"Soko Chemnitz"-Pranger

Wo bleibt der Deutungsspielraum?

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Die Aktivisten vom Zentrum für Politische Schönheit, Cesy Leonard, Stefan Pelzer und Philipp Ruch, bei der Pressekonferenz zur "Soko Chemnitz"-Aktion

Die neue Aktion vom Zentrum für Politische Schönheit weckte die Hoffnung auf ein Spiel mit doppeltem Boden. Doch die vermeintliche Pointe, mit der das Künstlerkollektiv heute um die Ecke kommt, enttäuscht, findet Saskia Trebing

Einen Kommentar über den blutdruckerhöhenden Nazi-Pranger des Zentrums für Politische Schönheit in London anfangen? Ja, muss diesmal sein. Gestern Abend hat das Künstlerkollektiv Forensic Architecture dort nicht den Turner Preis gewonnen. Aber bereits die Nominierung hat den Scheinwerfer der Kunstwelt auf eine Gruppe aus Architekten, Filmemachern und IT-Experten geworfen, die anhand von visuellen Beweisen und Simulationen Menschenrechtsverletzungen aufdecken und Polizei- und Militäraktionen untersuchen. Die Methoden des Kollektivs sind wissenschaftlich. Sie legen mit Modellen und Experimenten beispielsweise dar, dass es absolut unwahrscheinlich ist, dass der Ex-Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme den Kasseler NSU-Mord an Halit Yozgat nicht bemerkt hat, obwohl er sich zur Tatzeit in dessen Internetcafé befand. Sie bauen auf Fakten. Sie sind politisch, aber sie sind wasserdicht. Und ihr Befund wird trotzdem im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss verworfen, weil er nur Kunst ist.

Kann aktivistische Kunst funktionieren, wenn die Welt vor Fakten überquillt, fleißige Künstler die Realität durchkämmen und ausleuchten, und die Konsequenzen ausbleiben, weil auch Wahrheit eine politische Kategorie ist, die sich jeder zusammenbastelt? Wenn Donald Trump einen wissenschaftlichen Bericht über den Klimawandel verlangt und dann dessen apokalyptisches Ergebnis von sich schüttelt, weil er "nicht dran glaubt?"

Braucht es also die kalkulierte Eruption von öffentlicher Empörung, die das Zentrum für Politische Schönheit mit seinem vermeintlichen Nazi-Pranger gezündet hat? Ist es ein Sieg des demokratischen Engagements, wenn Alexander Gauland (AfD) "Blockwartmentalität" und "Nazi-Methoden" anprangert und genau die Grundrechte der Gezeigten einfordert, die er Gegnern seiner Partei gern mal absprechen würde? Braucht es in einer Kunstwelt, in der viel zu vieles halbinteressiert abgenickt wird, totalitäre Strategien? Nicht in verspieltem Jonathan-Meese-Schwurbel oder Schlingensief-Gestrubbel, sondern im Todernst der Gegenwart?

Dass das Zentrum für Politische Schönheit deutsche blinde Flecken ausleuchten und vielsagende Reaktionen provozieren kann, hat es bewiesen. Seine Aktionen wie das persönliche Holocaust-Mahnmal für Björn Höcke oder die symbolischen Mittelmeertoten vor dem Reichstag haben gezeigt, dass allein unerhörte Ideen die Lawinen lostreten können, die sie rollen sehen wollen. Die angebliche Überwachung Höckes war auch so ein Was-wäre-wenn. Und so war da auch bei der Veröffentlichung der "Soko-Chemnitz" zuerst eine Hoffnung auf einen doppelten Boden, auf ein Gedankenspiel oder eine Gehirnvolte, die sich entlarven würde, wenn die öffentliche Empörung ihren Lauf nimmt.

Aber nach einiger Recherche erhärtete sich der Eindruck, dass der Pranger genau das war, was er zu sein vorgab: eine Verdopplung des Denunziationsportals für Lehrer, das die AfD gestartet hat. Eine pseudostaatliche öffentliche Fahndung à la G20-Gipfel. Heute hat sich dieses Narrativ dann doch noch durch eine Bedeutungspirouette des ZPS verändert, indem das Zentrum bekanntgab, dass sich vor allem vermeintliche Neonazis auf der Kampagnen-Website selber suchen und so ihre eigenen Daten ausliefern sollten. Doch auch mit dieser Wendung ist die Aktion eine Enttäuschung. Noch immer geht es ums Ausspionieren und Anschwärzen. Was mit den Daten passiert, die ihnen zugespielt wurden, bleibt wie bei allen Datenkraken unklar. Hier hat sich die Kunst auf das Niveau derer herabgelassen, die sie vorführen will, auch wenn sie sich jetzt damit rühmt, zu clever für Rechtsextreme zu sein.

Die Rhetorik der Hetze, die dem Projekt anhaftet, wird nachklingen und nicht auszuradieren sein. Nirgends politische Schönheit, nur Hass gegen Hass und das Publikum ohne Deutungsspielraum, instrumentalisiert als Mob. Ob Kunst das durfte, ist gar nicht die Frage, das wird juristisch geklärt werden. Aber auf diese Art übt sie Gewalt aus, wo sie Gewalt anprangern will. Und sie macht keine Angebote zum Selberdenken, sie erlaubt nur willige Komplizen beim Denunzieren.

In London beim Turner Preis wurden gestern Abend drei Künstler und ein Kollektiv gewürdigt, die alle dezidiert politische Arbeit machen. Keiner von Ihnen erzeugt eine Debatte von nur annähernd ähnlicher Wucht wie das ZPS. Sie machen Arbeit, die mühsam sein und die versickern und verpuffen kann. Aber sie verlangen alle genaues Hinsehen. Wenn Kunst das nicht tut, ist sie bloße Ideologie.