Angriffe auf Museen in Kiew

"Dieser Krieg ist ein kultureller Krieg"

Bei russischen Angriffen auf Kiew wurde auch das Khanenko Kunstmuseum getroffen. Hier spricht Direktorin Yuliya Vaganova über die Kunst im Krieg, die Rettung von Erinnerung und Versäumnisse der ukrainischen Kulturszene

Es war der Tag, den sie seit Kriegsbeginn gefürchtet hatten und auf den man doch nie ausreichend vorbereitet sein kann: Am 10. Oktober verübte Russland den bisher schwersten Angriff auf die ukrainische Hauptstadt Kiew. Außer Wohnhäusern, Universitätsgebäuden und Parks wurden auch acht Museen beschädigt, darunter das Khanenko Kunstmuseum. Eine russische Rakete schlug direkt neben dem Khanenko ein. Die Druckwelle beschädigte die Fassade und zerstörte Fenster, Rahmen, Türen und die Glasdecke. Damit endet auch eine Reihe widerständiger Kunstprojekte, die Yuliya Vaganova als Direktorin des Museums initiiert hatte.


Yuliya Vaganova, haben Sie mit dem Angriff auf Ihr Museum gerechnet?

Die Sammlung unseres Museums wurde schon Ende Februar in Sicherheit gebracht. Wir hatten also keine Kunstwerke mehr in den Räumen. Aber natürlich gibt es wertvolle Vitrinen, 100 Jahre alte Holztreppen und die Deckengemälde, die sich nicht transportieren lassen, weil sie Teil des Gebäudes sind. Im Krieg muss dein Gehirn die gesamte Zeit über mit furchtbaren Ereignissen rechnen. Also ja: Alle haben gesagt, dass so etwas passieren könnte. Aber was will man schon machen? Monatelang hatte es davor keine Raketeneinschläge im Stadtzentrum von Kiew gegeben. Entsprechend wenig waren die Leute darauf gefasst, dass es solch einen direkten Angriff auf den historischen Stadtkern geben könnte. Trotz unseres Schocks sind wir nicht blockiert. Wir haben uns innerhalb kürzester Zeit und noch während schrillender Sirenen organisiert. Wir haben zum Beispiel die Fenster mit Holzplatten abgedeckt. Das musste vor der ersten Nacht geschehen, um das Museum zu schützen. Und wir haben Beweisfotos von den Schäden gemacht, die eines Tages vor Gericht verwendet werden könnten. Viele unserer Mitarbeiter konnten nicht einmal zum Museum kommen, als wir sie brauchten, weil während des Fliegeralarms die Brücken und die U-Bahn geschlossen waren.

Wieso waren Sie selbst im Khanenko Museum, und wieso hatte es geöffnet?

Als ab Mai immer mehr Menschen nach Kiew zurückkehrten, dachten wir uns: Wir müssen etwas tun. Nicht nur für die Sammlung und für den Papierkram, sondern auch für die Menschen. Das Innere des Gebäudes erschien uns da noch zu unsicher für die Besucher. So fingen die verschiedenen Projekte – Ausstellungen, Konzerte, Lesungen – zuerst in unserem Innenhof an, der bis dahin noch niemals für die Öffentlichkeit zugänglich gewesen war. Jetzt oder nie, dachten wir uns. Das hat beim Publikum sehr positive, warme Reaktionen hervorgerufen: Wenn man sich in Kriegszeiten um alles selbst kümmern muss, ist es eine große Erleichterung, plötzlich die Fürsorge von jemand anderem zu spüren, auch die Fürsorge einer Institution. Als Nächstes dachten wir, dass der Anblick und die Erfahrung der leeren Museumswände nicht nur uns gehören sollte. Wir organisierten Führungen durch die völlig leeren Räume, wo mit Absicht noch die Plaketten an den Wänden hingen. Das war irgendwie ein geschickter Weg, die Aufmerksamkeit auf das Museum selbst zu lenken. Was war und ist seine Rolle? Welche Ideen der Gründer wirken bis heute fort?

Wie bewahren Sie das Andenken an das Khanenko Museum aus der Zeit vor den Angriffen?

Wir würden gerne Video-Interviews führen, mit allen, die jemals im Museum gearbeitet haben, um ihre Erinnerungen zu retten – als eine Art mündliche Geschichtsschreibung. Das müsste so bald wie möglich geschehen, solange unser Gedächtnis noch frisch ist. Nicht alle diese Informationen können wir danach auch veröffentlichen. Zumindest nicht, solange der Krieg noch anhält. Im Archiv haben meine Kollegen ein Dokument gefunden, das die Schäden am Museum aus dem Zweiten Weltkrieg beschreibt. Im August 1941 war eine Bombe schon einmal an exakt derselben Stelle abgeworfen worden wie in diesem Jahr. Dadurch haben wir erst verstanden, wie wichtig es ist, dass der heutigen Angriff in Zukunft mindestens genauso gut in Erinnerung bleiben kann wie der damalige. Darum bemühen wir uns jetzt.

