Dafür, dass das Thema einer der größten kulturpolitischen Aufreger der vergangenen Jahre war, kommt das Ergebnis nun ziemlich nüchtern daher. "Code of Conduct der Documenta und Museum Fridericianum gGmbH" heißt es in schlichter schwarzer Schrift auf der Website der Weltkunstschau. Danach folgen kompakte 6000 Zeichen, die darlegen sollen, wie sich die gemeinnützige Gesellschaft, die zu gleichen Teilen von der Stadt Kassel und dem Land Hessen getragen wird, selbst verortet. Und wie sie in ihren kommenden Ausgaben die "Achtung und Wahrung menschlicher Würde als fundamentaler Grundlage zivilisierten Lebens in Freiheit und Selbstbestimmung" sicherstellen will.
Diese schriftliche Verpflichtung voller großer Worte hat nicht ganz freiwillig das Licht der Welt erblickt. Sie ist vielmehr eine Folge des Antisemitismus-Eklats, der die Documenta Fifteen und die gesamte Kunstinstitution fundamental erschüttert hat. Kurzer Rückblick: Schon vor Eröffnung der Ausstellung wurde dem indonesischen Kuratorenkollektiv Ruangrupa eine Nähe zur antiisraelischen Boykottbewegung BDS vorgeworfen, die vom Bundestag durch eine Resolution als strukturell antisemitisch eingestuft wurde. Im Juni 2022 tauchte dann tatsächlich die Darstellung eines orthodoxen Juden mit Fangzähnen und SS-Runen-Hut auf einem Banner der Künstlergruppe Taring Padi auf, das daraufhin abgehängt wurde. Auch andere Werke, die sich aus palästinensischer Sicht (und wohlgemerkt über ein Jahr vor dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023) mit dem Nahost-Konflikt auseinandersetzten, wurden als antisemitische Propaganda kritisiert - blieben jedoch in der Ausstellung.
Seitdem ist "Documenta" ein zuverlässiges Reizwort in der deutschen Debatte - das aber für jeden etwas anderes bedeutet. Für die einen hat die Schau ein grundlegendes Antisemitismus-Problem im Kunstbetrieb offengelegt, das sich hinter postkolonialer Fassade und "Israelkritik" verstecke. Für die anderen, darunter viele Protagonistinnen und Protagonisten der angegriffenen Kulturbranche, zeigte sich die rassistische Strategie, Antisemitismus auf den "Globalen Süden" abzuwälzen und sich einer Diskussion über die anhaltenden Folgen des europäischen Kolonialismus zu entziehen. Die einen forderten ein härteres Durchgreifen der Politik bis hin zum Entzug öffentlicher Mittel, die anderen sahen die Kunstfreiheit fundamental gefährdet. Die aufgeheizte Stimmung nach dem 7. Oktober und dem zerstörerischen Krieg in Gaza hatte die Debatte nicht gerade beruhigt. Nach dem geschlossenen Rücktritt der ersten Findungskommission für die Documenta 16 stand die bekannteste deutsche Kunstschau am Abgrund.
Balancieren in eine ungewisse Zukunft
Auch den jetzt veröffentlichten "Code of Conduct" muss man in diesem Kontext sehen. Er zeigt den Balanceakt, den die Institution für ihre Zukunft wagt: Einerseits will sie signalisieren, dass sie Maßnahmen ergreift, die einen erneuten Fall von Menschenfeindlichkeit in ihrem Ausstellungsräumen ausschließen soll. Gleichzeitig muss sie die Sorgen der Kunstschaffenden vor politischer Einflussnahme und Zensur entkräften, wenn sie international relevant bleiben will.
Das finale Dokument ist Teil einer größeren Strukturreform der Documenta, für die eine Unternehmensberatung Vorschläge erarbeitet hatte. Auch der neu berufene Wissenschaftliche Beirat, der die Geschäftsführung und den Aufsichtsrat fachlich unterstützen soll, ist Ergebnis dieses Prozesses. Beim "Code of Conduct" handelt es sich im Vergleich zur ursprünglichen Empfehlung um einen Kompromiss. Zuerst sollte der Kodex ausdrücklich auch für die künstlerische Leitung der Documenta gelten. Dagegen regte sich jedoch heftiger Widerstand, da dies als Eingriff in die gestalterische Freiheit von Kuratorinnen und Kuratoren gelesen wurde. Nun heißt es, dass die Grundsätze "nur noch" intern, also für "die gesamte Organisation der Documenta und sämtliche ihr zuzuordnenden Mitarbeitenden" gelten. Verstöße dagegen können demnach mit "disziplinar- und arbeitsrechtlichen Instrumenten" verfolgt werden.
