Florence Thurmes

"Die Bereitschaft über Kunst zu diskutieren, ist in Sachsen sehr groß"

Florence Thurmes leitet ab Januar die Kunstsammlungen Chemnitz. Ein Gespräch über ihre bewusste Rückkehr nach Sachsen und ihre Ideen für ein demokratisches, nachhaltiges und kindgerechtes Museum

Frau Thurmes, ab dem 1. Januar 2024 sind Sie Generaldirektorin der Kunstsammlungen Chemnitz. Wann haben Sie die Kunstsammlungen zum ersten Mal besucht? 

In meiner Zeit bei den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, wo ich von 2016 bis 2022 tätig war. Zu der Zeit habe ich das Programm meines Vorgängers Frédéric Bußmann und seines Teams sehr intensiv verfolgt, etwa das Public Art Projekt "Gegenwarten Presences" im Jahr 2020 oder den "Chemnitz Open Space" hinter dem Karl-Marx-Kopf als kostenfreiem Treffpunkt, Ausstellungs- und Veranstaltungsort. Da sind einige tolle Projekte entstanden. 

Seit 2022 haben Sie das Museum Ostwall in Dortmund ko-geleitet. Was ist so reizvoll am Direktionsposten in Chemnitz, dass Sie Dortmund nun nach knapp zwei Jahren schon wieder verlassen? 

Ein wichtiger Impuls war, dass ich in Dresden mit sehr tollen Sammlungsbeständen gearbeitet habe. Im Zuge der Rückkehr an ein Museum wie das Museum Ostwall, das rein kunstorientiert ist, also Kunst der Moderne und zeitgenössische Kunst zeigt, merkte ich, dass mir etwas fehlt. In Dresden sammlungs- und epochenübergreifend zu arbeiten und dadurch eine größere Komplexität abbilden zu können, war unglaublich bereichernd. In Dortmund fehlte mir diese Bandbreite, die die Kunstsammlungen Chemnitz wiederum auch bieten. Es gibt in den Kunstsammlungen am Theaterplatz etwa auch eine Textilsammlung mit Stoffen aus dem koptischen Zeitalter oder dem 19. und 20. Jahrhundert. Auch das Schloßbergmuseum mit der Burg Rabenstein gehört dazu, das Museum Gunzenhauser, das Henry van de Velde Museum und das Carlfriedrich Claus-Archiv. 

An den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden haben Sie Outreach-Projekte betreut und waren mit dem "Mobilen Museum" und "180 Ideen für Sachsen" in ganz Sachsen aktiv. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht? 

Das hat unglaublich viel Spaß gemacht! Dadurch habe ich das Land gut kennen und auch sehr zu schätzen gelernt. Die sächsische Museumslandschaft ist breit aufgestellt und reichhaltig. Es gibt eine unglaubliche Vielfalt an Kulturinstitutionen, auch neben den größeren Häusern in Leipzig, Dresden und Chemnitz. Es gibt viele spezifische Sammlungen zu entdecken, etwa den Frohnauer Hammer in Annaberg-Buchholz, das älteste Schmiedemuseum Deutschlands, hervorgegangen aus einer im Mittelalter errichteten Getreidemühle und heute Bestandteil des Unesco-Welterbes. Oder das Deutsche Stuhlbaumuseum in Rabenau und das Naturalienkabinett in Waldenburg. Die Bereitschaft über Kunst und Kultur zu diskutieren, ist hier sehr groß. Und es gibt bei den Menschen eine große Identifikation damit. 

Ihr Vorgänger Frédéric Bußmann ist im März 2022 in Chemnitz verprügelt worden, als er Jugendliche darauf hinwies, "Sieg Heil"- Parolen zu unterlassen. Sie hat das politische Klima in Sachsen offenbar nicht abgeschreckt, sich zu bewerben. 

Nein, tatsächlich nicht. Als das damals mit Frédéric Bußmann passiert ist, war ich natürlich schockiert. Ich bewundere seine große Zivilcourage. Er stand auch mit seinen Programmen hinter dem Thema Demokratiebildung. Auch ich verstehe Museen als Orte der Demokratiebildung und Demokratievermittlung. Das politische Klima in Sachsen ist natürlich ernstzunehmen. Wenn man bundesweit oder auch europaweit schaut, wird deutlich, dass sich der Rechtsruck überall zuspitzt. In Sachsen gibt es solche Stimmungen sicher schon länger. Insofern ist es auch eine bewusste Entscheidung, an einen solchen Ort zu ziehen. Chemnitz ist eine tolle Stadt. Da gibt es unglaublich viel zu entdecken. Neben den Kunstsammlungen gibt es weitere tolle Kultureinrichtungen und die Menschen, denen ich da bisher begegnet bin, sind sehr freundlich. Ich bin zudem der Meinung, dass bestimmte Images bestimmten Orten länger nachhängen. Auch Dortmund hat eine große Neonazi-Szene. Da gibt es auch immer wieder rassistisch motivierte Vorfälle. Und trotzdem schaut man stärker auf den Osten, wenn so etwas passiert. Insofern ist es umso wichtiger, mit dem Kulturhauptstadtjahr 2025 ein gutes, positives Gegenbild von Chemnitz und der Region zu schaffen. 

