche Saaltochter in Rostrot stellt mir flüsternd ein individuelles Programm zusammen: Practicing Comfort auf der Liegewiese, Live-ASMR, Besser-Leben-Sprechstunde bei echten Chefärztinnen und Chefärzten, Besuch des Floating Tanks, eine Trinkkur und allem voran natürlich der Saunagang. Das Modell nach finnischem Vorbild steht mitten auf der Bühne und ist auf einer Seite komplett verglast, sodass ich auf die Liegewiese schaue, wo sich Leute rekeln und bequemes Sitzen lernen. Es sind teilweise dieselben, mit denen ich vorhin den spannungsvollen Fahrstuhlmoment geteilt hatte. Und die mir nun zusehen, wie ich im Glaskasten schwitze. In Frottee gehüllt und in der weichklopfenden Schwüle dieses Theaterabends versunken, wird schnell alles egal. Denn: "Wenn die Welt voller Dramen ist, hat dann die Kunst nicht die Aufgabe einen Ort der Reizarmut zu bieten?" Bei all den debilen Elementen in der Wellnessoase stimmt der gedankliche Überbau doch scharfe Töne an.

Keine Ironie, keine Systemkritik, just float

Aber nein, dahinter steckt wirklich keine Ironie, keine zynische Systemkritik, die die Wellness-Sehnsucht ad absurdum führt, versichert mir Hayat Erdoğan. Sie und Julia Reichert, beide aus dem dreiköpfigen Direktorinnenteam, haben mit Dr. Philipp Hauß vom Burgtheater die künstlerische Leitung des Abends. Der promovierte sogar zum Thema Wellness und trotz einiger Jahre intensiver Feldstudie der Schweiz – diesem Wellness-Land überhaupt, mit ihren puderbezuckerten Berggipfeln und der guten Luft – hat es einen Besuch im Theater gebraucht, damit ich das Konzept Wellness hinterfrage. Gesundheit, egal ob mental oder körperlich, ist erst seit den 1950ern mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Nachdem man jahrhundertelang daran gearbeitet hat, nicht krank zu sein, gilt es nun sogar das noch zu optimieren?

"Just float", empfiehlt mir Julia und meint die Theateroase, in der ich nach dem Saunieren etwas unschlüssig stehe. Ich nehme sie wörtlich, lege mich ins hochkonzentrierte Salzwasser und floate in völliger Dunkelheit, bereit mich der bewusstseinserweiternden Reizarmut hinzugeben. Am Rande der Unendlichkeit gelingt es meinen Gedanken vielleicht die Realität loszulassen und ihre eigene zu schaffen. Dann stößt einer meiner Arme oder Beine sanft an den Rand des Tanks.

Zu oft spitzelt Theater durch

Wenig später trockne ich entspannt auf der Liegewiese und habe meine eigene Trinkkur gestartet. Die Bar im Foyer ist auch bei Wellness Retrotopia in Betrieb. Paniert in Salz und mit einer Live-Performance des ASMR-Phänomens im Ohr, dessen kribbelndes Wohltun sich mir schon in den unzähligen YouTube-Videos von Tennisball-streichelnden Menschen nicht erschlossen hat, fällt das Grübeln leichter. Wellness, Gesundheit, Theater. Ist die Wellness Retrotopia eine erweiterte Form des Theatererlebnisses? Seelische Reinigung, die man bestenfalls mit der Katharsis nach einem Stück durchlebt nun einfach über den körperlichen Weg? Abkehr von der Welt, um auf die vielversprechendste aller Reisen zu gehen – der ins Innere?

Nach dem zweiten Drink betreiben die Gedanken nur noch fadenscheiniges Storytelling auf der Suche nach Sinn. Denn ganz erlaubt man sich dem reinen Entspannungs-Setting nicht zu trauen, zu oft spitzelt da Theater durch.

Wellness Retrotopia ist kein stümperhaftes Unterhaltungsangebot einer Kulturorganisation, die sich dem Selfcare-Thema annimmt. Kein Yoga im Museum. Kein verbittertes Vorführen eines Lifestyles. Es ist einfach ein Spiel. Ein Spiel mit dem wellnessbedürftigen Zeitgeist und ein freies Floaten zwischen Realität, Theaterabend, Publikum und Darstellern. Ohne Agenda, ohne Doktrin, ohne Botschaft. Es hat einige Stunden Immersion und die persönliche Trinkkur gebraucht, aber als ich schließlich aufhöre zu fragen und zu forschen, und den schwitzenden Menschen in der Sauna zuschaue, treffe ich die Entscheidung, genau wie das Mimikry-Format ja zum Zeitgeist zu sagen: "The ability to be in the present moment is a major component of mental wellness (Abraham Maslow)".