Gleichzeitig gibt sich die Organisation die Aufgabe, "die Freiheit künstlerischen Werkens und Wirkens im Rahmen der in Deutschland geltenden Gesetze" zu gewährleisten. Ganz auf Vertrauen will die Documenta gegenüber ihren Kuratorinnen dann aber doch nicht setzen. So gibt es eine Klausel, die schon im Vorfeld bei vielen Kunstschaffenden mindestens erhobene Augenbrauen hervorgerufen hat. "Die jeweilige künstlerische Leitung der Documenta Ausstellung soll innerhalb von drei Monaten nach ihrer Wahl in einer öffentlichen Veranstaltung ihr kuratorisches Konzept vorstellen, über ihre Haltung zu aktuellen Entwicklungen auf dem Gebiet zeitgenössischer Kunst informieren und darlegen, wie sie die Achtung der Menschenwürde unter Wahrung der grundgesetzlich geschützten Kunstfreiheit auf der von ihr kuratierten Ausstellung gewährleisten will", heißt es im Abschnitt "Anwendungsbereich" des "Code of Conduct".
Transparenz oder Misstrauensvorschuss
Die designierte Leiterin der Documenta 16, die New Yorker Kuratorin Naomi Beckwith, hat diese Auflage bei ihrer Vorstellung im Dezember 2024 augenscheinlich klaglos und gelassen hingenommen. Ihre Veranstaltung ist für das kommende Frühjahr geplant. Es ist jedoch keineswegs sicher, dass alle kommenden Kandidaten so wohlwollend auf diese Klausel reagieren. Man kann sie als Förderung der Transparenz, aber eben auch als Misstrauensvorschuss von ganz oben lesen.
Auch sonst ist nicht zu erwarten, dass der Kodex künftige Konflikte verhindern kann. Zwar klingen Sätze wie die folgenden erst einmal unstrittig: "Die Documenta bekennt sich zu ihrer hieraus erwachsenden Verpflichtung und Verantwortung zur Gewährleistung von Schutz gegen Antisemitismus, Rassismus und jedweder anderen Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Die Documenta gewährleistet die Kunstfreiheit und den für jede künstlerische Betätigung unabdingbaren freien, von Toleranz und Weltsicht geprägten Raum zum Ausdruck von Haltung und Meinung in allen erdenklichen Formensprachen." Der Teufel liegt hier aber wie so oft im Detail. Als Arbeitsdefinition für Antisemitismus (etwas, das während der Documenta Fifteen fehlte), wird die Auffassung der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) herangezogen. Diese steht immer wieder in der Kritik, weil dadurch auch Protest gegen israelisches Regierungshandeln als antisemitisch eingestuft werden könne. Auch bei den jüngst verabschiedeten Antisemitismus-Resolutionen im Bundestag sorgte die Implementierung dieser Definition für Widerstand aus Kultur und Wissenschaft.
Ein Ermessensspielraum, der Konflikte hervorrufen kann, wird also bleiben. Und dass eine Reform der Documenta Skandale wie den von 2022 ein für alle Mal ausschließen kann, wie es von einigen Politikern gefordert wurde, ist völlig utopisch. Schon allein, weil die Kunstschau genau die ideologischen Gräben offenbart, die beim Thema Gedenkkultur, Antisemitismus und Palästina-Solidarität in der gesamten Gesellschaft bestehen.