Bleiben wir bei noch Museen als Orten der Demokratie. Wie kann das Museum als solcher konkret wirksam werden, gerade in einer Region, wo manche Menschen die Demokratie in Frage stellen? 

Ich glaube, dass Museen das Potenzial haben, eine gewisse Komplexität deutlich zu machen. Diese auszuhalten fällt in einer Zeit, wo es täglich so viele Eindrücke gibt und wir in einer Polykrise leben, vielen Menschen schwer. Museen bieten über Kunst und Objekte Gelegenheit, Themen anders beleuchten und Zusammenhänge zu erläutern. Kunst und Kultur stärken zudem die Visual literacy, die Kompetenz, Informationen, die in Form eines Bildes präsentiert werden, zu interpretieren. Unter Demokratiebildung verstehe ich auch, dass man das Museum für alle Menschen öffnet und einlädt, am Gespräch teilzunehmen. Und mit allen Menschen meine ich auch alle, die nicht links- oder rechtsradikal sind und sich nicht gegen die Verfassung stellen.

Wie kann das konkret aussehen, das Museum für alle Menschen zu öffnen? 

In Dresden und auch in Dortmund haben wir Bürger- und Bügerinnenpanels beziehungsweise einen -beirat eingerichtet. Das ermöglicht eine Anbindung von Menschen, die bisher nur wenige oder keine Berührungspunkte mit dem Museum haben. Man trifft sich etwa zweimal pro Monat und spricht über verschiedene Aspekte des Museums. Ein Beispiel: Die Fenster von Museen sind aus klimatischen Gründen meist verdunkelt und viele denken deshalb, dass das Haus geschlossen ist. Auf solche Aspekte wird man durch einen Rat aufmerksam gemacht. Ein solches Format bedeutet die Einbeziehung von Alltagsexpertentum. So entsteht Teilhabe. Es geht darum, Angebote zu schaffen, die Menschen erreichen, die nicht unbedingt ins Museum kommen oder kommen können. Etwa ältere Menschen, die nicht mehr so mobil sind, aber auch Kinder aus ländlichen Räumen, und damit eine Anbindung ans Museum schafft. 

Haben Sie diesbezüglich schon konkrete Pläne für Chemnitz? 

Ich werde mir zunächst die Programme anschauen, die es schon gibt. In Hinblick auf die Region frage ich mich, wie man Wissen stärker bündeln und gemeinsame Angebote schaffen kann. Ich denke an gemeinsame Vermittlungsprogramme mit Museen in der Region, etwa zu Themen wie Anti-Rassismus und Nachhaltigkeit. Themen, die die Gesellschaft heute beschäftigen. Vielleicht auch Krieg, Leid, Verlust, Empathie. In Zeiten wie diesen wird das Budget für Museen nicht größer werden. Da muss man gemeinsam denken und Ressourcen teilen. Ich sehe gerade die größeren Museen in der Verantwortung, das mitzudenken und das Potenzial reichhaltiger Sammlungen zu nutzen. Diese Ideen muss ich nun prüfen und Kooperationspartner finden. Mit den Kolleginnen und Kollegen in Dresden werde ich auf jeden Fall Gespräche führen. Da gibt es Programme zu Museen als Orte der Demokratiebildung, an die sich sehr gut anknüpfen lässt. Auch das Naturalienkabinett in Waldenburg möchte ich unbedingt einbeziehen, weil es eine solch spezifische Sammlung ist. Und viele weitere Kontakte aufwärmen und weiterknüpfen. 

Bei Ihrer ersten Pressekonferenz im November 2023 nannten Sie neben einem demokratischen und dezentralen Museum als weiteres Ziel ein "nachhaltiges Museum". 