Wie viele andere ukrainische Museen sind – Stand heute – beschädigt?

Auf der Website des ukrainischen Kulturministeriums erhält man darüber immer eine exakte Auskunft. Mittlerweile sind es über 500 Kulturinstitutionen, die beschädigt wurden, dazu gehören neben Museen auch Kirchen oder denkmalgeschützte Gebäude.

Ihr Museum ist damit aufgefallen, dass es sich für Sanktionen gegen russische Kulturinstitutionen einsetzt. Zum Beispiel forderten Sie vor zwei Monaten, dass Russland aus dem International Council of Museums (ICOM) ausgeschlossen wird. 

Es ging uns bei unserem Brief an ICOM nicht um einen Ausschluss, sondern nur um eine Beendigung der russischen Mitgliedschaft. Das ist ein Ende auf Zeit, und die Mitgliedschaft kann irgendwann wieder aufgenommen werden. Unserer Meinung nach ist dieser Krieg ein kultureller Krieg – kreiert und ausgelöst durch die Kultur. Diese Kultur wird unter anderem von Museen gemacht. Russische Museen haben mit ihrer Propaganda eine Mentalität in der russischen Bevölkerung geschaffen, die es überhaupt erst erlaubt hat, den Krieg anzufangen. Museen und Intellektuelle sind deshalb mitverantwortlich für den Krieg. Solche Museen haben die Geschichte umgeschrieben, mit propagandistischen Narrativen; wie zum Beispiel einer Moskauer Ausstellung darüber, dass es einen Nationalsozialismus der Nato gäbe.

Was macht Russland mit den Kulturstätten in den Gebieten, die es besetzt hat?

Für die Sammlungen gibt es bereits Pläne, sie nach Russland zu "evakuieren", und auf ähnliche Weise werden auch die Gebäude von den Russen angeeignet und für ihre Zwecke benutzt. Aus dem zerbombten Theater in Mariupol wurden noch nicht einmal alle Leichen geborgen und identifiziert, bevor die Besatzer vor demselben Theater schon ein klassisches Konzert veranstaltet hatten. Genauso funktioniert Auslöschung: Das Bisherige muss mit etwas Neuem überschrieben werden. Mit etwas, das unter dem Deckmantel der Hochkultur daherkommt und das vorgibt, es sei ein Anschluss an die Zivilisation.

Im Khanenko Museum gibt es normalerweise keine ukrainischen Positionen zu sehen, sondern westliche, islamische und asiatische Kunst. Wie verteidigen Sie diese Mission in einem Land, das auf seine Nationalidentität zurückgeworfen ist, um zu überleben?

Das wird leider für viele Menschen nicht sofort ersichtlich. Wenn man eine progressive Kultur mit neuen Ideen haben möchte, statt einer stagnierenden Kultur, die nur aus Traditionen für die Touristen besteht, dann darf man die Kultur nicht einschließen. Ohne den Kontakt zu etwas Fremdem kann man nichts Neues erschaffen. Man wiederholt sich, man läuft im Kreis. Deshalb braucht es Austausch und Kollaborationen: damit ein neuer Sinn entstehen kann, der sich natürlich anfühlt und der weiterhin im eigenen Land verwurzelt ist. So findet man seine eigene Stimme im Dazwischen der Kulturen. Das ist, was dieses Museum leistet und weshalb es so wichtig ist.

Hätten Sie sich irgendwie besser auf den Krieg vorbereiten können, wenn Sie hätten hellsehen können?

Vielleicht hätte mehr getan werden können. Ich bin mir nicht sicher. Die einzige Sache, die wir aktiver hätten betreiben müssen: Wir hätten alle Menschen dieser Welt – und unsere Kollegen aus der Kunstwelt – davon überzeugen müssen, den Krieg vorab zu verhindern. Sobald es begonnen hatte, war die Zerstörung unabwendbar. Da müssen wir in Zukunft lauter und aufmerksamer sein, was das Risiko eines solchen Kriegsausbruchs angeht.

Inwiefern?

Vor Kurzem habe ich mit einem Freund darüber gesprochen, wie schwer es uns fällt, die Weltöffentlichkeit vom Wert der ukrainischen Kultur zu überzeugen, sowie von der Propaganda, die in der russischen Kultur steckt. Vielleicht haben wir Intellektuelle da unseren Job nicht besonders gut gemacht. Aber dann haben dieser Freund und ich in dem Gespräch plötzlich gemerkt, dass die Wehrhaftigkeit der Ukrainer alle im Westen überrascht hat. Ihre Art zu kämpfen, aber auch ihr mindset oder das riesige Engagement der Freiwilligen. Das Wort "Freiwillige" meint hier etwas ganz anderes als in Europa oder sonst irgendwo. Freiwillige opfern hier nicht nur ein paar Stunden ihres Tages, sondern erledigen im Moment absolut alles in diesem Land. Vielleicht, nur vielleicht, haben wir unseren Job also auch nicht ganz schlecht gemacht.