Agree to disagree
Interessant ist jedoch, welche Schlüsse der "Code of Conduct" daraus zieht und wie auf mögliche Verstöße gegen den Wertekodex reagiert werden soll. Etwas amtsdeutsch verklausuliert heißt es: "Soweit die Documenta künstlerische Äußerungsformen als im Konflikt stehend zu den in diesem Code of Conduct manifestierten Verhaltensgrundsätzen beurteilt, behält sie sich vor, ihre hieraus resultierende Haltung zu kommentieren und dies gegebenenfalls auch im unmittelbaren Wahrnehmungsbereich ausgestellter Kunstwerke durch Kontextualisierungen zum Ausdruck zu bringen." Hier wird also die Möglichkeit eröffnet, während eines Dissenz' zwischen künstlerischer und organisatorischer Leitung keine einvernehmliche Lösung finden zu müssen, sondern unterschiedliche Beurteilungen nebeneinander stehen lassen zu können.
Ironischerweise kehrt hier genau die Strategie wieder, welche die Documenta auch 2022 anwandte, aber nie so klar als als solche benannt hat. Nach Auftauchen des antisemitischen Taring-Padi-Banners gab die damalige Geschäftsführerin Sabine Schormann zu Protokoll, dass es nicht ihre Aufgabe sei, Kunstwerke vor der Präsentation zu überprüfen - und musste wohl auch deshalb ihr Amt niederlegen. Gegen Ende der Schau hängten die Gesellschafter der Documenta Schilder im Umfeld der Ausstellung auf, auf denen sie sich von den Inhalten einiger Werke distanzierte. Auch das wurde von Kritikern als unzureichend beurteilt. Man ist also gewissermaßen wieder am Anfang der Debatte - formuliert es aber nun deutlicher als grundsätzliche Haltung.
Knapp drei Jahre nach den ersten Antisemitismus-Vorwürfen gegen die Documenta Fifteen kann man diesen Punkt des "Codes of Conduct" unbefriedigend finden. Aber es hat sich nach gefühlt endlosem öffentlichem Streit, Ausstellungsabsagen und Boykottaufrufen auch gezeigt, dass dieser Ansatz vielleicht der einzige ist, der die politisierte Kunstszene nicht völlig zerreißt und Institutionen nicht zu politischen Spielbällen macht. Auch bei der Eröffnungsrede der Künstlerin Nan Goldin in der Neuen Nationalgalerie in Berlin wählte Direktor Klaus Biesenbach im Herbst 2024 den Grundsatz agree to disagree. Die US-Fotografin, die sich klar propalästinensisch positioniert, konnte eine teils empathische, teils bewusst polemische Rede zum Gaza-Krieg halten, ohne zensiert zu werden. Das Museum machte jedoch klar, dass es die Meinung der Ausgestellten nicht teilt. Diese Einigung, sich nicht einig zu sein, wird nun auch als Maxime der Documenta formuliert.
Die Zäsur ist ausgeblieben
Insgesamt ist der Code of Conduct in keiner Richtung die Zäsur in der Geschichte der Organisation, die im Vorfeld je nach Blickwinkel befürchtet oder erhofft wurde. Weder ist er eine deutliche Abkehr von der Kunstfreiheit noch ein Garant für Konfliktfreiheit in der Zukunft. Es lohnt sich aber, den Kodex nicht nur aus einer auf die Antisemitismus-Frage verengten Perspektive zu betrachten. Denn im Kern verpflichtet sich eine staatlich getragene Großausstellung einem im Grundgesetz festgelegten "humanistischen, freiheitlichen und demokratischen Wertesystem". Dagegen kann man kaum etwas haben, und die Verpflichtung gilt schließlich beidseitig: Auch Mitarbeiterinnen oder Künstler, die sich diskriminiert fühlen, können sich gegenüber der gGmbH auf den Kodex berufen.
Und auch mit Blick auf den derzeitigen Rechtsruck in Deutschland kann man diese Werte, die manche im Kunstbetrieb als selbstverständliche Floskeln abtun mögen, gar nicht oft genug betonen. "Mit ihren Ausstellungen, Veranstaltungen, Projekten und Publikationen bietet die Documenta Räume für den kritischen Diskurs globaler Themen aus Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit in einer Umgebung zeitgenössischer Kunst. Sie ist fest verankert in einer weltoffenen Gesellschaft und agiert in dieser als Institution parteipolitisch neutral." Das steht nun schwarz auf weiß auf der Website des großen Kultur-Aushängeschilds des Landes. Wer weiß, gegen wen man diesen "Code of Conduct" einmal verteidigen muss.