Dieses Ziel ist an Hans Carl von Carlowitz angelehnt, der mit seiner Familie auf Burg Rabenstein gelebt hat, die eben auch ein Teil der Kunstsammlungen Chemnitz ist. Carlowitz hat schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts über Holz als knappen Rohstoff geschrieben und gilt als wesentlicher Schöpfer des forstlichen Nachhaltigkeitsbegriffs. Viele Wälder und historische Parks sind heute bedroht. Seine Ideen sind daher immer noch extrem wichtig. Eine der Zukünfte und Möglichkeiten, den Klimawandel zu stoppen, ist, nachhaltiger mit Bäumen umzugehen und mehr Bäume zu pflanzen. Im kommenden Jahr wird Anja Richter, die Direktorin des Museum Gunzenhauser, eine Ausstellung mit dem Titel "New Ecologies. Kunst und Klima" realisieren. Ich möchte die Häuser der Kunstsammlungen untereinander stärker verzahnen, etwa mit Vorträgen im Rahmenprogramm. Es geht aber nicht nur thematisch um Nachhaltigkeit, sondern auch darum, wie wir das Museum an sich nachhaltiger gestalten. Die "Letzte Generation" und Fridays for Futures haben die Dringlichkeit hervorgehoben.

Wie kann ein Museum konkret nachhaltiger gestalteter werden? 

Das ist ein langer Prozess. Zunächst braucht es eine Bestandaufnahme und Analyse um dann zu entscheiden: Kann man sich ein CO2-Budget geben, etwa für Reisen oder Transporte für Leihgaben? Aus welchen Orten leiht man? Da kann man viel einsparen. Am Dortmunder U haben wir innerhalb kürzester Zeit 30 Prozent Fernwärme eingespart, etwa indem wir die Klimaanlage zum Teil ausgestellt haben. 

Ihr viertes Ziel ist ein "kindgerechtes Museum". 

Als Museum denken wir für die Ewigkeit. Wir sammeln nicht für uns. Wir sammeln für die künftigen Generationen. Museen sind wichtige außerschulische Lernorte. Da knüpfe ich an die von mir kuratierte Kinderbiennale im Japanischen Palais der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden an. Eine wichtige Lernerfahrung war damals, dass wir Kinder stärker einbeziehen können und müssen: Wie sehen sie Kunst? Und was sind Orte im Museum, die Kindern gerecht werden? Da gibt es tolle Beispiele, etwa von Noura Dirani, die in Lübeck kürzlich die Kinder-Kunsthalle eröffnet hat. Ich möchte in den Häusern der Kunstsammlungen Chemnitz Orte schaffen, wo Kinder sind wohlfühlen und wo auch Erwachsene mit Kindern gern hinkommen. Das Museum kann ein gemütlicher Ort sein, wo Kinder Inspiration finden können. Inspiration leite ich auch aus der Geschichte der Sammlungen ab: Man hatte hier Ende des 19. Jahrhunderts eine Lehrmittelsammlung, wo man Stoffe ausleihen konnte und es Öffnungszeiten bis 22 Uhr gab. Heute kann man die Textilien aus restauratorischen Gründen nicht mehr ausleihen, aber durchaus überlegen, wie man dieses Erlebnis auf einer anderen Ebene gestalten kann. 

Sprechen wir noch über Kunst. Sie haben in den letzten Jahren viele Ausstellungen kuratiert, waren Ko-Kuratorin von "Unter der Erde. Von Kafka bis Kippenberger" im Rahmen der Quadriennale Düsseldorf 2014 und haben Einzelausstellungen von Susan Philipsz und Annette Messager kuratiert. Werden Sie in der neuen Position noch eigene Ausstellungen realisieren? Das Ausstellungsprogramm für die kommenden Jahre steht ja sicher schon fest.

Tatsächlich ist es so, dass das Programm für 2024 und 2025 komplett definiert ist. Ich freue mich sehr darauf: 2024 zeigen wir Hanna Bekker vom Rath, die im Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle gespielt hat, weil sie Ausstellungen heimlich realisiert hat. Sie hat auch Karl Schmidt-Rotluff und "Die Brücke" gefördert. Wie man unter dem Radar von einem System Ausstellungen machen kann, mit Kunst, die damals als "entartet" verfemt wurde, das finde ich sehr spannend. Auch auf die Kulturhauptstadt 2025 freue ich mich sehr. Das Thema "European Realities" wird im Fokus stehen. Das Museum Gunzenhauser hat im März 2023 bereits ein Symposium zu Neuer Sachlichkeit auf europäischer Ebene gemacht. Dann wird es eine Ausstellung zu Edvard Munch geben, in der das Thema Angst im Vordergrund steht. Er war selbst an der spanischen Grippe erkrankt und hat überlebt. Eine aktuelle Parallele zu Corona, mit der wir auch jüngere Menschen erreichen werden. Und es wird eine Ausstellung zum Thema AutodidaktInnen geben. Im Zuge dessen wird auch die Rolle der Frauen ausgeleuchtet, die Anfang des 20. Jahrhunderts noch keinen Zugang zu öffentlichen Kunstakademien hatten und andere Formen der Ausbildung wählen mussten. Ich bringe natürlich auch Ideen mit. Wolfgang Mattheuer ist mir wichtig. Im Jahr 2027 wäre er 100 Jahre alt geworden. Die Kunstsammlungen Chemnitz besitzen seinen grafischen Bestand. Dazu möchte ich gern eine Ausstellung machen, die die aktuellen Fragen nach Mythos und Narrativen aufgreift und auch beleuchtet, wie man heute Kritik an Systemen ausdrücken kann. 

Chemnitz hat im Gegensatz zu Dresden und Leipzig keine eigene Kunsthochschule und die Kunstszene ist daher kleiner. In der DDR war Chemnitz – damals Karl-Marx-Stadt – wiederum das Zentrum der Autodidaktinnen und Autodidakten mit der "galerie oben" und der Gruppe "Clara Mosch". Wird diese Chemnitzer Kunstgeschichte im Zuge der Kulturhauptstadt dauerhaft im Haus abgebildet werden? 

Das Thema der Kunst, die in der DDR entstanden ist, ist in Sonderausstellungen in unterschiedlichen Facetten beleuchtet wurden. Unter dem Titel "Vier Frauen. Vier Lebensläufe Fotografieren in der DDR" zeigen wir ab Februar 2024 Arbeiten von Christine Stephan-Brosch, Evelyn Krull, Gerdi Sippel und May Voigt. Die Ausstellung präsentiert Werke, die bis zur politischen Wende 1989 entstanden sind und unterschiedliche Perspektiven auf die gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten werfen. Frédéric Bußmann hat einen Schwerpunkt auf die Ostmoderne gelegt. Daran möchte ich gern anknüpfen. Aber es stimmt natürlich, dass man da auch die Sammlungspräsentationen mitdenken sollte. Das Thema Sammlungspräsentation möchte ich gern mit dem Team der Kuratorinnen besprechen. Frédéric Bußmann hat einen Teil der Dauerausstellung am Theaterplatz nach den Plänen von Karl Schmidt-Rottluff gestaltet, auch mit den Farben, die der 1926 für das Haus entwickelt hat. Das finde ich eine coole Idee. Auf jeden Fall wird Carlfriedrich Claus wichtig, der ein Ausnahmekünstler ist und dessen Archiv uns gehört. 

Wie viel Gestaltungsspielraum haben Sie zum jetzigen Zeitpunkt noch für die Kulturhauptstadt 2025?

Die großen Ausstellungen stehen, aber es ist noch Spielraum für kleinere Veranstaltungen und Rahmenprogramme. Gerade ein gemeinsames Vermittlungsprogramm in der Region könnte ein Teil der Kulturhauptstadt werden. Da muss man auch schauen, was an Ressourcen vorhanden ist. 

Am Museum Ostwall in Dortmund haben Sie zuletzt mit Regina Selter als Doppelspitze gearbeitet und dieses Modell in vielen Interviews, auch mit Monopol gelobt. Nun sind Sie wieder Solo-Direktorin. Hat sich das Prinzip nicht bewährt? 

Ich glaube nach wie vor, dass eine Zukunft darin liegt, dass man einem Haus nicht alleine vorsteht, sondern es gemeinschaftlich und kollaborativ denkt. Der große Vorteil einer Doppelspitze ist, dass man sich direkt austauschen kann, ein Korrektiv und eine andere Perspektive hat. Die Position der Generaldirektion in Chemnitz verstehe ich eher als eine Bündelung. Es gibt mit Anja Richter eine leitende Kuratorin am Museum Gunzenhauser und mit Uwe Fiedler eine Leitung des Schloßbergmuseums mit Burg Rabenstein. Ich bin als Generaldirektorin zudem für das Programm der Kunstsammlungen am Theaterplatz zuständig. Ich sehe diese drei Leitungspositionen inklusive der Vermittlung, Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit als strategisches Gremium, und werde keine Entscheidungen allein im Büro treffen. Schließlich betreffen diese viele Menschen.

Werden Sie Ihren Lebensmittelpunkt nach Chemnitz verlegen? 

Ja, ich habe einen Vertrag für eine Wohnung auf dem Kaßberg unterschrieben. 

Wie wird Ihr erster Arbeitstag aussehen? 

Ich war im Dezember schon ein paar Tage in Chemnitz vor Ort. Jetzt stehen als erstes Treffen mit dem Team an. Ich möchte jeden noch einmal kennenlernen und Einzelgespräche führen, um alle Perspektive mitzubekommen. Und ich möchte mich stark in der Stadt vernetzen und natürlich in die Sammlungen einsteigen, die Depots besuchen und mit dem Team überlegen, wie man das Potenzial der Sammlungen noch stärker nutzen kann. Ich freue mich zum Beispiel sehr auf die historische Strumpfsammlung!